Kapitel 12

Der Klang von Kriegshörnern weckte Fidelma nur wenige Augenblicke, bevor Schwester Scothnat, die domina des Gästehauses, in ihr Zimmer stürzte und mit lauter und angsterfüllter Stimme rief: »Steh auf und verteidige dich, Lady, wir werden angegriffen.«

Einen Moment von Panik erfaßt, sprang Fidelma auf und hörte nun deutlich das Schmettern der Hörner und die entfernten Rufe und Schreie der Menschen. Sie zündete eine Kerze an und sah in deren Licht Schwester Scothnat händeringend und heftig weinend in der Tür stehen.

Fidelma ging zu ihr und packte sie mit beiden Händen. »Nimm dich zusammen, Schwester!« rief sie. »Sag mir, was passiert ist. Wer greift uns an?«

Scothnat hielt verwirrt inne, von Fidelmas scharfem Ton zur Besinnung gebracht. Dann schluchzte sie wieder leise. »Die Abtei, die Abtei wird angegriffen!«

»Von wem?«

Sie merkte, daß Schwester Scothnat zu sehr von Angst überwältigt war, um auf ihre Frage antworten zu können.

Fidelma zog sich rasch an. Draußen war es noch dunkel, und sie hatte keine Ahnung, wie spät es war, meinte aber, die Morgendämmerung könne nicht mehr fern sein.

Sie eilte aus dem Zimmer und ließ die schluchzende Scothnat allein. Fast wäre sie mit einer dunklen, kräftigen Gestalt zusammengeprallt, die in die entgegengesetzte Richtung stürmte. Selbst in der Dunkelheit erkannte sie Eadulf.

»Ich suche dich gerade.« Er klang besorgt. »Krieger greifen die Abtei an.«

»Weißt du mehr?« fragte sie.

»Nein. Ich wurde eben erst von Bruder Madagan geweckt. Er will nachsehen, ob die Tore alle geschlossen sind, aber ich glaube, außer den Mauern und den Toren hat die Abtei nicht viel Schutz zu bieten.«

Plötzlich begann die große Glocke der Abtei zu läuten, immer lauter, da die Hände am Glockenseil nach jedem Anschlagen noch heftiger zogen. Das Läuten war eher ein verzweifelter Hilferuf denn eine feierliche Mahnung.

»Schauen wir mal, was wir herausfinden«, rief Fi-delma durch den Lärm und lief den Gang entlang in Richtung Haupttor.

Eadulf folgte ihr und protestierte: »Die anderen Frauen sind an einen sicheren Platz in den Gewölben der Abtei geführt worden.«

Fidelma ersparte sich eine Antwort. Sie war flink, und Eadulf hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten. Sie eilten durch die dunklen Kreuzgänge, in denen mehrere Brüder aufgeregt und ziellos hin und her rannten.

Fidelma hörte die immer lauter werdenden Kriegshörner und die Rufe und Schreie der Kämpfenden jenseits der mächtigen Mauern der Abtei. Sie erreichten den Haupthof und sahen, wie eine Gruppe junger, kräftiger Mönche versuchte, die Balken am Haupttor vorzuschieben, angeleitet vom Verwalter der Abtei, Bruder Madagan.

Fidelma rief ihn an, als sie nahe genug waren.

»Was geht hier vor? Wer greift uns an?«

Bruder Madagan hielt einen Moment inne mit seinen Anweisungen.

»Fremde Krieger, mehr wissen wir nicht. Bis jetzt haben sie die Abtei nicht direkt angegriffen. Es geht ihnen anscheinend mehr darum, die Stadt zu plündern.«

»Wo ist der Abt?«

Bruder Madagan zeigte auf den kleinen viereckigen Wachtturm, der sich neben dem Tor drei Stockwerke hoch erhob »Entschuldige, Schwester«, damit wandte er sich ab, »ich muß mich um unsere Sicherheit kümmern.«

Fidelma lief bereits auf den Turm zu, von Eadulf gefolgt.

Im Innern des Turms führte eine Treppe zu jedem der Stockwerke, gerade breit genug für eine Person. Ohne zu zögern, hastete Fidelma nach oben, und Ea-dulf eilte ihr nach.

Die unteren Stockwerke waren leer, ganz oben trafen sie auf Abt Segdae, der hinter dem stand, was man bei einer Wehranlage die Brustwehr genannt hätte. Eine brusthohe Mauer umgab das Dach, und von dort konnte man das Gelände um die Abtei herum überblicken.

Abt Segdae war nicht allein. Neben ihm stand die stämmige Gestalt des Kaufmanns Samradan. Segdae hielt sich im Schutz der Mauer und starrte über den Platz auf die Stadt. Seine Schultern waren herabgesunken, die geballten Fäuste hielt er in die Seiten gestemmt, sein Kopf war vorgeschoben, und so beobachtete er grimmig das Geschehen. Samradan schien gleichfalls von dem Schauspiel gebannt. Sie grüßten Fidelma und Eadulf nicht, als diese auf das Dach stiegen.

Fidelma und Eadulf hatten bereits ein unheimliches rotes Glühen bemerkt, ein seltsames gelbrot flackerndes Licht, das sich über die Vorderseite der Abtei ergoß. Sein merkwürdig drohender Schein wurde von den niedrig hängenden Wolken zurückgeworfen. Offensichtlich standen schon viele Häuser der Stadt in Flammen. Die Schreie der Menschen und das angstvolle Wiehern der Pferde drangen herüber. Außerhalb der Mauern der Abtei herrschte ein wildes Durcheinander. Berittene jagten hin und her über den Platz und durch die Straßen, die einen mit Brandfackeln in den Händen, die anderen Schwerter schwingend. Es war klar, daß die ungeschützten Gebäude des Ortes den ersten Ansturm auszuhalten hatten. Nachdem sich ihre Augen an das eigenartige Zwielicht der von brennenden Gebäuden und irrlichternden Fackeln erhell-ten Nacht gewöhnt hatten, konnte Fidelma noch etwas ausmachen. Hier und da lagen dunkle flache Hügel auf dem Boden, offenbar Leichen. Dann sah sie auch, wie Menschen einzeln oder in kleinen Gruppen um ihr Leben rannten, von berittenen Kriegern verfolgt. Ab und zu verriet ein Schrei, daß eine Klinge ihr Opfer gefunden hatte.

Fidelma wandte sich erbittert an Abt Segdae.

»Gibt es kein Mittel, Imleach zu retten?« fragte sie.

Der Abt schien zu benommen, um zu antworten. Er wirkte plötzlich wie ein gebrechlicher alter Mann. Fidelma schüttelte ihn ungestüm am Arm.

»Segdae, dort werden unschuldige Menschen niedergemacht. Gibt es keine Krieger in der Nähe, die wir herbeirufen können?«

Fast widerwillig wandte ihr der Abt sein spitzes Gesicht zu. Er hatte Mühe, sie zu erkennen.

»Die nächsten Krieger sind die deines Vetters, des Fürsten von Cnoc Äine.«

»Gibt es eine Möglichkeit, sie zu alarmieren?«

Abt Segdae hob die Hand, als wolle er auf den Glockenturm auf der anderen Seite der Abtei zeigen. Die Glocke läutete verzweifelt weiter. »Das ist unser einziges Mittel.«

Samradan starrte wie hypnotisiert auf das Geschehen, sein Gesicht war kalkweiß. Selten hatte Fidelma so nackte Furcht im Gesicht eines Mannes gesehen. Selbst in dieser Lage fragte sie sich: Was hatte doch Vergil geschrieben? Die Furcht verrät unwürdige Seelen. Warum war ihr das in den Sinn gekommen? Es gab nichts Häßlicheres, dachte sie, als Furcht im Gesicht eines Menschen.

Der stämmige Kaufmann wandte sich jetzt an den Abt. »Glaubst du, daß sie die Mauern der Abtei erstürmen?« In seiner Stimme lag noch mehr als Furcht.

»Dies ist keine Festung, Samradan«, erwiderte der Abt düster. »Unsere Tore sind nicht dazu geschaffen, einem Heer zu widerstehen.«

»Ich verlange Schutz! Ich bin nur ein Kaufmann. Ich habe niemandem etwas getan ... Ich bin kein Krieger, der kämpfen kann ...« Seine Stimme wurde schrill vor Panik. Das schien Abt Segdae aus seiner Lethargie aufzurütteln.

»Dann geh runter in die Gewölbe unter der Kapelle zu den Frauen!« fauchte er. »Überlaß es uns, uns zu verteidigen - und dich!«

Der Kaufmann duckte sich beinahe unter diesen Worten.

Fidelma schnaubte verächtlich. Dann sagte sie zu Eadulf: »Bring Samradan ins Kellergewölbe und bitte Bruder Madagan hierher.« Das Befehlen fiel ihr plötzlich leicht, sie gehörte zu den Eoghanacht von Cashel, und dies war ihr Volk.

Mit derbem Griff zog Eadulf den zitternden Kaufmann fort von dem Anblick von Tod und Zerstörung, der sich ihnen bot.

Fidelma blieb neben Abt Segdae stehen und betrachtete das Bild des Grauens mit wachsendem Zorn.

Sie sah, wie die Schmiede in Flammen aufging. Mehrere Gebäude waren schon niedergebrannt. Sie versuchte die schattenhaften Gestalten der Berittenen genauer in Augenschein zu nehmen, aber in der Dunkelheit war wenig zu erkennen, außer daß sie Kriegshelme und einige von ihnen Kettenhemden trugen, jedoch keine Abzeichen, die ihre Herkunft verrieten.

Sie hörte Schritte auf der Treppe, dann trat Bruder Madagan atemlos auf das Dach hinaus.

Grimmig sah er zu der brennenden Stadt hinüber.

»Sie haben sich zuerst für die leichtere Aufgabe entschieden«, meinte er. »Wenn sie die wehrlose Stadt ausgeplündert haben, werden sie zum Angriff auf die Abtei übergehen.«

Abt Segdae schrie plötzlich auf und stürzte rücklings zu Boden. Überrascht schauten sie ihn an. Er hatte eine blutende Wunde an der Stirn. Fidelma sah sich einen Moment ratlos um. Sie hatte etwas aufschlagen hören. Dann nahm sie einen Kieselstein auf.

»Von einer Steinschleuder«, stellte sie fest. »Halten wir uns lieber von der Mauer fern.«

Bruder Madagan kniete schon neben dem Abt.

»Ich lasse Bruder Bardan holen, unseren Apotheker. Das Geschoß hat ihn an der Stirn getroffen. Er ist bewußtlos.«

Fidelma schlich sich vorsichtig gebückt zur Mauer. Ein Schütze mußte im Vorbeireiten einen glücklichen Treffer erzielt haben. Von einem planmäßigen Angriff auf die Abtei war noch nichts zu bemerken. Die Reiter jagten weiterhin kreuz und quer durch den Ort.

»Wenn sie uns wirklich angreifen, halten unsere Mauern den Kriegern nicht lange stand«, murmelte Bruder Madagan, der ihrem Blick gefolgt war und ihre Gedanken erriet.

Fidelma wies auf den Glockenturm, von dem immer noch das Geläut schallte.

»Wird uns das Hilfe bringen?«

»Vielleicht, aber man kann nicht mit Sicherheit darauf rechnen.«

»Dann stimmt es also, daß es die nächsten Krieger erst in Cnoc Äine gibt?«

»Ja. Wir können nur hoffen, daß Finguine in Cnoc Äine die Glocke hört.«

»Sechs Meilen ist er entfernt, schätze ich«, sagte Fi-delma. »Ob sie das Läuten wirklich hören?«

Bruder Madagan verzog das Gesicht. »Wir können uns nicht darauf verlassen, aber es ist möglich. Es ist noch Nacht, und der Schall unserer Glocke trägt weit.«

»Aber fest rechnen können wir nicht damit«, wiederholte Fidelma bitter. Sie blickte erneut hinüber zum Schauplatz der Verwüstung. »Wer sind diese Leute? Warum sollten sie die Abtei angreifen?«

»Ich habe keine Ahnung. In der ganzen Geschichte unserer Gemeinschaft hat noch nie jemand diesen heiligen Ort angegriffen.« Plötzlich hielt er inne.

»Was ist?« fragte Fidelma.

Bruder Madagan mied ihren Blick. »Die Legende. Vielleicht stimmt sie doch?«

Einen Augenblick verstand Fidelma nicht, was er meinte, dann begriff sie.

»Das Verschwinden der Reliquien Ailbes! Aberglaube, weiter nichts.«

»Aber es paßt so gut zusammen. Die heiligen Reliquien sind verschwunden. Es heißt, wenn sie diesen Ort verlassen, stürzt Muman. Nun sind sie fort, und die Abtei wird zerstört!«

Auch Fidelma fürchtete das, und gleichzeitig machte diese Furcht sie wütend.

»Du Narr! Noch ist die Abtei nicht zerstört, und sie wird es auch nicht, wenn wir uns dazu aufraffen, sie zu verteidigen.«

Eadulf kam zurückgeeilt. Entsetzt blickte er auf die reglose Gestalt des Abts. »Ist er ...«

»Nein«, erwiderte Bruder Madagan. »Segdae ist von einem Wurfgeschoß getroffen worden. Kannst du jemand finden, der unseren Apotheker Bruder Bardan holt?«

Eadulf wandte sich wieder zur Treppe. Gleich darauf war er zurück. »Ein junger Bruder sucht den Apotheker.«

»Wie geht es Samradan?« fragte Fidelma.

»Den Kaufmann tröstet Schwester Scothnat.« Ea-dulf blickte plötzlich über die Mauer auf den Platz vor der Abtei. »Seht nur!«

Ihre Blicke folgten seiner ausgestreckten Hand.

Etwa ein halbes Dutzend Männer waren neben dem großen Eibenbaum vor den Mauern der Abtei von den Pferden gestiegen. Sie alle hatten Äxte in den Händen und fingen an, zielstrebig an dem alten Stamm herumzuhacken. Es sah nach einer sorgfältig geplanten Aktion aus und nicht nach blinder Zerstörungswut.

»Was geht da vor?« fragte Eadulf verblüfft. »War-um machen sie sich mitten im Angriff daran, einen Baum zu fällen?«

»Gott schütze uns!« rief Bruder Madagan. Es war ein beinahe verzweifelter Klageschrei. »Seht ihr es nicht? Sie hauen die heilige Eibe um.«

»Immer noch besser, als wenn sie Menschen umhauen«, bemerkte Eadulf mit schwarzem Humor, ohne die Bedeutung des Vorgehens der Angreifer zu verstehen.

»Denk an das, was ich dir erzählt habe«, erinnerte ihn Fidelma. Selbst sie war etwas blaß geworden. »Dies ist der heilige Baum, das Symbol unseres Volkes, der von Eber Fionn mit eigener Hand gepflanzt worden sein soll, dem Sohn des Milesius, dem Ahnherrn der Eoghanacht von Cashel. Es ist ein alter Glaube in unserem Volk, Eadulf, daß der Baum unser Wohlergehen symbolisiert. Solange der Baum gedeiht, gedeihen auch wir. Wird er zerstört .«

Sie beendete den Satz nicht.

Eadulf hörte ihr schweigend zu. Wiederum verwirrte ihn die seltsame Mystik dieses Landes, das er lieben gelernt hatte. Einerseits war es christlicher als alle angelsächsischen Königreiche, die er kannte, und andererseits war es viel heidnischer als die meisten christlichen Länder, die er kannte. Und Fidelma, ein Muster an Vernunft und Scharfblick, war tatsächlich beunruhigt, weil jemand den großen Eibenbaum fällen wollte.

Langsam begriff Eadulf die wahre Bedeutung dieses Symbols. Er hatte immer gedacht, in heidnischen Zeiten seien die Bäume angebetet worden. Jetzt verstand er, daß den Bäumen als den ältesten lebenden Wesen auf Erden solche besondere Verehrung galt. Lebende Wesen! Was hier durch die Zerstörung dieses Symbols, das »Der Baum des Lebens« genannt wurde, geschah, war mehr als eine Beleidigung der Eoghanacht-Dynastie von Cashel. Es war ein Mittel, sie und ihr Volk zu entmutigen.

Eadulf hielt es für klug zu schweigen.

Trotz des Läutens der großen Glocke hörten sie, wie sich die Äxte der Angreifer mit rhythmischen Schlägen, die eigenartig vom Lärm der Verwüstung und des Todes abstachen, in das alte Holz gruben.

Bruder Bardan, der Apotheker, erschien auf dem Dach, gefolgt von dem jungen Bruder Daig, seinem Gehilfen. Bardan kniete sofort bei dem Abt nieder und untersuchte seine Wunde.

»Er hat einen üblen Schlag erhalten, aber die Verletzung ist nicht lebensgefährlich«, stellte er fest. »Bruder Daig wird mir helfen, ihn in sein Zimmer zu bringen.« Er sah Bruder Madagan an. »Wie stehen unsere Chancen, Bruder?«

»Nicht gut. Noch greifen sie die Abtei nicht an, aber sie fällen den großen Eibenbaum.«

Bruder Bardan holte erschrocken Luft und bekreuzigte sich, dann schaute er über die Mauer. Einen Moment ließ ihn der Anblick erstarren. Entsetzt schüttelte er den Kopf.

»Deshalb greifen sie also die Abtei nicht direkt an«, bemerkte er leise. »Das haben sie gar nicht nötig.«

»Ach, hätten wir doch nur ein paar gute Bogenschützen«, rief Fidelma verzweifelt.

Bruder Daig blickte verstört drein. »Lady, wir sind doch Männer des Glaubens«, wandte er ein.

»Das heißt aber nicht, daß wir uns niedermetzeln lassen sollen.«

»Aber Christus hat uns doch gelehrt .«

Fidelma machte eine ungeduldige Handbewegung. »Predige mir nicht geistige Armut als eine Tugend, Bruder. Wenn die Menschen arm an Geist sind, werden sie von den Stolzen und Hochmütigen unterdrückt. Wir sollen im Geiste treu sein und der Unterdrückung entschlossen widerstehen. Nur so laden wir nicht zu weiterer Unterdrückung ein. Ich sage es noch einmal, ein guter Bogenschütze könnte diesen Tag retten.«

»Es gibt keine solchen Waffen in der Abtei«, erklärte Bruder Bardan, »und schon gar keine Männer, die sie zu führen verstehen.« Er wandte sich wieder dem bewußtlosen Abt zu. »Komm, Daig, wir müssen uns um den Abt kümmern.«

Gemeinsam hoben sie den alten Herrn auf und trugen ihn die Treppe hinunter.

Einige Zeit sahen Fidelma, Eadulf und Bruder Ma-dagan hilflos zu, wie die Angreifer auf den alten Baum einhieben. Eadulf fand sich nicht in der Lage, die ohnmächtige Wut mitzuempfinden, mit der Fidelma und Madagan das Zerstörungswerk beobachteten. Er konnte mit dem Verstand die Bedeutung des Baums begreifen, doch die dadurch hervorgerufene Besorgnis und Angst wollte sich bei ihm nicht einstellen.

Plötzlich erfaßte sein Blick eine Bewegung, und er zeigte auf den Platz.

»Schaut mal! Jemand rennt auf das Tor der Abtei zu. Eine Frau!«

Ein Schatten hatte sich von den brennenden Gebäuden gelöst und war stolpernd losgestürzt in dem offensichtlichen Versuch, in den Schutz der Mauern der Abtei zu gelangen.

»Das Tor ist geschlossen«, rief Bruder Madagan. »Wir müssen hinunter und es für das arme Geschöpf öffnen.«

Mit einem raschen Blick auf die Situation dort draußen erkannte Fidelma, daß sie hier oben nichts weiter tun konnte, wandte sich um und folgte Bruder Madagan und Eadulf auf den Hof.

Am Tor trafen sie Bruder Daig, der gerade zurückgekehrt war, nachdem er den Abt auf sein Zimmer gebracht hatte.

»Macht das Tor auf«, rief Bruder Madagan, während sie darauf zueilten. »Eine Frau will herein!«

Der junge Mann zögerte mit erschrockener Miene. »Aber dann kommen vielleicht auch die Angreifer herein«, wandte er ein.

Eadulf schob ihn einfach beiseite und zog an den hölzernen Riegeln.

Bruder Madagan kam ihm zu Hilfe.

Gemeinsam schoben sie die mächtigen Holzbalken zurück, die das Tor schlossen, sehr zum Entsetzen mehrerer anderer Brüder, die sich hinter Bruder Daig sammelten und unschlüssig dastanden. Eadulf und Madagan zogen die Torflügel auf.

Die Frau war noch ein Dutzend Schritte vom Tor entfernt. Eadulf kam sie irgendwie bekannt vor. Er feuerte sie mit Rufen an, doch dann sah er zu seinem Schrecken, daß ein Berittener die Frau verfolgte und sie fast eingeholt hatte.

Bruder Madagan lief zum Tor hinaus und hielt dem Angreifer sein Kruzifix entgegen, als wolle er ihn allein durch diesen Anblick abwehren.

»Templa insulaeque!« rief er. »Sanctuarium! Freistatt! Freistatt!«

Er hatte sich zwischen die Frau und den heranbrausenden Reiter geworfen, der das Schwert erhoben hatte. Die Klinge funkelte im Licht der Feuer jenseits des Platzes.

Der Schwertarm des Kriegers fuhr nieder, und Bruder Madagan wurde mit einer blutenden Wunde auf der Stirn halb herumgeschleudert und fiel dann vornüber zu Boden. Eadulf wollte die Frau hereinziehen, aber der Angreifer erreichte sie eher als er. Wieder schwang er das Schwert, und sie schrie auf, als es ihren Hinterkopf traf. Von ihrem eigenen Schwung getrieben, stolperte sie in den Hof der Abtei. Der volle Galopp seines Pferdes trug auch den Verfolger durch das Tor. Alles Weitere spielte sich so schnell ab, daß niemand auch nur zum Luftholen kam.

Das Pferd hatte die verwundete Frau beiseite geschleudert, sie prallte gegen die Mauer und brach zusammen. Eadulf konnte gerade noch zur Seite springen, packte instinktiv ein Bein des Reiters und zog mit aller Kraft daran. Der Schwung seines Schwertarms hatte den Reiter schon etwas aus dem Sattel gehoben, nun verlor er vollends den Halt, wurde vom Pferd gerissen und fiel schwer auf Eadulf nieder. Eadulf blieb benommen liegen.

Es war ein erfahrener Krieger. Sein Aufprall war durch Eadulf gedämpft worden, er rollte sich auf die Seite, sprang auf und stand kampfbereit da, das Schwert in der Hand.

Er war untersetzt, aber muskulös. Er war in schwarzgefärbtes Leinen gekleidet und trug ein eisernes Kettenhemd, ein luirech iairn, über einem Koller aus Rindsleder. Unterhalb der Knie waren seine Beine durch lederne, nietenbesetzte asdin geschützt, die Unterschenkel mit Lederriemen umwickelt. Sein Helm aus polierter Bronze hatte nur ein kleines Visier, so daß man in dem Licht der flackernden Fackeln im Hof von seinem Gesicht weiter nichts sah als den schmalen roten Strich eines brutalen Mundes.

Sein Schild hing noch an seinem Pferd, das ein Stück weiter auf dem Hof zum Stehen gekommen war und nach dem anstrengenden Galopp schnaufte und schnaubte.

Der Krieger stand vorgebeugt da, hatte das Schwert nun mit beiden Händen gefaßt und schwang es herum zur Abwehr drohender Gefahren. Beruhigt stellte er fest, daß nur ein halbes Dutzend sichtlich verängstigter Mönche hinter dem Tor kauerte und eine einzige Nonne ihm gegenüberstand.

Er richtete sich auf und brüllte vor Lachen, bevor er drohend mit dem Schwert fuchtelte. Das Zurückprallen der Mönche steigerte seine Heiterkeit noch. Dann merkte er, daß die Nonne ungerührt dastand und ihn ansah, die Hände züchtig vor sich gefaltet. Ihre hohe, wohlgeformte Gestalt und ihr hübsches Gesicht gefielen ihm.

»Wer bist du, Krieger?« fragte ihn Fidelma.

Die ruhige Autorität ihrer Stimme beeindruckte ihn. Dann grinste er.

»Ich bin ein Mann, keiner von den Eunuchen, mit denen du dich umgeben hast, Frau. Komm mit, und ich zeige dir, was ein Mann alles kann.«

Fidelmas Blick glitt besorgt zu Eadulf, der immer noch dalag und nach Atem rang. Vor dem Tor lag Bruder Madagan, wahrscheinlich tot. Auch die Frau regte sich nicht mehr. Mit offener Verachtung sah sie den Krieger an.

»Du hast schon bewiesen, was du kannst«, erwiderte sie ruhig, ohne die geringste Furcht zu zeigen. »Du hast den Mord an einem Glaubensbruder und einer wehrlosen Frau auf dem Gewissen. Demnach bist du überhaupt kein Mann, sondern etwas, was ich mir mit einem Stock vom Hacken kratze, wenn ich durch Morast gegangen bin.«

Ihr Ton war so gelassen, daß der Krieger noch einen Moment weiter grinste, nachdem sie gesprochen hatte. Erst dann begriff er, was sie gesagt hatte.

Sein schmaler Mund verzog sich vor Wut.

»Du kommst jetzt mit oder du stirbst!«

Er drohte ihr mit dem Schwert.

Einer der Brüder, es war der junge Daig, trat mit schamrotem Gesicht wegen seiner anfänglichen Feigheit vor, als wolle er sie beschützen. Er kam nicht einmal dazu, etwas zu sagen, denn der Krieger wandte sich sofort um und stieß ihm die Schwertspitze in die Brust. Daig stöhnte auf und brach in die Knie, das Blut strömte über seine Kutte. Er starrte auf seine Wunde, als traute er seinen Augen nicht.

»Du bist tapfer, wenn du waffenlose Knaben und Frauen vor dir hast«, schrie ihn Fidelma an und machte einen Schritt nach vorn, hielt aber inne, als er die Schwertspitze auf sie richtete. »Hast du einen Namen? Oder schämst du dich seiner?«

Der Krieger schluckte bei soviel Kühnheit.

»Meine Name geht dich nichts an, Metze. Denk nicht, weil du eine Frau bist, kannst du mich ungestraft beleidigen!«

Fidelma blickte auf den jungen Daig, der mit der Hand das Blut aus seiner Wunde zu stillen versuchte.

»Du hast schon gezeigt, wie deine Tapferkeit aussieht. Da ich auch waffenlos bin, hast du sicher Mut genug, mir zu beweisen, was für ein jämmerlicher Kerl du wirklich bist.«

Bruder Daig schaute mühsam auf. Tränen standen ihm in den Augen. Er blickte zu der Gruppe seiner verängstigten Brüder hinüber und setzte mehrmals an, ehe er sprechen konnte. »Das Tor, Brüder ... das Tor muß zu, ehe noch mehr von der Sorte hereinkommen.«

Das hatte Fidelma auch gerade erkannt. Je länger das Tor offenstand, desto eher würden es weitere Angreifer bemerken und in die Abtei eindringen. Dann könnte sie nichts mehr daran hindern, ein Blutbad unter den Mitgliedern der Gemeinschaft anzurichten.

»Laß das ja sein, Metze«, knurrte der Krieger, als er ihren besorgten Blick auf das Tor bemerkte. »Du bist tot, ehe du hinkommst. In wenigen Augenblicken sind meine Kameraden hier.«

Bruder Daig stöhnte vor Schmerzen, als er zu gehen versuchte. »Er ist nur einer allein, Brüder. Er kann nicht euch alle umbringen. Schließt das Tor und entwaffnet ihn!«

Der Krieger zischte wütend, und seine Schwertklinge traf den jungen Bruder voll am Hals.

Bruder Daig fiel hintenüber. Man brauchte nicht nachzusehen, ob er tot war, das war nur zu deutlich.

Endlich kam Eadulf wieder zu Atem. Er holte ein paarmal tief Luft und rappelte sich hoch, doch die Schwertspitze des Räubers zwang ihn sofort wieder zu Boden.

»Das Tor!« rief Fidelma den eingeschüchterten Mönchen zu. »Der letzte Befehl eures toten Bruders muß ausgeführt werden!«

»Keine Bewegung, oder der hier stirbt«, fauchte der Krieger und ritzte Eadulfs Schulter mit dem Schwert.

»Macht es!« rief Eadulf laut, dessen Zorn seine eigene Furcht überwand.

Einen Moment wurde der Blick des Kriegers abgelenkt, weil er zu den Mönchen hinüberschaute, ob sie Eadulf gehorchten. Darauf hatte Eadulf nur gewartet. Er rollte sich blitzschnell aus dem Bereich der Klinge und stürzte auf das Tor zu.

Das Schwert erhoben, wandte sich der Krieger zu ihm um, aber es war zu spät. Mit einem Wutschrei stürmte er los, während Eadulf schon das Tor zuschob. Plötzlich kam ihm Fidelma in den Weg. Er wollte sie mit dem Schwert treffen, doch plötzlich flog er durch die Luft und wußte nicht, wie.

Nur Eadulf hatte aus dem Augenwinkel gesehen, wie Fidelma lossprang. Sein Herz klopfte vor Schreck, doch irgendwie erinnerte er sich dunkel an die Körperhaltung, die sie einnahm. Er hatte schon mehrmals erlebt, wie sie das machte, das erstemal in Rom. Sie stand da, als wolle sie den Schwerthieb mit bloßem Kopf abfangen. Dann schien sie einfach zuzufassen, packte den Arm des Mannes und schleuderte ihn über ihre Hüfte mit dem Kopf gegen die Steinmauer der Abtei. Es klatschte dumpf, und der Krieger schlug ohne einen Laut auf dem Boden auf und blieb besinnungslos liegen.

Fidelma hatte Eadulf einmal erzählt, daß es im alten Irland eine Gruppe von Gelehrten gab, die Unterricht in den ehrwürdigen Lebensauffassungen ihres Volkes erteilten. Sie reisten weit umher und trugen keine Waffen zu ihrer Verteidigung, weil ihr Glaube das Töten von Menschen untersagte. Doch sie mußten sich vor Räubern und Banditen auf den Landstraßen schützen.

So waren sie gezwungen, eine troid-sciathaigid genannte Technik zu entwickeln, eine Kunst der waffenlosen Verteidigung. Viele Missionare erlernten diese Methode, bevor sie Irland verließen und in fremden Ländern den neuen Glauben predigten.

»Los, kommt! Helft Bruder Eadulf!« rief Fidelma. »Macht das Tor zu.«

Sie eilte selbst zu ihm, lief jedoch plötzlich zum Tor hinaus. Bruder Madagan lag nur wenige Schritte entfernt da draußen.

»Schnell, hilf mir, Eadulf!« rief sie ihm zu.

Er begriff sofort, was sie vorhatte, und folgte ihr. Sie packten Bruder Madagan an den Ärmeln seiner Kutte und schleiften ihn hastig hinein, kurz bevor die Brüder sich endlich ermannten und die Torflügel zuschoben. Kaum waren sie drinnen, wurden die Balken vorgelegt.

Fidelma wurde gleich wieder tätig.

»Bindet den Krieger!« rief sie den Brüdern zu, die jetzt beschämt und verlegen herumstanden, weil sie vorher nicht reagiert hatten. »Entwaffnet und fesselt ihn, damit er keinen weiteren Schaden anrichten kann.«

Sie blickte hinunter auf Bruder Madagan. Eadulf untersuchte ihn gerade.

»Er lebt noch«, stellte er befriedigt fest. »Die Wunde ist nicht so schlimm. Er ist wohl nur mit der flachen Klinge am Kopf getroffen worden. Das Blut auf der Stirn stammt von einem kleinem Schnitt. Er wird bald zu sich kommen.«

Fidelma schaute Eadulf besorgt an, denn er hatte Blut auf seiner Kutte von dem Schwertstich des Kriegers. »Und du selbst?« fragte sie schnell.

Eadulf lächelte und faßte sich an die Schulter. »Ich habe schon Schlimmeres überlebt. Das war nur ein Nadelstich. Viel schmerzhafter war es, als der Mann mit seinem ganzen Gewicht auf mich fiel. Das werde ich wohl noch eine Weile spüren.«

Fidelma eilte schon zu der reglosen Gestalt der Frau, die noch auf dem Pflaster des Hofes lag.

»Es ist die Wirtin!« Fidelma erkannte Cred erst jetzt. »Bei unserem Glauben!« rief sie, »sie scheint noch zu atmen.«

Sie beugte sich nieder und hob den Kopf der Frau ein wenig hoch.

Eadulf untersuchte rasch die Wunde, sah Fidelma an und schüttelte langsam den Kopf. Hier kam jede irdische Hilfe zu spät.

Cred öffnete noch einmal die Augen. Furcht war darin zu lesen.

»Still!« sagte Fidelma sanft. »Du bist unter Freunden.«

Cred stöhnte und rollte die Augen. Das Sprechen fiel ihr schwer. »Ich ... ich weiß ... mehr ...«, röchelte sie.

Eadulf drehte sich zu den wartenden Mönchen um. »Holt Wasser!« befahl er.

Sofort eilte einer von ihnen davon.

»Bleib ruhig«, sagte Fidelma zu Cred. »Wir sorgen für dich. Lieg still.«

»Feinde ...«, keuchte Cred. »Ich hörte, was der Bogenschütze sagte. Feinde . der Feind ist in Cashel. Der Fürst .«

Ihr Kopf sank zurück, doch ihre Augen blieben weit offen.

Eadulf bekreuzigte sich. Er hatte genug Tote gesehen, um zu wissen, daß das Leben der Herbergswirtin sein Ende gefunden hatte.

Fidelma verharrte einen Moment mit gerunzelter Stirn.

Der Mönch brachte Wasser herbei, und Bruder Ea-dulf erhob sich und machte sich daran, Bruder Mada-gan wiederzubeleben. Langsam kam der Verwalter der Abtei zu sich.

Eadulf wandte sich an die Gruppe junger Mönche, die wie eine Schafherde dastand und auf Befehle wartete.

»Hat Bruder Madagan einen Gehilfen?« fragte er. »Gibt es einen stellvertretenden Verwalter der Abtei?«

Gemurmel und Füßescharren war die Antwort.

»Das wäre Bruder Mochta gewesen«, erklärte schließlich einer. »Wer es jetzt ist, weiß ich nicht.«

»Na, bis wir das feststellen, übernehme ich die Leitung«, verkündete Eadulf. »Einer von euch bringt Bruder Madagan auf sein Zimmer. Er hat einen üblen Schlag auf den Kopf erhalten. Holt den Apotheker. Dann brauche ich Freiwillige, die die Leichen von Cred und Bruder Daig in die Totenkammer schaffen und das Blut hier beseitigen.«

»Das kannst du mir überlassen, Bruder Angelsachse«, antwortete einer der Mönche. »Aber was machen wir mit dem Krieger?«

Eadulf wandte sich nach dem Räuber um. Der war sicher verschnürt, aber wieder bei Bewußtsein. Er lag mit dem Rücken an die Mauer gelehnt, an den Füßen festgebunden und mit auf dem Rücken gefesselten Händen. Er probierte seine Fesseln, hörte aber damit auf, als Eadulf zu ihm trat.

»Du wirst dir noch wünschen, du hättest mich umgebracht, Bruder«, zischte er durch die zusammengebissenen Zähne.

»Du wirst dir das vielleicht auch wünschen, mein boshafter Freund«, erwiderte Eadulf grimmig. »Ich nehme an, deine mörderischen Freunde da draußen werden nicht mehr viel von dir halten, nachdem du dich von einer Frau hast entwaffnen und gefangennehmen lassen. Eine unbewaffnete Nonne hat dich bewußtlos geschlagen. Was für eine Grabschrift für einen Krieger wie dich: Aut viam inveniam aut faci-am, wie? Sieg oder Tod lautet das Motto des Kriegers. Du aber hast beides nicht errungen.«

Der Krieger verzog den Mund und versuchte Ea-dulf anzuspucken.

Mit breitem Lächeln wandte sich Eadulf an den hilfsbereiten jungen Mönch, der seine Anordnungen erwartete.

»Laß diesen tapferen Kämpfer da liegen, wo er ist, Bruder ...?«

»Bruder Tomar.«

»Also, Bruder Tomar, laß ihn liegen und mach dich erst an die anderen Aufgaben.«

Eadulf ging zurück zu Fidelma, die immer noch an Creds Leiche stand und sie nachdenklich betrachtete.

»Weißt du, ich glaube, Cred ist nicht zur Abtei gerannt, um Schutz zu suchen«, sagte sie und hob den Kopf. »Ich meine, sie wollte zu mir.« Sie seufzte und fügte hinzu: »Hat dir der Krieger etwas gesagt?«

»Nichts. Er gibt sich nicht zu erkennen.«

»Na, wir können ihn später in Ruhe verhören.«

Fidelma wandte sich dem Wachtturm zu. »Schauen wir erst einmal, was draußen vor sich geht. Wenn die Krieger die Abtei angreifen wollen, lassen sie sich aber viel Zeit damit. Das finde ich merkwürdig. Es wird schon hell.«

Sie stiegen auf den Turm und blickten über den Platz hinweg auf die Stadt. Die Gebäude brannten noch, doch die Flammen loderten nicht mehr so hell wie zuvor. Schwarze Rauchsäulen standen darüber. Fidelmas Blick blieb sogleich an dem Überrest des großen Eibenbaums hängen. Man hatte den Stamm mit den Äxten eingekerbt und den Baum dann mit Hilfe von Seilen umgebrochen. Den Stumpf hatte man angebrannt.

Betrübt schloß Fidelma die Augen.

»In den sechzehn Jahrhunderten, seit Eber Fionn die Eibe zum Symbol unseres Glücks erklärte, ist so etwas nie vorgekommen«, sagte sie leise.

Plötzlich kniff sie die Augen zusammen. Die Bewegungen in dem Ort ließen erkennen, daß die Angreifer sich in Gruppen sammelten.

Fidelma merkte, daß die Glocke der Abtei noch immer Sturm läutete. Sie hatte nie damit aufgehört. Sie hatte sich seltsamerweise so daran gewöhnt, daß es ihr zunächst gar nicht aufgefallen war.

»Laß das Läuten einstellen«, wies sie Eadulf an.

»Wenn es bis jetzt niemand gehört hat und uns zu Hilfe geeilt ist, dann kommt auch keiner mehr.«

»Wenn ich den jungen Bruder Tomar finde, kann er sich darum kümmern.«

Er wollte schon die Treppe hinabsteigen, als Fidel-ma ihn zurückhielt.

»Warte mal! Da in den Wäldern im Süden bewegt sich was. Ich glaube, die Räuber sammeln sich jetzt zum Angriff auf die Abtei!«

Eadulf trat vor und folgte ihrem Blick.

»Wir haben keine Verteidigungsmöglichkeit. Wenn sie diesen Eibenbaum in so kurzer Zeit fällen können, dann brechen ihre Axtträger die Eichentore der Abtei in Minuten auf.«

Fidelma mußte widerwillig zugeben, daß Eadulf recht hatte. »Vielleicht können wir mit ihnen verhandeln«, meinte sie ohne Überzeugung.

Eadulf schwieg und ließ den Blick über die brennende Stadt und die Überreste des großen Eibenbaums schweifen. Im grauen Licht der Morgendämmerung sah man zahlreiche Leichen herumliegen.

Bruder Tomar kam die Treppe heraufgeeilt.

»Ich habe alles getan, was du angeordnet hast, Bruder Angelsachse«, berichtete er. »Bruder Madagan ist wieder bei Bewußtsein, aber noch schwach. Abt Segdae hat sich auch erholt und versucht die Brüder zu sammeln, damit sie den Feinden mit größerer Fassung entgegentreten.« Verlegen schaute er Fidelma an. »Wir haben uns am Tor nicht gut verhalten, als der Krieger kam, Schwester. Dafür muß ich mich entschuldigen.«

Fidelma verzieh großmütig. »Ihr seid Glaubensbrüder und keine Krieger. Euch ist kein Vorwurf zu machen.«

Sie schaute immer noch besorgt nach Süden, wo sie inzwischen eine Reiterschar ausgemacht hatte.

Bruder Tomar folgte ihrem Blick.

»Sammeln sie sich zum Angriff auf die Abtei?« flüsterte er ängstlich.

»Ich fürchte, ja.«

»Dann warne ich lieber die anderen.«

Fidelma winkte ab. »Wozu? Es gibt keine Möglichkeit die Abtei zu verteidigen.«

»Aber vielleicht könnten wir wenigstens die Schwestern unseres Ordens in Sicherheit bringen. Ich habe mal gehört, daß der Abt von einem geheimen Gang gesprochen hat, der zu den nahen Bergen führt.«

»Ein Gang? Dann lauf gleich zu Abt Segdae. Wenn wir ein paar Nonnen retten können, bevor diese Barbaren einbrechen .«

Bruder Tomar war schon auf dem Wege, ehe sie noch den Satz beendet hatte. Eadulf berührte Fidelma am Arm und wies wortlos über die Brüstung. Sie sah, wie am Nordende der brennenden Stadt ein Trupp der Angreifer davonritt, in entgegengesetzter Richtung zu der herankommenden Reiterschar.

»Einige der Angreifer ziehen ab«, bemerkte er verwundert. »Warum wohl?«

Fidelma blickte wieder nach Süden. Die Berittenen, die sie im trüben Morgenlicht erspäht hatte, waren nun im Licht der gerade aufgehenden Sonne, das den Wald erhellte, deutlicher zu erkennen. Es waren ungefähr zwanzig bis dreißig Reiter. Über ihnen flatterte ein Banner.

Es trug einen Hirsch auf blauem Grund.

»Das ist das Banner der Eoghanacht!« rief sie aus.

Die Reiter galoppierten über die Ebene auf die Abtei zu.

Mit erleichterter Miene wandte sich Fidelma zu Ea-dulf um. »Ich glaube, das sind Männer von Cnoc Äi-ne«, sagte sie erregt. »Sie müssen die Glocke der Abtei gehört und darauf reagiert haben.«

»Das wäre die Erklärung dafür, daß die Angreifer so eilig verschwinden.«

»Gehen wir hinunter und sagen wir es den anderen.«

Am Fuße des Turms trafen sie Bruder Tomar und Abt Segdae. Letzterer sah noch erschöpft und bleich aus und hatte eine bläuliche Beule auf der Stirn, schien sich aber wieder gefangen zu haben. Ein Trompetensignal ertönte, als sich die Reiterkolonne der Abtei näherte. Abt Segdae erkannte es sofort, Fidelma brauchte ihm nichts zu erklären.

»»Deo gratias!« seufzte der Abt voller Dankbarkeit. »Wir sind gerettet! Rasch, Bruder Tomar, öffne das Tor. Die Männer von Cnoc Äine sind uns zu Hilfe gekommen.«

Als die Flügel des Abteitors aufschwangen, hielt die Reiterschar davor. Ihr Anführer war ein gutaussehender junger Krieger, reich gekleidet und gerüstet, mit ebenmäßigem Gesicht, lockigem, kurzgeschnittenem rotem Haar und dunklen Augen. Er trug einen blauen Wollmantel, der an der Schulter von einer silbernen Spange gehalten wurde. Es war ein auffallendes Schmuckstück in Gestalt einer Sonne, von der drei mit Granaten besetzte Strahlen ausgingen.

Sein Blick fiel auf Fidelma, die mit den anderen zur Begrüßung aus dem Tor trat. Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln.

»Lamh laidir abu!« rief er und reckte die geballte Faust empor.

Eadulf hielt sich lange genug in Muman auf, um darin den Schlachtruf der Eoghanacht zu erkennen. Eine starke Hand für den Sieg!

»Du bist willkommen, Vetter Finguine«, erwiderte Fidelma und erhob ebenfalls die geballte Faust zum Gruß.

Der junge Mann sprang vom Pferd und umarmte seine Kusine. Dann trat er zurück und schaute sich traurig um.

»Aber ich bin eher zu spät gekommen«, meinte er enttäuscht. »Danke Gott, daß Er Seinen Mantel schützend über dich gehalten hat, Kusine.«

»Die Angreifer sind gerade erst nach Norden abgezogen«, erklärte Eadulf.

»Wir haben sie noch gesehen«, sagte der Fürst von Cnoc Äine, sah ihn an und erkannte seine angelsächsische Tonsur. »Mein Tanist und die Hälfte meiner Männer haben die Verfolgung aufgenommen. Waren es Ui Fidgente?«

Fidelma mußte zugeben, daß das eine logische Folgerung war. In dieser Gegend, bei Finguines eigener Hauptstadt Cnoc Äine, hatte vor kaum einem Jahr die letzte große Schlacht gegen die Ui Fidgente stattgefunden.

»Das ist schwer zu sagen, doch der Fürst der Ui Fidgente ist in Cashel und führt vermutlich Friedensgespräche mit meinem Bruder.«

»Davon habe ich gehört«, bemerkte Finguine trok-ken. Seine Miene verriet, wie sehr er dem mißtraute. Nun wandte er sich an Abt Segdae. »Bist du schwer verletzt, Pater Abt?«

Segdae schüttelte den Kopf, während er den Gruß des jungen Fürsten erwiderte. »Eine Beule, weiter nichts.«

»Ist einer der anderen Brüder zu Schaden gekommen? Seid ihr alle wohlauf?«

»Den größten Schaden hat die Stadt erlitten«, erwiderte der Abt mit sorgenvollem Gesicht. »Bei uns wurde ein Bruder getötet und einer hat eine Beule wie ich. Doch in der Stadt muß es viele Tote gegeben haben. Und sieh nur ...«

Finguine folgte wie alle seinem Blick.

»Den heiligen Eibenbaum unseres Volkes haben sie gefällt!« rief Finguine, und Entsetzen und Wut mischten sich in seiner Stimme. »Dafür werden sie mit viel Blut bezahlen. Das ist eine Kränkung aller Eogha-nacht. Das bedeutet Krieg.«

»Aber Krieg gegen wen?« fragte Fidelma ernst. »Erst müssen wir feststellen, wer dafür verantwortlich ist.«

»Die Ui Fidgente«, fauchte Finguine. »Die sind die einzigen, die daraus Nutzen ziehen könnten.«

»Das ist nur eine Vermutung«, wandte Fidelma ein. »Unternimm nichts, ehe du es nicht genau weißt.«

»Nun, wir haben ja einen der Angreifer gefangen«, erinnerte sie Eadulf. »Lassen wir uns von ihm sagen, von wem er seine Befehle erhalten hat.«

Finguine hörte das mit Überraschung. »Du hast tatsächlich einen gefangen, Angelsachse?« Er klang beeindruckt.

»Na, das hat Fidelma getan«, verbesserte ihn Eadulf mit entwaffnender Freundlichkeit.

Lächelnd wandte sich Finguine an seine Kusine. »Das hätte ich mir denken können, daß du dabei die Hand im Spiel hattest. Wo ist er denn? Schauen wir mal, was wir aus dem Schweinehund herausbekommen.«

Sie gingen in den Hof der Abtei, nachdem Finguine seinen Männern befohlen hatte, sich in der Stadt zu verteilen und zu sehen, ob sie den Verwundeten helfen und sich am Löschen der Feuer beteiligen könnten.

»Da drüben liegt er gut verschnürt«, sagte Eadulf und führte sie zu dem fremden Krieger.

Der Mann lag noch so da, wie sie ihn verlassen hatten, an die Mauer der Abtei gelehnt, die Hände auf dem Rücken gefesselt, die Beine ausgestreckt und zusammengebunden. Der Kopf war ihm auf die Brust gesunken.

»Los, Mann«, rief ihn Eadulf an. »Werd wach, du hast ein paar Fragen zu beantworten.«

Er beugte sich vor und berührte den Krieger leicht an der Schulter.

Der rollte lautlos auf die Seite.

Finguine kniete sich hin und tastete am Hals des Mannes nach dem Puls.

»Bei der Krone Corcs von Cashel! Jemand hat sich an ihm gerächt. Er ist tot.«

Mit einem überraschten Ausruf trat Fidelma neben ihren Vetter.

Auf der Brust des Kriegers war Blut. Jemand hatte ihn ins Herz gestochen.

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