Kapitel 18

Fidelma setzte sich neben Mochta auf den Strohsack. Sie schien nicht übermäßig überrascht vom Anblick des rundgesichtigen Mönchs, den sie allem Anschein nach vor ein paar Tagen als Leiche bei Bruder Con-chobar in Cashel gesehen hatte.

»Wie schlimm sind deine Wunden, Bruder Moch-ta?« erkundigte sie sich besorgt.

»Sie sind schmerzhaft, aber man hat mir gesagt, daß sie heilen«, antwortete er.

»Das hat dir Bruder Bardan gesagt, nicht wahr?«

Er bestätigte es mit einer Geste.

Eadulf konnte den Blick nicht von dem Mann wenden, dessen Züge nicht im geringsten von denen des toten Attentäters abwichen, ausgenommen ... Eadulf konnte es nicht ergründen. Dann war da noch etwas. Dieser hier trug die irische Tonsur des heiligen Johannes, die Stirn geschoren bis zu einer Linie von Ohr zu Ohr. Doch gab es noch einen anderen Unterschied.

»Ich nehme an, Bruder Bardan hat deine Wunden behandelt, seit du dich hier versteckt hältst? Du hast niemandem getraut?«

»Es ist schwer, jemandem zu vertrauen, besonders wenn du von einem betrogen worden bist, den du dein ganzes Leben lang gekannt hast, von deinem eigenen Fleisch und Blut, mit dem du aufgewachsen bist. Wenn dich deine Verwandten betrügen, wem kannst du dann noch trauen?«

Fidelma winkte Eadulf, er möge sich setzen. Er tat es widerwillig, ohne die Augen von dem fülligen Mönch zu lassen.

»Du sprichst von deinem Zwillingsbruder, nicht wahr?« fragte Fidelma.

»Natürlich.«

»Zwillingsbruder?« wiederholte Eadulf begriffsstutzig.

Bruder Mochta nickte traurig. »Mein Zwillingsbruder! Du brauchst nicht drum herumzureden, Schwester. Bruder Bardan hat mir berichtet, wie er in Cashel getötet wurde. Ja, es war mein Zwillingsbruder Ba-oill.«

»Der Verdacht war mir schon vor einer Weile gekommen«, sagte Fidelma. »Ein Mensch kann nicht an zwei Orten zugleich sein oder zwei verschiedene Tonsuren tragen. Die Lösung des Rätsels konnte nur darin bestehen, daß es sich um zwei Personen handelt. Wie können sie dann so gleich aussehen? Nur wenn sie eng verwandt sind, Geschwister oder gar Zwillinge.«

Bruder Mochta nickte traurig. »Ja, wir sahen uns täuschend ähnlich«, bestätigte er. »Wie habt ihr mich hier gefunden? Hat euch Bardan gesagt, wo ich bin? Wir sprachen gestern darüber, nach dem Überfall. Er begann zu glauben, daß wir euch trauen könnten. Doch dann sah er dich im Gespräch mit Solam, dem Anwalt von den Ui Fidgente. Auch Solam möchte gern wissen, wo ich mich aufhalte.«

»Hat Bardan deshalb die Überreste einer unbekannten Leiche als von dir stammend identifiziert?« fragte Fidelma.

»Ich fand den Einfall nicht gut, aber Bardan meinte, es wäre das einzige Mittel, Solam davon abzubringen, weiter nach mir zu suchen. Er wollte Zeit gewinnen, damit wir uns absprechen könnten, was zu tun sei.«

»Du erzählst uns wohl am besten, wie du in diese Lage geraten bist«, forderte ihn Fidelma auf.

Bruder Mochta sah sie nachdenklich an. »Kann ich dir vertrauen?«

»Die Frage kann ich dir nicht beantworten«, erwiderte Fidelma. »Ich kann dir nur sagen, daß ich Colgüs Schwester bin und meine Treue Muman gehört. Ich bin dalaigh und habe geschworen, das Recht zu wahren und über alles andere zu stellen. Wenn das nicht ausreicht, mir zu vertrauen, kann ich nichts weiter hinzufügen.«

Bruder Mochta schwieg und schien mit einer Entscheidung zu ringen.

»Wieviel weißt du von der Geschichte?« fragte er schließlich.

Fidelma zuckte die Achseln. »Sehr wenig. Ich weiß, daß du dein Verschwinden vorgetäuscht und die meisten der heiligen Reliquien mitgenommen hast. Ich nehme an, dein Bruder hat eine davon stehlen können, nämlich Ailbes Kruzifix, und bei dem Kampf wurdest du verletzt. Du trautest niemandem und verstecktest dich hier, und Bruder Bardan versorgte dich mit Nahrung und Heilmitteln. Wo ist er jetzt eigentlich?«

Bruder Mochta war ratlos.

»Bruder Bardan? Ich habe ihn seit gestern abend nicht gesehen. Hat er euch denn nicht hergeschickt?«

Fidelma beugte sich vor. Ihre Stimme gewann an Schärfe.

»Heißt das, er ist den ganzen Vormittag nicht hier gewesen?«

Der Mönch schüttelte verwundert den Kopf. »Ich warte auf ihn, denn gestern abend haben wir besprochen, daß wir Schutz suchen sollten, besonders nach dem Überfall.«

»Schutz bei wem?«

»Bardan wollte zum Fürsten von Cnoc Äine gehen und ihm die Geschichte erzählen. Wir wußten, daß Finguine der Abtei freundlich gesonnen und ein treu ergebener Vetter des Königs ist. Wir wollten ihm die Sache vorstellen, und Finguine sollte dann entscheiden, ob wir dich in Kenntnis setzen. Als ihr jetzt kamt, dachte ich, Finguine oder Bardan hätten euch geschickt ...« Beunruhigt brach er ab. »Wie habt ihr mich denn gefunden?« forschte er.

»Mit Glück«, brummte Eadulf, noch immer verwirrt von der ganzen Angelegenheit.

»Warum habt ihr mir nicht vertraut und mir nicht gesagt, daß du in Sicherheit bist, sobald ich in die Ab-tei kam?« grollte Fidelma. Sie ärgerte sich über den Zeitverlust durch diese Geheimniskrämerei.

Bruder Mochta lächelte dünn und schmerzlich. Er verlagerte das linke Bein, um die Wunde zu schonen.

»Wir wußten nicht, ob wir dir trauen konnten, Schwester. Wir wußten nicht, wer unsere Freunde und wer unsere Feinde sind.«

»Ich bin die Schwester des Königs von Cashel«, wiederholte Fidelma.

»Aber eine Schwester, die lange außer Landes war und ...« Bruder Mochta blickte auf Eadulf. »Du kamst in Begleitung eines Mönchs der römischen Kirche.«

Eadulf errötete vor Zorn. »Macht einen das verdächtig in diesem Land?«

»Es ist eine Tatsache, daß die Befürworter der römischen Ordnung denen, die wie wir den Regeln unserer Väter folgen, nicht immer wohlgesonnen sind.«

»Habt ihr, du oder Bardan, wirklich geglaubt, ich könnte meinen Bruder und dieses Land verraten?« unterbrach Fidelma.

»Blut verbindet nicht zu gemeinsamen Zielen«, erwiderte Mochta ruhig. »Das habe ich zu meinem Schaden erfahren.«

»Vielleicht hast du recht. Aber warum habt ihr euch nicht Abt Segdae anvertraut, der doch euer natürlicher Beistand in einer Notlage gewesen wäre.«

»Der Pater Abt ist ein ehrenhafter Mann. Er hätte meinen Plan, die heiligen Reliquien zu verbergen, nicht gutgeheißen. Er hätte sie in der Kapelle behalten im Glauben, dort wären sie sicher. Aber was dann? Das hätte geradezu zu einem Angriff auf die Abtei eingeladen. Was meint ihr, warum die Räuber nicht die Abtei selbst überfallen haben? Weil sie wußten, daß die heiligen Reliquien nicht mehr da waren.«

»Du weißt, wer die Angreifer waren?« forschte Fi-delma.

»Ich habe eine starke Vermutung.«

»Na gut. Erzähl uns deine Geschichte von Anfang an«, forderte ihn Fidelma auf. »Dein Bruder Baoill war beteiligt an einer Verschwörung, das Königshaus von Cashel zu stürzen. Wie kam es dazu?«

Bruder Mochta legte sich zurück und sammelte seine Gedanken.

»Am besten fange ich ganz von vorn an. Ich wurde im Gebiet des Clans Brasil geboren .«

»Das wissen wir bereits«, unterbrach ihn Eadulf. Fidelmas Blick hieß ihn schweigen.

»Sprich weiter, Mochta«, sagte sie.

»Ich stamme also aus dem Norden. Mein Bruder und ich waren Zwillinge, wie ihr wißt. Wir waren uns so ähnlich, daß uns niemand auseinanderhalten konnte, zuweilen nicht mal unsere Mutter. Wir wuchsen wild und ungezügelt auf. Als wir uns dem Alter der Wahl näherten, bezahlte unser Vater einen wandernden Tätowierer dafür, daß er uns ungleiche Male auf die Unterarme zeichnete, damit wir zu unterscheiden seien. Wir bestachen den Tätowierer, und er brachte bei jedem von uns genau denselben Raubvogel auf dem Unterarm an .«

»Einen Bussard«, lächelte Fidelma. »Wie kamt ihr gerade auf diesen Vogel?«

»Er lebt nur an unserer wilden Nordostküste, und dem Tätowierer, der auch von dort stammte, war er wohlvertraut. Einen anderen Grund gab es nicht.«

»Ich verstehe. Sprich weiter.«

»Unser Vater war wütend auf uns, als er den Streich entdeckte. Unser jugendlicher Übermut und unsere Aufsässigkeit störten ihn schon seit einiger Zeit. Als wir das Alter der Wahl erreichten, sagte er uns, daß wir mit unserem Leben anfangen könnten, was wir wollten, vorausgesetzt, wir gingen beide aus dem Hause fort und fielen ihm nicht mehr zur Last.«

»Also gingt ihr ins Kloster«, ergänzte Eadulf, als der Mönch nachdenklich schwieg. »Ein merkwürdiges Leben für so mutwillige junge Männer. Gab es keine Berufe, für die ihr besser geeignet wart?«

»Unser Mutwille wurde spürbar gedämpft, als sich die Tür des Vaterhauses hinter uns schloß, mein angelsächsischer Bruder. Irgendwie kamen wir beide zu dem Entschluß, in die Abtei Armagh einzutreten, die auf dem Land unseres Clans steht, wo der heilige Patrick .«

»Wir kennen die Geschichte von Armagh«, versicherte ihm Fidelma kurz.

»Nun, dort wurden wir beide zum scriptor ausgebildet. Dann trennten sich unsere Wege. Mein Bruder entschied sich, der römischen Ordnung zu folgen, die in Armagh bevorzugt wird. Ich fand unsere traditionellen Regeln besser, lehnte mich gegen Armagh auf und ließ mir die Tonsur des heiligen Johannes schnei-den. Meine Schreibkunst genoß einen guten Ruf, und so verabschiedete ich mich von meinem Bruder und ging eine Weile auf Wanderschaft. Ich diente in mehreren Abteien und sogar an Fürstenhöfen, wo Schreiber gebraucht wurden. Auf diese Weise kam ich schließlich in dieses Land und trat der Gemeinschaft von Imleach bei. Das war vor zehn Jahren.«

»Bist du in dieser Zeit mit deinem Bruder in Verbindung geblieben?«

Mochta schüttelte den Kopf. »Nur ein oder zweimal habe ich von ihm gehört. Durch ihn erfuhr ich, daß unsere Eltern gestorben waren. Wir hatten einen älteren Bruder, der den Bauernhof übernahm, aber wir waren uns alle fremd geworden.«

»Und du hast deinen Bruder in jüngster Zeit wiedergesehen?«

»Ja. Baoill hing Rom nun anscheinend noch fanatischer an, was auch verständlich ist, denn Ultan, der Comarb von Patrick, sein Abt und Bischof von Armagh, strebt die Ausdehnung dieser Ordnung auf alle fünf Königreiche an.«

»Ich kenne Ultans Ehrgeiz, alle Kirchen der fünf Königreiche nach der Art Roms zu vereinigen, mit einem zentralen Oberhirten an der Spitze«, bestätigte Fidelma. »Aber das geht hier nicht, es widerspricht unserer Tradition. Ich vermute, du warst anderer Meinung als dein Bruder?«

»Du sagst es, Schwester. Ich glaube an die Traditionen unseres Volkes und nicht an diese neuen Ideen aus fremden Ländern.«

»Wie kam es, daß du deinem Bruder wieder begegnet bist?«

»Wie du vielleicht weißt, war ich vom scriptor zum Bewahrer der heiligen Reliquien Ailbes aufgestiegen. Ich brauche dir wohl nicht zu erklären, was diese Reliquien für dieses Königreich bedeuten?«

»Nein, das brauchst du wahrlich nicht«, meinte Fi-delma.

»Nun, vor ein oder zwei Wochen kam ein Mann in die Abtei und fragte nach mir. Er sah aus wie ein Berufskrieger. Groß, mit langem blondem Haar und ...«

»Mit einem Bogen bewaffnet?« fiel Eadulf ein. »Ein Bogenschütze?«

Mochta nickte. »Ja. Er sah aus wie ein berufsmäßiger Bogenschütze. Er sagte, er brächte mir eine Botschaft von meinem Bruder Baoill, der sich mit mir treffen wolle. Er betonte, daß aus verschiedenen Gründen, die er nicht näher erläuterte, Baoill sich mit mir allein und insgeheim treffen wolle. Der Bogenschütze wohnte in Creds Herberge. Also ging ich hin. Zum Glück sah mich niemand dort, denn dem Pater Abt war dieser Ort zuwider. Sein Zorn wäre groß gewesen, wenn er erfahren hätte, daß ich dort jemanden besuchte. Cred, die Herbergswirtin, sagte mir, der Bogenschütze erwarte mich in einem Zimmer im oberen Stockwerk. Dort fand ich auch meinen Bruder Baoill. Nachdem wir uns begrüßt hatten, wie es zwei Brüder tun, die sich lange nicht gesehen haben, redeten wir über Politik - hauptsächlich über Kirchenpolitik. Dabei wurden mir seine Ansichten deutlich. So bald er meine kannte, mied er plötzlich dieses Thema. Er war ein schlauer Bursche, mein Bruder. Er lenkte das Gespräch in eine andere Richtung, indem er sagte, er habe gehört, daß ich einer der Schreiber sei, die an den >Annalen von Imleach< arbeiteten. Das bejahte ich. Er fragte mich, für welches Jahr ich die Gründung von Armagh ansetzte. Ich erklärte, daß ich sie in das Jahr unseres Herrn vierhundertvierundvierzig datierte. Weiter fragte er, für wann ich das Hinscheiden des heiligen Patrick verzeichnet habe. Ich nannte das Jahr unseres Herrn vierhundertundzweiundfünfzig. Diese Daten waren nicht strittig.

Erst als er sich nach den Lebensdaten des heiligen Ailbe und der Gründung von Imleach erkundigte, merkte ich, worauf er hinauswollte. Er erklärte mir, die Schreiber im Norden gingen davon aus, Ailbe hätte Imleach erst hundert Jahre nach dem Tod des heiligen Patrick gegründet.«

»Ich habe die Notizen gesehen, die du dir zu diesem Thema für die >Annalen< gemacht hast«, sagte Fi-delma und holte das Pergament aus ihrem Tragebeutel. Mochta warf einen Blick darauf und nickte.

»Ich bleibe bei dem, was ich geschrieben habe. Als ich Baoill darauf hinwies, es sei absurd, Ailbes Lebensdaten soviel später anzusetzen, denn er habe schon vor Patrick in Muman den Glauben verkündigt und mit Patrick zusammen den König von Muman -deinen Ahnherrn Oenghus Nad Froich - in Cashel getauft, begann sich Baoill wieder mit mir zu streiten.«

»Aber was hat dieses ganze Hickhack um Daten zu bedeuten?« fragte Eadulf, der dem Gespräch zu folgen versuchte, doch immer mehr durcheinandergeriet.

»Mein Bruder wollte mich überreden, Ailbe als nach Patrick kommend einzuordnen und niederzulegen, daß Ailbe und seine Anhänger Imleach erst gründeten, nachdem Armagh schon bestand. Er wollte sogar, ich solle behaupten, daß Ailbe nicht als Schutzpatron von Muman zu betrachten sei und Cashel die Bezeichnung >Felsen Patricks< zu tragen habe. Ich sollte in meiner Chronik den Anspruch von Armagh unterstützen, es habe nach historischem Recht den Vorrang im Glauben in allen fünf Königreichen.«

Fidelma schaute düster drein. »Ich kenne den Ehrgeiz Ultans von Armagh. Er ist nicht der erste Co-marb von Patrick, der für Armagh die führende Stellung in allen fünf Königreichen beansprucht und alle Kirchen der Ordnung Roms unterwerfen möchte. Dazu muß er zuerst dafür sorgen, daß Imleachs Anspruch auf die führende Stellung in Muman in Zweifel gezogen wird. Aber darum geht es doch wohl nicht bei all diesen Ereignissen?«

»Das weiß ich selber kaum, Schwester«, gestand Bruder Mochta. »Ich weiß nur, daß mein Bruder das Thema noch einmal wechselte und auf die heiligen Reliquien Ailbes zu sprechen kam. Wie schlau er das anstellte! Er machte sich meine Eitelkeit zunutze. Ich hatte ihm erzählt, daß einige der Reliquien Daten trugen, aus denen hervorging, wann Ailbe Bischof wurde. Er meinte, das würde er mir erst glauben, wenn er die Reliquien gesehen hätte. Ich sagte ihm, er solle in die Abtei kommen, doch er weigerte sich mit der Begründung, es sei nicht schicklich, wenn mein Zwillingsbruder mit römischer Tonsur in Imleach gesehen würde. Es war ein dummer Vorwand, aber ich dachte mir nichts dabei. Also schlug ich vor, er solle sich am nächsten Abend heimlich an der Tür einstellen, die in Bardans Kräutergarten führt, und dort würde ich ihm die Reliquien zeigen. Er erklärte sich einverstanden und versicherte, das würde den Streit zwischen Armagh und Imleach entscheiden.«

»Es war naiv von dir, ihm das zu glauben«, meinte Fidelma nachdenklich.

»Er war mein Bruder. Selbst da durchschaute ich seine Verschlagenheit noch nicht.«

»Was geschah dann?«

»Am nächsten Abend ging ich zur verabredeten Zeit in die Kapelle und holte unbemerkt das Reliquiar. Ich wollte es zum Treffpunkt mitnehmen, überlegte es mir aber anders. Vielleicht war mir doch ein Verdacht gekommen, denn ich nahm nur Ailbes Kruzifix zum Beweis mit, weil auf seiner Rückseite das Datum, wann Ailbe Bischof wurde, eingeritzt ist. Damit ging ich zur Tür des Kräutergartens. Draußen stand mein Bruder mit dem Bogenschützen ... Gott vergebe Ba-oill! Er riß mir das Kruzifix aus der Hand und wollte wissen, wo die übrigen Reliquien wären. Als er begriff, daß ich sie nicht mitgebracht hatte, geriet er völlig außer sich. Er schlug mich so, daß ich gegen den Pfosten fiel und mir eine blutende Wunde zuzog.«

»Das erklärt das getrocknete Blut an dem Türpfosten«, stellte Eadulf fest.

»Da wurde mir klar, daß mein Bruder von Anfang an die Absicht gehabt hatte, die Reliquien zu stehlen.«

»Meinst du, daß es sein eigener Plan war oder daß ihn jemand damit beauftragt hatte?« fragte Fidelma. »Ultan von Armagh zum Beispiel? Offensichtlich sollten sowohl Ailbe als auch Imleach in Verruf gebracht werden.«

»Ich weiß nur, daß mein Leben in Gefahr war. Ich glaube, mein Bruder hätte mich getötet. Dann kam Bruder Bardan dazu. Er wollte Kräuter sammeln gehen. Er sah, daß ich angegriffen wurde, und mit seinem Stab wehrte er meinen Bruder und seinen Gefährten ab. Ailbes Kruzifix hatten sie. Als Bardan die Tür verriegelte, drohte mein Bruder, daß andere kommen und das holen würden, was ich nicht herausgeben wollte.«

»Das deutet darauf hin, daß dein Bruder Baoill und sein Freund, der Bogenschütze, nicht aus eigenem Antrieb handelten.«

Bruder Mochta nickte.

»Das ist richtig. Ich war zu erschüttert, um das zu dem Zeitpunkt zu begreifen. Bardan brachte mich zurück in meine Zelle, und ich erzählte ihm die Geschichte so, wie ich sie verstand. Er drängte mich, Abt Segdae sofort mitzuteilen, daß Ailbes Kruzifix gestohlen worden sei. Dazu konnte ich mich nicht durchringen, denn ich wollte Baoill Zeit lassen, über sein Verbrechen nachzudenken und das Kruzifix zurückzubringen. Ich wollte immer noch nicht glauben, daß mein Bruder so ein verruchter Mensch geworden sei.«

»Offensichtlich brachte er es aber nicht zurück«, warf Eadulf ein.

»Ein paar Tage vergingen. Er ließ sich nicht blicken. Ich beschloß, nach ihm zu suchen.«

»War das nicht gefährlich?«

»Ich bat Bruder Bardan, mich zu begleiten. Wir gingen zu Creds Herberge. Dort trafen wir einen der Kutscher des Kaufmanns aus Cashel, der mich merkwürdig musterte.«

»Weil er dich einige Tage zuvor hatte in die Herberge kommen sehen«, brummte Eadulf.

»Ich hatte ihn nicht gesehen.«

»Er hatte dich aber gesehen.«

»Nun, Cred kam heraus, und ich erklärte ihr, daß ich den Bogenschützen und seinen Gefährten suchte. Sie sagte, sie wüßte nichts von einem Gefährten .«

»Damit hatte sie recht«, warf Fidelma ein. »Dein Zwillingsbruder konnte sich wegen seiner Ähnlichkeit mit dir nicht im Ort blicken lassen, denn er wäre aufgefallen. Er blieb außerhalb.«

»Cred meinte, der Bogenschütze sei auf der Jagd in den Bergen«, fuhr Bruder Mochta fort. »Bardan und ich wanderten ziellos in den Bergen umher, in der Hoffnung, den Bogenschützen zu treffen. Dann machten wir uns auf den Rückweg zur Abtei. Bardan ließ die Seitentür meist offen, und wir gingen auf den Kräutergarten zu. Wir waren bei den Eibenbäumen hinter dem Heidefeld, nicht weit von der Tür, als mein Bruder plötzlich auftauchte. Anscheinend hatte er auf uns gewartet.

Ich verlangte das Kruzifix zurück, das er gestohlen hatte, und er wollte von mir das Reliquiar samt seinem ganzen Inhalt haben. Er drohte mir. Ich weigerte mich, und da lachte er und sagte, er wolle es mir nur leicht machen. An den nächsten Besuchern in Imleach würden wir keine Freude haben.«

»Was dann?«

»Ich erklärte ihn für verrückt. Er erwiderte, er habe die Unterstützung eines mächtigen Fürsten und Mu-man sei verrückt, wenn es sich nicht in das Unvermeidliche schicke. Es werde ein Primat für alle fünf Königreiche geben und ebenso einen weltlichen Machthaber über alles.«

Fidelmas Miene erhellte sich. »Waren das genau seine Worte?«

»Ja. Das waren genau seine Worte.«

»Ich glaube, ich kann die Hand von Mael Düin, dem König von Ailech, in dieser Verschwörung erkennen. Was die Comarbs von Patrick für Armagh erstreben, das wollen die Ui-Neill-Könige für ihre Dynastie erreichen. Sie wollen das Großkönigtum von Eireann in eine starke Zentralherrschaft wie die der römischen Kaiser umwandeln. Das Geheimnis klärt sich allmählich auf. Sprich weiter, Mochta. Was geschah dann?«

»Bardan und ich, wir wandten uns angewidert ab und ließen Baoill weiter toben. Wir gingen über das Feld auf die Tür zu ...«

»Wir kennen die Stelle«, warf Eadulf ein.

»Mitten auf dem Feld hörten wir ein Pfeifen in der Luft, und im nächsten Moment durchfuhr ein Schmerz meine Schulter.« Er hob die Hand und berührte seine Wunde. »Ich fiel vornüber. Bardan sagte später, er habe den Bogenschützen, den Gefährten meines Bruders, am Rande der Eibenbäume stehen sehen, wie er gerade einen neuen Pfeil auf die Bogensehne legte. Bardan packte mich und schob und zog mich auf die Tür zu. Wir hatten sie gerade erreicht, als der zweite Pfeil mich am Bein traf.«

»Hat niemand in der Abtei das beobachtet?«

Mochta schüttelte den Kopf. »Ihr kennt die Gegend. Sie ist von keinem Fenster aus einzusehen, und meistens ist dort keiner. Bardan half mir herein, verriegelte die Tür und brachte mich in meine Zelle. Als Apotheker konnte er die Pfeile herausziehen, die Gott sei Dank nicht tief eingedrungen waren, und die Wunden verbinden.

Dann besprachen wir, was wir am besten tun sollten. Es war uns klargeworden, daß mein Bruder und sein Freund Mitglieder einer Verschwörung waren, die das Ziel hatte, Muman und Imleach in Verruf zu bringen. Doch warum? Den Zweck kenne ich nicht. Was mich unmittelbar bewegte, war die Drohung, die Abtei anzugreifen und die Reliquien zu rauben. Ich fürchtete, bei einem solchen Überfall würden viele Brüder getötet werden.

Wir redeten lange darüber, und dann entschieden wir, daß ich mit den verbliebenen Reliquien ver-schwinden sollte. Bardan würde dafür sorgen, daß am nächsten Tag die Nachricht, die Reliquien und ich seien fort, überall verbreitet würde. Dadurch hofften wir, jeden Überfall auf die Abtei abzuwenden und die Gemeinschaft zu retten.

Niemand hatte mich gesehen, als ich verwundet in die Abtei zurückkam. Nachdem meine Wunden verbunden waren, ging ich zum Abendgebet, obwohl ich starke Schmerzen hatte. Anschließend schleppte ich mich in meine Zelle zurück.

Bardan holte das Reliquiar aus der Kapelle und brachte es mir. Wir richteten meine Zelle so her, daß es aussah, als wäre ich gegen meinen Willen fortgeschleppt worden. Wir nahmen nur wenige Dinge mit. Einen der Pfeile, die mich getroffen hatten, legte ich sichtbar hin, in der Hoffnung, er werde meinen Angreifer verraten.«

»Den haben wir gefunden«, bemerkte Eadulf.

»Dann führte mich Bardan hierher. Er stammt von hier, und daher kennt er diese Höhle. Sie wird nur selten benutzt. Er meinte, hier könnte ich mich verbergen, bis Baoill und seine Freunde offen aufträten. Einen Tag später kamt ihr in die Abtei mit der Nachricht, daß mein Bruder und sein Gefährte bei dem Versuch, Colgü und den Fürsten der Ui Fidgente zu ermorden, getötet wurden. Bardan sagte, die Lage sei nicht so einfach, wie es scheine, denn die Hintermänner der Verschwörung seien noch nicht bekannt. Das bedeutete, daß wir uns unsere nächsten Schritte gut überlegen und genau abwägen mußten, wem wir trauen könnten.«

Fidelma seufzte. »Ich wünschte, ihr hättet mir eher vertraut.«

»Es hätte nichts an dem Angriff auf die Abtei geändert«, wandte Bruder Mochta ein.

»Wer, meinst du, waren die Angreifer? Krieger des Königs von Ailech, die Armaghs Plan, hier die Herrschaft zu erringen, befördern sollen?« fragte Eadulf.

»Nein, ich glaube, es waren Ui Fidgente«, erwiderte Bruder Mochta. »Anfang des Jahres gab es Gerüchte, daß die Ui Fidgente sich um ein Bündnis mit den Ui-Neill-Königen im Norden gegen Cashel bemühten. Sie haben Colgü ihre Niederlage bei Cnoc Äine und den Tod ihres Königs nicht verziehen. Sie wollten sich mit den Ui Neill und mit Armagh verbünden, um Cashel geschwächt und besiegt zu sehen. Wie kann man ein Königreich besser niederwerfen, als wenn man es teilt?«

»Da magst du recht haben, Mochta«, pflichtete ihm Fidelma bei. Sie hielt inne und überlegte. »Du bist mit Bardan eng befreundet, nicht wahr?«

»Ja, natürlich.«

»Als ein guter Schreiber hast du Bardan geholfen, ein Buch über die Heilkräfte von Kräutern zu verfassen?«

Bruder Mochta war überrascht. »Woher weißt du das?« fragte er.

»Das spielt keine Rolle. Findest du es nicht merkwürdig, daß Bardan hier noch nicht erschienen ist, obwohl es ...« sie blickte zum Himmel »fast Mittag sein muß?«

Bruder Mochta runzelte die Stirn. »Das macht mir Sorgen«, gestand er. »Er wollte heute vormittag zu Finguine gehen und ihm unsere Geschichte berichten. Mehr weiß ich nicht.«

Fidelma stand auf und trat zum Eingang der Höhle. Sie kletterte über ein paar Steine und schaute den Berghang hinunter. Am Fuße des Berges erstreckte sich bis zum Fluß Ara Wald. Entschlossen wandte sie sich um.

»Mochta, du bist ein wichtiger Zeuge für Cashel. Wir müssen dich sofort dorthin bringen, damit die Krieger meines Bruders dich schützen können. Dich und das Reliquiar.«

»Und was wird aus Bardan?« protestierte Mochta.

»Um ihn kümmern wir uns später. Kannst du schon wieder reiten?«

»Aber nicht den ganzen Weg nach Cashel«, wandte er ein.

»Dann teilen wir den Weg in mehrere kurze Etappen«, versicherte sie ihm. »Versuche, zusammen mit Bruder Eadulf die Höhle zu verlassen und den Berg hinunterzusteigen bis zu dem Wald dort hinten. Laßt euch von niemandem sehen, bis ich mit den Pferden komme«, sagte sie zu Eadulf.

Der war ganz durcheinander. »Wo willst du denn Pferde herkriegen?«

»Ich hole unsere Pferde aus der Abtei.« Sie wies auf die Lampe neben Mochtas Strohsack. »Wenn du mir die Lampe überläßt, gehe ich durch die Geheimgänge zurück und komme so schnell wie möglich auf dem Weg um den Berg herum wieder. Bring nichts weiter mit als das Reliquiar, Mochta. Du kannst Bruder Ea-dulf dein Leben anvertrauen. Darauf läuft es sowieso hinaus. Sei dir über eines im klaren, Mochta, in jeder Minute, die du hier in dieser Höhle bleibst, bist du in tödlicher Gefahr.«

Загрузка...