Kapitel 4

Langes Schweigen trat ein, nachdem der Fürst der Ui Fidgente diese Anschuldigung erhoben hatte.

Es war Fidelma, die schließlich die bedrohliche Stille brach, indem sie mit dem Kopf auf ihren Bruder wies, der mühsam seine Schmerzen zu verbergen versuchte.

»Colgüs Krieger haben nicht nur auf dich geschossen und dich zu töten versucht, Donennach, sondern sie versuchten auch, den König von Cashel niederzuschießen.«

Donennachs dunkle Augen sahen sie forschend an.

Es war sein Leibwächter Gionga, der seine stumme Frage aussprach.

»Wer bist du, Frau, daß du in Gegenwart von Fürsten zu sprechen wagst?« Sein Ton war immer noch arrogant.

Colgü antwortete mit ruhiger Stimme: »Das ist meine Schwester Fidelma, die spricht, und sie hat ein größeres Recht dazu als jeder andere hier, denn sie ist eine dalaigh bei Gericht und zugleich eine Nonne. Sie besitzt den Grad eines anruth

Giongas Augen weiteten sich sichtlich, denn er wußte, daß nur der Rang eines ollamh, der höchste Grad, den die weltlichen und kirchlichen Hochschulen Irlands zu vergeben hatten, höher war als der eines anruth.

Donennach war offenbar nicht so beeindruckt. Seine Augen verengten sich leicht.

»Ach so? Du bist Fidelma von Cashel? Schwester Fidelma? Man kennt dich im Land der Ui Fidgente.«

Fidelma begegnete seinem forschenden Blick mit einem düsteren Lächeln.

»Ja, ich war schon dort - einmal. Ich wurde gerufen, um einen Giftmord zu untersuchen.«

Sie ließ sich nicht weiter darüber aus, denn sie wußte, daß Donennach die Einzelheiten der Geschichte bekannt waren.

»Meine Schwester hat recht«, schaltete sich Colgü ein und kam auf den Ausgangspunkt zurück. »Jeder Vorwurf, ich hätte bei dieser bösen Tat die Hand im Spiel gehabt, ist falsch!«

Eadulf beschloß, sich erneut einzumischen, denn er fand die Verwundungen beider Männer beunruhigend.

»Jetzt ist nicht die Zeit, darüber zu reden. Ihr beide müßt eure Wunden richtig versorgen lassen. Sie können sonst gefährlich werden. Verschieben wir die Diskussion auf eine passendere Zeit.«

Ein Schmerz durchzuckte Colgüs Arm, und er biß sich auf die Lippen. »Einverstanden, Donennach?« fragte er.

»Einverstanden.«

»Ich nehme die Sache in die Hand, Bruder«, erklärte Fidelma, »während Eadulf sich um euch kümmert.«

Gionga trat mit verärgertem Gesicht vor, doch bevor er noch etwas sagen konnte, hob Donennach die Hand.

»Du bleibst bei Schwester Fidelma, Gionga«, wies er ihn leise an, »und hilfst ihr dabei.«

Das Wort »hilfst« schien er unnötig zu betonen. Gionga neigte den Kopf und trat zurück.

Die Träger hoben die Trage mit dem Fürsten der Ui Fidgente auf und folgten Colgü, der mit der Hilfe von Donndubhain den steilen Weg zum Königspalast in Angriff nahm. Eadulf blieb besorgt an seiner Seite.

Fidelma stand einen Moment mit sittsam gefalteten Händen da. In ihren hellen Augen funkelte ein Feuer, das allen, die sie kannten, verriet, daß sie in einer gefährlichen Stimmung war. Äußerlich war ihre Miene gelassen.

»Nun, Gionga?« fragte sie ruhig.

Gionga trat von einem Fuß auf den anderen, er fühlte sich nicht besonders wohl in seiner Haut. »Nun?« fragte er zurück.

»Lassen wir die Leichen der beiden Männer zu unserem Apotheker bringen? Wir können sie später untersuchen, und zwar unter besseren Bedingungen.«

»Warum untersuchen wir sie nicht gleich?« fragte der Krieger der Ui Fidgente etwas widerborstig, doch er kannte nun ihren Rang und hatte anscheinend begriffen, daß er seine Arroganz zügeln mußte.

»Weil du mir erst zeigen sollst, wo und wie ihr die Attentäter gestellt habt und warum ihr sie töten mußtet, anstatt sie gefangenzunehmen. Wir hätten sie über ihre Absichten verhören können.«

Ihr Ton war ruhig und ohne jeden Vorwurf, doch Giongas Gesicht rötete sich, und er schien sich weigern zu wollen. Aber dann zuckte er die Achseln und winkte zwei seiner Männer heran.

Mit einem lauten Ruf und besorgter Miene kam Donndubhain den Berg heruntergeeilt.

»Colgü meinte, hier könnte ich mich eher nützlich machen«, erklärte er. Er wollte offenbar andeuten, daß Colgü seine Schwester nicht gern allein bei den Kriegern der Ui Fidgente zurückließ. »Capa und Eadulf kümmern sich um ihn.«

Fidelma lächelte dankbar. »Ausgezeichnet. Giongas Männer schaffen die beiden Leichen zu Conchobar. Hast du jemanden, der ihnen den Weg zeigt?«

Donndubhain rief einen vorbeikommenden Krieger heran.

»Bring die Männer der Ui Fidgente mit den Leichen zu ...« Fragend zog er die Brauen hoch.

»Zu der Apotheke von Bruder Conchobar. Sag ihm, er soll meine Anordnungen abwarten. Ich möchte die Leichen selbst untersuchen.«

Der Krieger grüßte und winkte den beiden Kriegern der Ui Fidgente, ihm mit den Leichen zu folgen.

»Fangen wir an der Stelle an, wo Colgü und Do-nennach getroffen wurden«, verkündete Fidelma.

Gionga und Donndubhain begleiteten Fidelma schweigend zurück zum Marktplatz. Die Bürger von Cashel hatten sich noch nicht entfernt, sondern standen in Gruppen zusammen und unterhielten sich flüsternd. Manche warfen verstohlene Blicke auf den Krieger der Ui Fidgente. Fidelma spürte die Abneigung in ihren Mienen. Generationenlange Kriege und Überfälle ließen sich nicht so schnell aus dem Gedächtnis tilgen, wie sie zunächst gedacht hatte.

Sie erreichten die Stelle, an der die Pfeile Colgü und Donennach getroffen hatten. Gionga wies quer über den Platz auf eine Gruppe von Gebäuden auf der anderen Seite.

»Als der erste Pfeil traf, schaute ich mich um, woher er gekommen war. Ich sah einen Mann auf dem Dach des Gebäudes da.«

Das Gebäude, auf das er zeigte, stand fünfzig Meter entfernt auf der anderen Seite des Marktplatzes. Es hatte ein flaches Dach.

»In dem Moment schoß er den zweiten Pfeil ab, ich schrie, aber mein Warnruf kam zu spät für Donen-nach.«

»Ach so«, meinte Fidelma. »Und dann gabst du deinem Pferd die Sporen und rittst auf das Haus zu?«

»Ja. Zwei meiner Krieger jagten mir nach. Als wir das Gebäude erreichten, war der Schütze schon vom Dach gesprungen, den Bogen hatte er noch in der Hand. Neben ihm stand ein zweiter Mann mit einem Schwert. Ich schlug sie beide nieder, bevor sie ihre Waffen gegen uns gebrauchen konnten.«

Fidelma wandte sich an Donndubhain.

»Ich erinnere mich, daß du ihnen dichtauf gefolgt bist, Vetter. Stimmt die Darstellung mit dem überein, was du gesehen hast?«

Der Thronfolger meinte achselzuckend: »Mehr oder weniger.«

»Das ist eine ziemlich ungenaue Antwort«, bemerkte Fidelma.

»Ich meine, ich sah, daß der Bogenschütze herabsprang zu seinem Gefährten, aber ich sah nicht, daß sie ihre Waffen hoben. Sie schienen die Krieger zu erwarten.«

»Du meinst, sie wollten uns herankommen lassen, um ein sicheres Ziel zu haben?« schnaubte Gionga verächtlich.

Fidelma ging ohne Kommentar auf das Gebäude zu.

»Schauen wir mal, was wir dort finden.«

Donndubhain sah sie verständnislos an.

»Was sollen wir dort finden? Die Attentäter wurden beide getötet und ihre Leichen weggeschafft. Was suchst du noch?«

Fidelma ersparte sich eine Antwort.

Das Gebäude, das Gionga und Donndubhain ihr gezeigt hatten, war niedrig und einstöckig und hatte ein flaches Dach. Es war aus Holz gebaut und sah wie ein Stall aus mit zwei großen Türen in der Vorderfront und einer kleinen an der Seite. Fidelma hatte zwar ihre Kindheit in Cashel verbracht, mußte aber überlegen, wem es gehörte. Es war kein Stall, erinnerte sie sich, sondern eine Art Lagerhaus.

Sie betrachtete es genau.

Türen und Fenster waren verschlossen, und nichts regte sich darin.

»Donndubhain, weißt du, was das für ein Gebäude ist?«

Der Tanist überlegte.

»Es ist ein Lagerhaus und gehört dem Kaufmann Samradan. Ich glaube, er lagert Weizen darin.«

»Wo ist Samradan?«

Ihr Vetter zuckte die Achseln.

»Mach ihn ausfindig und bring ihn zu mir.«

»Jetzt gleich?« fragte Donndubhain überrascht.

»Sofort«, bestätigte Fidelma.

Der Thronfolger von Cashel machte sich auf die Suche nach dem Kaufmann, denn selbst ein Fürst hatte einer dalaigh bei Gericht zu gehorchen, ganz abgesehen davon, daß Fidelma die Schwester des Königs war. Fidelma ging prüfend um das Gebäude herum. Auch die kleine Seitentür war verschlossen, doch an der Rückseite lehnte eine Leiter an der Wand, mit deren Hilfe man auf das Dach gelangen konnte.

»Dort habe ich die Attentäter gefunden«, erklärte ihr Gionga.

Fidelma warf ihm einen raschen Blick zu. »Aber hier konntest du sie doch nicht sehen, als du auf die Vorderseite des Gebäudes zugeritten bist.«

»Nein, ich sah nur den Schützen mit dem Bogen in der Hand. Er stand auf dem Dach und verschwand dann nach hinten. Ich ritt an der Seite entlang, als die beiden Männer, einer mit dem Bogen und der andere mit gezogenem Schwert, hinter dem Gebäude hervorkamen.«

»Und wo hast du sie niedergeschlagen?«

Gionga wies mit der Hand auf die Stelle.

Die Blutlachen auf dem Boden waren noch nicht eingetrocknet. Sie befanden sich an der Rückseite des Gebäudes, waren aber zu sehen, wenn man vom Marktplatz her kam.

Fidelma stieg die Leiter empor auf das flache Dach. An der Vorderseite des Gebäudes lagen hinter einer niedrigen hölzernen Brüstung zwei Pfeile. Sie waren nicht hastig weggeworfen, sondern sorgfältig bereitgelegt worden. Vielleicht hatte das der Bogenschütze getan, damit er mehrmals schnell hintereinander schießen konnte. Fidelma hob die Pfeile auf und prüfte sie genauer. Sie verglich sie mit dem Pfeil, der in ihrem Gürtel steckte und den Eadulf aus Colgüs Arm gezogen hatte. Ihre Miene verdüsterte sich. Sie kannte die Kennzeichen.

Gionga war zu ihr getreten und schaute sie mißmutig an. »Was hast du da?«

»Nur Pfeile«, antwortete Fidelma rasch.

»Fidelma!«

Fidelma spähte über die Brüstung auf Donndub-hain hinunter.

»Hast du Samradan gefunden?«

»Er ist heute nicht in Cashel. Er ist in Imleach mit Waren für die Abtei.«

»Dieser Samradan wohnt wohl nicht hier?«

Donndubhain streckte den Arm aus. »Vom Dach aus müßtest du sein Haus sehen können. Es ist das sechste in der Hauptstraße. Ich kenne ihn und habe auch schon bei ihm gekauft.« Zerstreut langte er nach der Silberspange auf seiner Schulter. »Ich bin sicher, daß er damit nichts zu tun hat.«

Fidelma schaute die Straße entlang auf das Haus, auf das der Tanist gezeigt hatte.

»Na, wir brauchen ihn auch nicht, um zu wissen, was vorgefallen ist«, schaltete sich Gionga ein. »Die Attentäter erkannten, daß dieses Flachdach eine strategisch günstige Position darstellt, um auf Donennach zu schießen. Sie sahen, daß es ein Lagerhaus ist, suchten sich eine Leiter, stiegen hinauf und warteten auf die Ankunft meines Fürsten. Sie dachten, in dem Durcheinander könnten sie entkommen.«

Er drehte sich um und betrachtete das Land hinter dem Gebäude.

»Sie hätten leicht in das Wäldchen da hinten flüchten können. Übrigens -« seine Miene hellte sich auf -»ich wette, dort finden wir ihre Pferde angebunden.«

Er wollte sich schon zum Wäldchen aufmachen, als Fidelma ihn mit einem ruhigen »Einen Moment mal« zum Bleiben veranlaßte.

Sie hatte mit zusammengekniffenen Augen die Entfernung zwischen dem Dach und der Stelle abgeschätzt, an der ihr Bruder und der Fürst der Ui Fid-gente getroffen wurden.

»Eins kann ich dir über unseren Bogenschützen verraten«, meinte sie grimmig.

Gionga runzelte die Stirn, schwieg aber.

»Er war kein guter Schütze.«

»Wieso?« fragte der Ui Fidgente mißtrauisch.

»Von hier aus und auf diese Distanz ist es nicht leicht, das Ziel zweimal hintereinander zu verfehlen. Beim erstenmal konnte er wohl danebenschießen, aber nicht beim zweitenmal, als das Ziel sich nicht bewegte.«

Sie erhob sich und ging, gefolgt von Gionga, zur Leiter. Die Pfeile nahm sie mit. Unten wartete ihr Vetter auf sie.

»Hast du gehört, wo Gionga die Pferde vermutet?« fragte sie ihn.

»Ja«, antwortete Donndubhain nur. Fidelma hatte den Eindruck, daß er nicht viel von Giongas Vermutungen hielt.

Sie gingen zu dem kleinen Wäldchen. Von angebundenen Pferden war nichts zu sehen.

»Vielleicht hatten sie noch einen Komplizen«, mutmaßte Gionga, um seine Enttäuschung zu verbergen. »Er sah die beiden fallen und flüchtete mit den Pferden.«

»Vielleicht«, meinte Fidelma, die den Weg auf der anderen Seite des Wäldchens untersuchte. Hier gab es zu viele Huf- und Wagenspuren, als daß man etwas daraus hätte schließen können.

Gionga sah sich mit finsterer Miene um, als hoffte er, die Pferde würden plötzlich vom Himmel fallen.

»Was nun?« fragte Donndubhain und verbarg seine Befriedigung darüber, daß der Ui Fidgente unrecht behalten hatte.

»Jetzt«, seufzte Fidelma, »gehen wir zu Bruder Conchobar und sehen uns die Leichen der Attentäter genauer an.«

Bruder Conchobar stand an seiner Tür. Er trat beiseite und ließ sie ein.

»Ich habe dich erwartet, Fidelma«, sagte er. »Habe ich dir nicht vorausgesagt, daß dieser Tag uns nichts Gutes bringen würde?«

Gionga hörte das und fuhr ihn an: »Was meinst du damit, du alter Ziegenbart? Heißt das, du hast vorher von dem Überfall gewußt?«

Donndubhain ergriff Giongas Arm, denn der Krieger hatte den Alten grob an der Schulter gepackt.

»Laß ihn in Ruhe. Er ist ein alter Mann und ein treuer Diener Cashels«, sagte er scharf.

»Er hat eine solche Behandlung nicht verdient«, fügte Fidelma hinzu. »Er las Böses in den Sternen, weiter nichts.«

Gionga ließ die Hand verächtlich fallen. »Ein Astrologe?« Sein halblauter Pfiff klang ebenso spöttisch wie sein Tonfall.

Der alte Mönch zog seine verrutschte Kleidung mit ernster Würde zurecht.

»Sind dir die beiden Leichen gebracht worden?« fragte ihn Fidelma.

»Ich habe sie entkleidet und auf den Tisch gelegt, sie sonst aber nicht angerührt, so wie du es befohlen hattest.«

»Wenn wir fertig sind und nicht feststellen können, wer sie sind, dann kannst du sie waschen und in Leichentücher hüllen, aber wo du ihre Gräber absteckst, das weiß ich nicht.«

»Irgendwo ist immer Platz in der Erde, selbst für Sünder«, erwiderte Conchobar ernst. »Allerdings wird man nicht lange um sie klagen.«

In Irland dauerten die Begräbnisfeierlichkeiten oft zwölf Tage und Nächte, man trauerte und weinte neben dem Leichnam. Sie wurden laithi na caoinnti genannt, die Tage der Wehklage. Erst danach wurden die Leichen bestattet.

In der Apotheke stand ein großer Holztisch, mehr als breit genug für die Leichen der beiden Erschlagenen. Es war nicht das erstemal, daß Conchobar ihn zur Aufbahrung benutzte, denn oft hatte er die Pflichten des Leichenbestatters zu übernehmen. Die Leichen lagen nebeneinander und waren nackt, nur ihre Genitalien hatte der alte Mönch anstandshalber mit einem Leinentuch bedeckt.

Fidelma stellte sich an die Fußseite des Tisches, die Hände gefaltet, ihren leicht zusammengekniffenen Augen entging nichts.

Als erstes fiel ihr auf und belustigte sie auf makabre Weise, daß der eine Mann groß, dürr und fast kahl war, nur mit wenigen langen blonden Haaren im Nacken wie zum Ausgleich, während der zweite klein und füllig war mit einem dichten Schopf wirrer grauer Locken. Wie sie so nebeneinanderlagen, wirkten ihre körperlichen Unterschiede beinahe komisch. Doch die tödlichen Wunden, die Giongas Schwert ihnen geschlagen hatte, wandelten die Komik ins Groteske.

»Welcher von beiden war der Bogenschütze?« fragte Fidelma leise.

»Der Kahlköpfige«, antwortete Gionga sofort. »Der andere war sein Komplize.«

»Wo sind die Waffen, die sie führten?«

Aus einer Ecke holte Conchobar den Bogen und den Köcher mit einigen wenigen Pfeilen sowie ein Schwert herbei.

»Das hier brachten die Krieger zusammen mit den Leichen«, erklärte er.

Fidelma winkte ihm, er möge die Waffen hinlegen. »Ich sehe sie mir gleich an ...«

»Moment mal!« fuhr Gionga dazwischen. »Bring den Köcher mit den Pfeilen her.«

Bruder Conchobar blickte Fidelma an, aber sie erhob keinen Einspruch. Sie wußte, was Gionga auf dem Dach des Lagerhauses gesehen hatte, und sie hielt es nicht für klug, das hinauszuzögern, was er unweigerlich beweisen würde. Der Apotheker reichte Gionga den Köcher. Der hochgewachsene Krieger nahm wahllos einen Pfeil heraus und hielt ihn ihnen hin.

»Was meinst du, woher dieser Pfeil stammt, Tanist von Cashel?« fragte Gionga mit gespielter Harmlosigkeit.

Donndubhain nahm den Pfeil und untersuchte ihn gründlich.

»Das weißt du sehr gut, Gionga«, unterbrach Fi-delma die Prozedur, denn sie kannte sich ebenfalls mit Pfeilen aus.

»So?«

Donndubhain sah verlegen aus.

»Die Lenkfedern tragen die Kennzeichen des Volkes unseres Vetters, der Eoghanacht von Cnoc Äine.«

»Genau«, schnurrte Gionga sanft. »Alle Pfeile im Köcher des Attentäters tragen die Kennzeichen der Pfeilschmiede von Cnoc Äine.«

»Hat das was zu bedeuten? Schließlich ...« Fidelma schaute den Krieger unschuldig an, »... kann man Pfeile leicht erwerben.« Sie holte ein kleines Messer aus ihrem marsupium, dem Tragebeutel. »Dieses Messer wurde in Rom hergestellt. Ich kaufte es dort auf einer Pilgerfahrt. Deshalb bin ich noch keine Römerin.«

Gionga wurde rot vor Ärger und stieß den Pfeil zurück in den Köcher.

»Versuch nicht, mich zu veralbern, Schwester Colgüs. Die Herkunft der Pfeile ist klar. Ich werde das in meinem Bericht an meinen Fürsten erwähnen.«

Donndubhain errötete bei dieser direkten Beleidigung seiner Kusine. »Es gibt nur eine dalaigh unter uns, Gionga, und sie wird den Bericht erstatten«, fuhr er ihn an.

Gionga bleckte höhnisch die Zähne.

Fidelma achtete nicht auf ihn, nahm den Köcher und untersuchte ihn. Von den Kennzeichen auf den Lenkfedern der Pfeile abgesehen, unterschied er sich in nichts von Hunderten anderer solcher Köcher. Sie ließ sich von Conchobar den Bogen reichen. Er war gut und solide gearbeitet und wies keine Besonderheiten auf. Dann nahm sie sich das Schwert vor. Es war von schlechter Qualität, rostete an den Verbindungsstellen und war nicht einmal geschärft. Der Griff war auf eigenartige Weise mit geschnitzten Tierzähnen verziert. Fidelma hatte Schwerter in diesem Stil schon gesehen - sie wurden claideb det genannt und ihres Wissens nur in einer Gegend Irlands hergestellt, sie konnte sich aber nicht erinnern, in welcher.

»Also, Gionga«, meinte sie schließlich, »die Waffen haben wir nun untersucht. Bist du soweit zufrieden?«

»Insofern wir die Herkunft der Pfeile festgestellt haben - ja!« erwiderte der Krieger.

Plötzlich öffnete sich die Tür, und Bruder Eadulf kam herein. Er blieb höflich auf der Schwelle stehen.

»Ich hörte, ihr wollt die Leichen untersuchen«, sagte er etwas atemlos. Offenbar war er schnell gelaufen.

Fidelma fragte ihn besorgt: »Wie geht es meinem Bruder . und Fürst Donennach?«

»Recht gut. Es besteht keine Lebensgefahr, aber sie werden noch ein paar Tage Schmerzen haben. Mach dir keine Sorgen, ihre Wunden sind verbunden, und sie sind in guter Pflege.«

Fidelma lächelte beruhigt. »Du kommst gerade zur rechten Zeit, Eadulf. Ich kann deine kundigen Augen brauchen.«

Gionga protestierte ärgerlich: »Der Fremde hat hier nichts zu suchen.«

»Dieser Fremde«, erwiderte Fidelma in gemessenem Ton, »ist Gast meines Bruders und hat in Tuaim Bre-cain die ärztliche Kunst erlernt. Seine geschickte Behandlung hat wahrscheinlich deinen Fürsten vor Schlimmerem bewahrt. Außerdem benötigen wir seinen erfahrenen Blick bei der Untersuchung dieser beiden Leichen.«

Giongas Miene zeigte seine Mißbilligung, aber er erhob keine weiteren Einwände.

»Komm näher, Eadulf, und erkläre uns, was du siehst«, forderte Fidelma ihn auf.

Eadulf trat an den Tisch. »Zwei Männer, der eine klein, der andere groß. Der Große .« Eadulf beugte sich vor und betrachtete ihn genauer. »Der Große starb an einer einzigen Wunde, anscheinend einem Schwertstoß zum Herzen.«

Gionga lachte spöttisch. »Das hätte ich dir auch sagen können, denn den Stoß führte meine Hand.«

Eadulf beachtete ihn nicht. »Der andere Mann, der Kleine, starb an drei Hieben. Er wandte dem Angreifer den Rücken zu, als dieser zuschlug. Die Halswunde sieht gefährlich aus. Die Stichwunde unter dem Schulterblatt halte ich nicht für tödlich, doch außerdem wurde ihm noch der Hinterkopf eingeschlagen, wahrscheinlich mit dem Schwertgriff. Ich nehme an, der Mann flüchtete und wurde von jemandem aus höherer Position niedergehauen, vermutlich einem Reiter.«

Fidelma sah den Krieger der Ui Fidgente durchdringend an. In ihrem stummem Blick lag ein Vorwurf. Gionga schob trotzig das Kinn vor.

»Es ist gleichgültig, wie ein Feind erschlagen wird, wenn man ihn nur als Bedrohung ausschaltet.«

»Hast du nicht gesagt, der Mann hätte dich mit dem Schwert bedroht?« fragte Fidelma ruhig.

»Zuerst«, fauchte Gionga. »Als ich dann seinen Gefährten niederschlug, lief er davon.«

»Und du hast ihn nicht gefangengenommen?« Jetzt wurde Fidelmas Ton scharf. »Du mußtest ihn töten, obwohl er uns wertvolle Auskünfte über den Anschlag hätte geben können?«

Gionga trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Daran denkt man im Kampf nicht gleich. Der Mann war eine Bedrohung und mußte erledigt werden.«

»Eine Bedrohung!« wiederholte Fidelma. »Er sieht schon ziemlich alt aus, und bei seinem Leibesumfang wäre es einem jungen Krieger wie dir sicher leichtgefallen, ihn zu entwaffnen. An eins möchte ich dich noch erinnern, Gionga von den Ui Fidgente: wenn eine dalaigh eine Frage stellt, dann will sie die Wahrheit hören, keine Lüge zur Rechtfertigung einer Tat.«

Gionga gab ihr einen trotzigen Blick zurück, sagte aber nichts.

Eadulf hatte sich inzwischen über die Leiche des kleineren Mannes gebeugt. Verblüffung spiegelte sich in seinem Gesicht.

»Was ist?« fragte ihn Fidelma.

Wortlos winkte Eadulf sie zu sich heran.

Gionga und Donndubhain folgten ihr neugierig.

Eadulf hob den Kopf der Leiche etwas an, so daß man die Schädeldecke sehen konnte. Getrocknetes Blut bezeichnete die Stelle, an der Giongas Hieb mit dem Schwertgriff die Hirnschale eingeschlagen hatte.

Fidelmas Augen weiteten sich.

»Was ist denn?« fragte Gionga. »Ich sehe nur die Wunde, die ich ihm beigebracht habe. Das gebe ich offen zu. Was sonst?«

Fidelma sprach sehr ruhig. »Worauf uns Bruder Ea-dulf hinweist, Gionga, ist der Unterschied im Haarwuchs des Toten auf der Schädeldecke und in ihrer Umgebung. Wie du siehst, ist das Haar ringsum dicht und lockig. Auf einem Kreis in der Mitte ist es aber kaum zwei oder drei Zentimeter lang.«

Gionga begriff immer noch nicht, worum es ging.

Donndubhain erkannte es zuerst. »Bedeutet das, der Mann war bis vor kurzem Mönch?«

»Was?« Gionga war verblüfft. Er starrte auf das Haar des Toten.

»Die corona spina der römischen Kirche«, erklärte Eadulf, der dieselbe Tonsur trug.

»Meinst du damit, daß dieser Mann Ausländer war«, fragte ihn Gionga.

Fidelma schloß einen Moment die Augen. »Es gibt viele Mönche in den fünf Königreichen, die die Tonsur des heiligen Johannes mit der des heiligen Petrus vertauscht haben«, erläuterte sie. »Die Tonsur verrät uns lediglich, daß er ein Mönch ist . oder war.«

»Wir wissen auch, daß er bis vor ungefähr zwei Wochen die Tonsur trug. So lange, denke ich, brauchte das Haar, um diese Länge zu erreichen«, fügte Ea-dulf hinzu.

»Zwei Wochen?« fragte Fidelma.

Eadulf nickte bestätigend.

Sie traten zurück, und Eadulf untersuchte die Leiche weiter. Er wies auf den linken Unterarm. »Habt ihr diese merkwürdige Tätowierung gesehen?«

Sie betrachteten sie genau.

»Sie stellt eine Art Vogel dar«, vermutete Donn-dubhain.

»Clamhan«, erklärte Fidelma.

»Ein was?« fragte Eadulf.

»Eine Art Habicht«, erläuterte sie.

»Na, ich habe so etwas noch nicht gesehen«, meinte Gionga.

»Nein«, bemerkte Fidelma, »kannst du auch nicht, wenn du noch nicht in den nördlichen Gegenden gewesen bist.«

»Aber du warst wohl schon dort?« höhnte der Krieger.

»Ja. Ich habe den Vogel in Ulaidh und im Königreich Dal Riada gesehen auf meiner Reise zu dem großen Konzil, das Oswy von Northumbria einberufen hatte.«

»Ach!« strahlte Eadulf. »Jetzt erkenne ich den Vogel. Lateinisch heißt er buteo, der Bussard. Eine seltsame Unterarmtätowierung für einen Mönch.«

Er fuhr mit seiner Untersuchung fort und nahm sich besonders die Hände und Füße vor.

»Dieser Mann ist kein Mönch, der Krieger geworden ist, und auch kein Krieger, der Mönch geworden ist«, verkündete er. »Seine Hände und Füße sind weich und nicht schwielig. Sieh dir mal die rechte Hand an, Fidelma, besonders zwischen Zeige- und Mittelfinger.«

Fidelma nahm die schlaffe, kalte Hand und unterdrückte ein Schaudern bei der Berührung des weichen Fleisches, das sich so biegsam anfühlte, als enthalte es keine Knochen.

Sie warf Eadulf einen raschen, verständnisvollen Blick zu und ließ die Hand wieder sinken.

»Was ist denn jetzt?« fragte Gionga zornig, weil er wieder nichts begriffen hatte.

»Er hat Tintenflecken an den Fingern«, beantwortete Eadulf seine Frage. »Das bedeutet, daß unser ehemaliger Mönch ein scriptor war. Merkwürdig, daß aus ihm ein Attentäter wurde.«

Gionga war auf Streit aus. »Na, der andere Mann war ja auch der Bogenschütze, und er trug das Zeichen der Leibgarde des Königs von Cashel, und seine Pfeile wurden von den Leuten von Cnoc Äine hergestellt, deren Gebiet von Colgüs Vetter regiert wird.«

Fidelma ersparte sich einen Kommentar dazu. »Und nun kommen wir zu dem Bogenschützen selbst. Was kannst du uns über ihn sagen, Eadulf?«

Eadulf nahm sich Zeit mit der Untersuchung der Leiche des größeren Mannes, dann trat er zurück und berichtete.

»Der Mann ist muskulös, und seine Hände sind an Arbeit gewöhnt, allerdings gut gepflegt. Es gibt keine Schmutzränder wie bei Bauern oder Landarbeitern. Die Fußsohlen sind verhärtet. Der Körper ist ge-bräunt und trägt zwei alte Narben von verheilten Wunden. Eine befindet sich an der linken Seite nahe den Rippen, die andere am linken Oberarm. Der Mann hat in Schlachten mitgefochten. Außerdem ist er ein berufsmäßiger Bogenschütze.«

Bei dieser letzten Feststellung brach Gionga in höhnisches Gelächter aus. »Bloß weil du gehört hast, wie ich sagte, er war Bogenschütze, brauchst du uns nicht mit deinen Künsten zu beeindrucken, als wärst du ein Zauberer, Angelsachse.«

Eadulf ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Ich berichte nur, was ich sehe.«

Fidelma lächelte. »Vielleicht erklärst du es Gionga, denn deine Logik versteht er anscheinend nicht.«

Eadulf blieb geduldig.

»Komm her«, winkte er dem Krieger der Ui Fid-gente. »Erst sehen wir uns die linke Hand an, mit der er den Bogen hielt. Hier siehst du die Schwielen an den Fingern. An der rechten Hand gibt es die nicht. An der rechten Hand erkennst du die kleineren Schwielen an den Spitzen von Daumen und Zeigefinger, mit denen er oft die Schaftenden von Pfeilen faßte. An der Innenseite des linken Unterarms findest du alte Verbrennungsnarben, wo die Bogensehne manchmal das Fleisch berührt. Das kommt vor, wenn der Schütze schnell hintereinander Pfeile abschießen will und den Bogen nicht immer genau richtet.«

Gionga suchte zu verbergen, wie beeindruckt er war. »Na gut, Angelsachse. Ich gebe zu, daß Logik in deinen Tricks steckt. Trotzdem hätte ich dir sagen können, daß er Bogenschütze war, denn als ich ihn niederschlug, hatte er noch den Bogen in der Hand, mit dem er meinen Fürsten hatte töten wollen.«

»Und den König von Muman ebenfalls«, fügte Donndubhain hinzu. »Das scheinst du immer wieder zu vergessen.«

»Seht euch doch die Kleidung der Attentäter an«, knurrte Gionga. »Erklär mir mal, wie das Zeichen des Ordens der Goldenen Kette, der Leibwache deines Vetters, dahin kommt.«

Auf einem anderen Tisch hatte Conchobar die Kleidung und die Waffen zur Untersuchung bereitgelegt.

Fidelma nahm das Kreuz an der Goldkette in die Hand, das Zeichen des alten Ordens, der mit den Eoghanacht-Königen von Cashel verbunden war. Es besaß keine besonderen Merkmale. Es war dem ähnlich, das sie selbst am Hals trug als Ausdruck der Dankbarkeit ihres Bruders für ihre Verdienste um das Königreich.

»Donndubhain, du standest doch deinem Vater nahe, König Cathal, der vor meinem Bruder König von Cashel war. Du kanntest die Mitglieder der Leibwache der Könige so gut wie kein anderer. Erkennst du diesen Bogenschützen?«

»Nein«, erklärte ihr Vetter. »Ich habe ihn noch nie in der Leibwache gesehen, Fidelma.«

Fidelma hielt ihm das Kreuz hin. »Hast du das schon mal gesehen ... Ich meine, dieses besondere Stück?«

»Es sieht wie alle Kreuze aus, die die Mitglieder des Ordens der Goldenen Kette tragen, Kusine. Du kennst es auch, denn du trägst selbst eins. Es ist unmöglich, sie voneinander zu unterscheiden.«

Gionga blieb skeptisch. »Na, das müßt ihr ja wohl sagen, nicht wahr? Ihr könnt ja nicht zugeben, daß einer aus eurer Leibwache ein Attentäter war.«

Donndubhain fuhr zornig herum, die Hand am Schwertgriff, doch Fidelma hielt ihn zurück.

»Ruhe! Ob du es glaubst oder nicht, Gionga, dieser Mann ist nicht als Mitglied des Ordens der Goldenen Kette bekannt. Ich kenne ihn nicht, und mein Vetter kennt ihn auch nicht. Darauf schwören wir dir jeden Eid.«

»Das habe ich mir gedacht, daß ihr das sagt«, erwiderte Gionga mit kein bißchen weniger Mißtrauen in der Stimme.

»Vielleicht trug er das Kreuz absichtlich, um dich irrezuführen?« vermutete Eadulf.

Gionga lachte mißtönend. »Du meinst, der Attentäter wollte getötet werden, damit wir sein Kreuz finden und uns irreführen lassen?« höhnte er.

Fidelma bemerkte Eadulfs beschämte Miene und kam ihm zu Hilfe.

»Vielleicht wollte der Attentäter es da fallenlassen, wo wir es finden würden«, sagte sie, wenn auch ohne Überzeugung, und wandte sich rasch den Kleidungsstücken zu.

»Grober Stoff. Nichts deutet auf die Herkunft hin. Sie könnten überall hergestellt worden sein. Zwei Le-derbeutel. Ein paar Münzen darin, doch von geringem Wert. Die Attentäter waren anscheinend arm. Und .«

Sie hielt inne, als ihre Finger in dem Beutel, der laut Bruder Conchobar dem älteren, fülligen Mann gehörte, einen Gegenstand erfaßten. Langsam holte sie ihn hervor.

Es war ein Kruzifix, etwa acht Zentimeter lang an einer langen Kette, beides aus funkelndem Silber. Die vier Arme des Kreuzes waren mit je einem Edelstein besetzt, ein größerer Stein zierte die Mitte. Es waren Smaragde. Das Kreuz war keine irische Arbeit, das sah man sofort, denn es war einfacher, weniger kunstvoll ziseliert als die Erzeugnisse irischer Goldschmiede.

Eadulf schaute ihr über die Schulter.

»So ein Kreuz trägt kein gewöhnliches Mitglied einer religiösen Ordensgemeinschaft«, bemerkte er.

»Auch kein Priester. Es ist bestimmt ein Bischofskreuz«, erwiderte Fidelma ehrfürchtig. »Es könnte sogar noch wertvoller sein als ein übliches Bischofskreuz.«

Загрузка...