Kapitel 6

Fidelma begegnete ihrem Vetter Donndubhain auf dem Wege zu den Ställen, als sie die Pferde für den Ritt nach Imleach besorgen wollte. Normalerweise reisten Mönche oder Nonnen unterhalb des Ranges eines Bischofs oder Abts nicht zu Pferde, doch Fidel-ma besaß diesen Rang nicht nur als Schwester des Königs, sondern auch als dalaigh. Der Thronfolger von Muman hielt verschiedene Dokumente in der Hand.

Lächelnd wies er sie seiner Kusine vor. »Das Protokoll ist aufgesetzt, wie Colgü es angeordnet hat«, erklärte er. »Ich halte das allerdings für Papierverschwendung.«

Papier, eine fernöstliche Erfindung und erst ein paar Jahrhunderte alt, war noch selten und so teuer, daß nur wenige Könige in Eireann es einführten. Gutes Pergament entsprach eher ihrem Status.

Fidelma blieb ernst. »Ich hoffe nicht, daß es verschwendet ist, Vetter«, antwortete sie.

»Willst du das Protokoll durchlesen? Du verstehst mehr von Juristerei als ich.«

»Du bist der Tanist, Vetter. Ich bin sicher, daß alles seine Richtigkeit hat. Außerdem muß ich fort. Uns bleiben nur neun Tage, um die Wahrheit herauszubekommen.«

»Die werden schon ausreichen«, beruhigte sie Donndubhain. »Ich kenne dich, Fidelma. Du hast das Talent, einen Haufen Sand durchzusieben und das eine Korn darin zu finden, das du suchst.«

»Du hast eine zu hohe Meinung von meinen Fähigkeiten.«

Donndubhain war zwei Jahre jünger als Fidelma. Als Kinder hatten sie in Cashel zusammen gespielt, bis Fidelma zum Studium fortgeschickt wurde.

Seither hatte Fidelma Donndubhain nur selten gesehen, bis sie voriges Jahr nach Cashel zurückgekehrt war, nachdem ihr Bruder König geworden und ihr Vetter zu seinem Nachfolger ernannt worden war. Sie wußte, daß Donndubhain auf ruhige und verläßliche Art ihren Bruder unterstützte. Er mochte über das Protokoll lästern, aber er verstand viel vom Rechtswesen, und die Texte waren sicher in Ordnung.

Donndubhain sah sich plötzlich um, als wolle er sich vergewissern, daß sie allein seien.

»Manchmal«, sagte er leise, »fürchte ich, daß dein Bruder sein Amt nicht ernst genug nimmt.«

»Wie meinst du das?«

»Er verläßt sich zu leicht auf das Wort anderer, ohne es zu prüfen. Er ist anständig und glaubt deshalb, alle anderen seien es auch. Er ist zu vertrauensvoll. In dieser Sache mit den Ui Fidgente zum Beispiel ist er viel zu schnell bereit, Donennach zu trauen.«

»Ach«, fragte Fidelma gespannt, »traust du ihm nicht?«

»Das kann ich mir nicht erlauben. Wenn nun Colgü zu vertrauensselig ist und Fürst Donennach plant, ihn ermorden zu lassen? Irgend jemand muß doch in der Lage sein, deinen Bruder und Cashel zu schützen.«

Fidelma mußte sich eingestehen, daß sie an so etwas auch schon gedacht hatte. Sie erinnerte sich, daß nur neun Monate zuvor die Ui Fidgente versucht hatten, Cashel zu stürzen. Das Blut in Cnoc Äine war noch kaum getrocknet, und dieser Gesinnungswandel, diese Bereitschaft, Frieden zu schließen, kam so plötzlich, so unvermutet, daß sie das Mißtrauen ihres Vetters teilte.

»Mit dir als Tanist, Vetter, hat mein Bruder nichts zu befürchten«, versicherte sie ihm.

Donndubhain blieb skeptisch. »Ich wünschte, ich könnte dir einen Trupp Krieger mitgeben«, sagte er.

»Das habe ich meinem Bruder bereits ausgeredet«, erwiderte Fidelma fest, »also nehme ich sie auch nicht von dir. Eadulf und ich haben schon gefährlichere Reisen gemacht.«

Donndubhain runzelte einen Moment die Stirn, dann breitete sich ein Lächeln über sein Gesicht. »Da hast du natürlich recht. Unser angelsächsischer Freund ist eine gute Stütze in Zeiten der Gefahr. Er hat Cashel gute Dienste geleistet, seit er hier ist. Aber er ist kein Krieger. Er ist zu langsam, wenn du einen schnellen Schwertarm brauchst.«

Fidelma errötete, als sie sich genötigt sah, Eadulf zu verteidigen. Zugleich ärgerte sie sich darüber.

»Eadulf ist ein guter Mann. Auch ein langsamer Jagdhund hat seine Vorteile«, zitierte sie ein altes Sprichwort.

»Das stimmt. Aber nimm dich vor diesem Ui Fid-gente Gionga in acht. Der gefällt mir gar nicht. Mir ist er verdächtig.«

»Da bist du nicht der einzige, Vetter«, lächelte Fi-delma. »Hab keine Angst. Ich sehe mich vor.«

»Wenn du unseren Vetter Finguine von Cnoc Äine siehst, bestell ihm Grüße von mir.«

»Das mache ich.« Fidelma wollte schon zu den Ställen gehen, wandte sich aber noch einmal um. »Hast du gesagt, daß dieser Kaufmann Samradan auf Handelsreise in der Abtei Imleach ist?«

»Ja. Er tätigt dort oft Geschäfte. Aber die Attentäter haben sich das Dach seines Lagerhauses sicher rein zufällig ausgesucht. Er kann mit der Sache nichts zu tun haben.«

»Ich glaube, das sagtest du schon mal. Bist du Kunde bei ihm?«

»Ja, ich habe ein paar silberne Schmuckstücke von ihm gekauft.« Er berührte seine Silberspange. »Warum?«

»Ich kenne den Mann nicht. Stammt er von hier?«

»Er wohnt hier seit ein paar Jahren. Wie lange genau, weiß ich nicht, auch nicht, wo er herkommt.«

»Es ist nicht wichtig«, meinte Fidelma. »Wie du schon sagst, er kann mit der Sache nichts zu tun haben. Jetzt muß ich fort. Wir sehen uns alle in neun Tagen wieder.«

Donndubhain hielt die Papiere hoch und lächelte.

»Wir passen auf deinen Bruder auf, bis du zurück bist. Das verspreche ich dir. Sichere Reise, Kusine, und komm bald wieder.«

Die Wolken, die am Vormittag den Himmel bedeckten, hatten sich gelichtet. Nun trieben nur noch lockere weiße Schäfchenwolken langsam im Himmelsblau dahin und ließen ab und zu die Nachmittagssonne durch, die die Wiesen erwärmte. Es wehte eine leichte Brise, doch die Luft war angenehm und mild.

Fidelma und Eadulf hatten eine Gabelung des Flusses Suir ungefähr vier Meilen westlich von Cashel erreicht. Dort führte eine Holzbrücke über den schnell dahinströmenden Wasserlauf. Sie stützte sich auf eine kleine Insel in der Mitte des Flusses, die auch eine winzige befestigte Ansiedlung trug, die diesen Zugang nach Cashel deckte. Sie war jetzt nicht bewohnt, denn seit vielen Jahren hatte sich kein feindliches Heer mehr der Hauptstadt der Eoghanacht so weit genähert. An beiden Enden der Brücke bedeckte Wald die Ufer des Flusses. Soviel Eadulf wußte, war dies die einzige Straße von Cashel nach Westen. Jenseits des Flusses kreuzte sie die großen Straßen nach Norden und Süden.

Fidelma ritt ihre weiße Stute aus dem Stall ihres Bruders, Eadulf folgte ihr auf einem jungen Rotfuchs. Mitten auf der Brücke parierte Fidelma ihr Pferd.

»Was ist?« fragte Eadulf.

Fidelma hatte eine Bewegung in der Befestigung erspäht. Dort, wo die Brücke die Insel erreichte, traten zwei Bogenschützen mit gespannten Bogen aus dem Schatten der Bäume. Ihre Pfeile waren auf sie gerichtet. Ein dritter Krieger, dessen Schild das Wappen eines aufgerichteten Ebers trug, stellte sich zwischen die Bogenschützen, das Schwert lässig in der rechten Hand, doch sorgfältig darauf bedacht, den Schützen nicht das Schußfeld zu versperren.

Fidelma kniff die Augen zusammen.

»Paß auf, Eadulf«, sagte sie leise. »Der Krieger trägt das Wappen der Ui Fidgente.«

Sie ritt ein paar Schritte vor.

»Halt!« rief der Krieger in der Mitte und hob das Schwert. »Keinen Schritt weiter!«

»Wer erteilt hier Befehle auf dieser Brücke in Sicht des Palasts des Königs von Cashel?« fragte sie zornig.

Der Krieger lachte grimmig. »Einer, der Leute daran hindert, sie zu passieren, Schwester«, erwiderte er spöttisch.

»Laß dir sagen, daß ich eine dalaigh bin und du kein Recht hast, mir den Übergang zu verweigern«, rief sie verärgert.

Der Mann änderte seine Haltung nicht. »Ich weiß sehr wohl, wer du bist, Schwester Colgüs. Und ich kenne auch den Lümmel von Angelsachsen da neben dir.«

»Wenn du das weißt, Ui Fidgente, dann mußt du auch wissen, daß du kein Recht hast, eine offene Straße in diesem Königreich zu sperren.«

Der Krieger wies auf die Bogenschützen neben ihm. »Die geben mir das Recht.«

»Und wer gibt dir den Befehl dazu?«

»Lord Gionga, der Kommandeur der Leibwache des Fürsten Donennach. Niemand passiert diese Brücke bis zur Verhandlung in Cashel. So lautet der Befehl meines Herrn, um neue Verschwörungen gegen den Fürsten der Ui Fidgente zu verhindern.«

Fidelma überlegte sehr schnell. Also hatte Gionga eine Wache aufgestellt, damit sie nicht nach Imleach gelangen konnte? Über die Brücke führte der einzige kurze Weg nach Imleach. Woher wußte Gionga von ihrer Reise und warum wollte er sie vereiteln? Was für Entdeckungen hatte er zu fürchten?

»Die Brücke ist für euch gesperrt«, erklärte der Krieger ohne weitere Begründung. »Reitet zurück nach Cashel.«

»Die Wache meines Bruders wird diese Barriere bald öffnen«, entgegnete sie.

Mit ausdrucksvoller Pantomime schaute der Krieger in alle Richtungen. »Ich sehe nichts von der Wache deines Bruders«, spottete er.

Fidelma hatte sich nicht nur die Bogenschützen und ihren Kommandeur genau angesehen, sondern auch bemerkt, daß sich anscheinend mehr als ein Dutzend andere Krieger der Ui Fidgente in der Befestigung aufhielten. Es hatte keinen Zweck, sich weiter mit ihnen zu streiten.

Sie wendete ihre Stute vorsichtig auf der Brücke und ritt im Schritt zurück zu Eadulf. Die Hufe klangen auf den Holzbohlen wie Trommelschlag.

»Folge mir«, sagte sie leise. »Hast du alles gehört, was zwischen mir und dem Krieger der Ui Fidgente gesprochen wurde?«

Eadulf bestätigte das und ritt ihr widerspruchslos nach. Er hatte ein unbehagliches Gefühl in seinem Rücken, den er den schußbereiten Bogenschützen als Ziel darbot.

»Das scheint die Annahme zu bestätigen, daß es sich um eine Verschwörung der Ui Fidgente handelt«, flüsterte er, als sie außer Reichweite waren. »Gionga will wohl mit allen Mitteln verhindern, daß wir in Cnoc Äine nach Beweisen suchen. Damit ist seine Schuld eigentlich schon erwiesen.«

»Das ist es eben, was mir Sorgen macht. Gionga muß doch wissen, daß es nicht lange dauern würde, bis unsere Krieger in Cashel alarmiert werden und die Männer hier verjagen. Die logische Folgerung wäre, daß die Ui Fidgente mit diesem Vorgehen ihre Schuld eingestanden haben.«

»Nun, sie haben jedenfalls eins erreicht, daß wir nämlich heute abend nicht mehr nach Imleach gelangen. Es sind vier Meilen zurück nach Cashel.«

»Wir werden heute abend dort sein«, erklärte Fi-delma fest und zuversichtlich. »Wenn wir die Wegbiegung dort passiert haben und außer Sicht der Männer auf der Brücke sind, kommen wir an einen Weg, der rechts abgeht und nach Süden führt. Den schlagen wir ein.«

»Nach Süden? Ich dachte, das wäre meilenweit die einzige Brücke über den Fluß?«

Fidelma kicherte. »Das ist sie auch.«

»Also dann ...?«

»Rasch, hier ist der Weg.«

Mit der Bezeichnung Weg tat man ihm zuviel Ehre. Es war nichts weiter als ein schmaler Pfad, den ein Pferd mit Mühe beschreiten konnte, wobei es an jeder Seite Büsche und Zweige streifte. Er führte mitten in den dichten Waldstreifen am Ufer des Flusses hinein.

»Was jetzt?« fragte Eadulf, als er sein junges Pferd in die dunkle Pflanzenwirrnis hineintrieb.

»Ungefähr eine halbe Meile weiter südlich kommen wir aus dem Wald heraus in offenes Bruchland. Ich gehe voran, denn dort müssen wir unsere Pferde führen. Noch eine halbe Meile weiter südlich erreichen wir eine Furt, die nicht viele Leute kennen. Sie heißt Atha Asail, die Eselsfurt. Der Übergang ist schwierig, aber wir schaffen es schon. Dadurch verzögert sich unsere Reise kaum.«

»Bist du sicher, daß das der beste Weg ist?« jammerte Eadulf und dachte an die strudelnden Wasser des schnellen Flusses. Er hatte zwar schon zahllose gefährliche Situationen gemeistert, aber er suchte die Gefahr nicht. Er glaubte nicht an das angelsächsische Sprichwort, daß Gefahr und Vergnügen auf demselben Stengel wachsen. Eadulf hielt es mehr mit Lucretius: Er fand es angenehm, wenn Stürme die Wogen aufwühlten, vom sicheren Land aus die Gefahren anderer zu betrachten.

»Ich habe die Eselsfurt schon als Kind benutzt«, versicherte ihm Fidelma. »Sie ist nicht gefährlich, wenn man sich in acht nimmt. Wenn du dich ablenken willst, denk doch mal darüber nach, wie Gionga herausbekommen haben könnte, daß wir nach Imleach wollen.«

Eadulf runzelte die Stirn. Die Überlegung hatte er noch nicht angestellt. »Vielleicht hat er mitgehört, wie wir mit deinem Bruder darüber sprachen? Oder er hat gehört, wie du beim alten Bruder Conchobar eine Zeichnung des Kruzifixes bestellt hast? Oder er hat nur gesehen, wie wir die Pferde sattelten, und einfach gut geraten?«

Fidelma schnalzte mißbilligend mit der Zunge. »Du bist keine große Hilfe«, schalt sie ihn, »denn du sprichst nur die Fragen aus, die ich mir auch schon gestellt habe. Ich brauche aber Antworten. Deine letzte Frage habe ich bereits verneint, denn in dem Fall hätte er weder die Zeit gehabt, seine Leute zu der Brücke zu schicken, noch sie durch einen Boten zu warnen, falls sie schon da waren. Er wußte schon eine Weile vor unserem Aufbruch, wohin wir wollten.«

»Dann brauchst du einen Propheten, der dir die Antworten gibt«, brummte Eadulf, verärgert durch die an ihm zerrenden Dornen und Zweige und durch seine Furcht vor dem Übergang über den rauschenden Fluß. »Du hättest deinen alten Freund und Zauberer Bruder Conchobar danach fragen sollen.«

»Warum nennst du ihn einen Zauberer?« fragte Fi-delma.

Eadulf stöhnte, als eine Dornenranke ihm den Knöchel ritzte. »Weil er aus den Sternen weissagt - das tut er doch? Wie kann er ein Christ sein wollen und so etwas tun?«

»Liegt darin ein Widerspruch?« überlegte Fidelma.

Eadulf reagierte zunehmend gereizt. »Was denn sonst?«

»Karten der Sterne zeichnen und ihre Bedeutung erforschen ist eine alte Tradition in diesem Land.«

»Der neue Glaube sollte solche heidnischen Überlieferungen auslöschen. Heißt es nicht im Buch Jesaja:

>Laß hertreten und dir helfen die Meister des Himmelslaufs und die Sterngucker, die nach den Monaten rechnen, was über dich kommen werde.

Siehe, sie sind wie Stoppeln, die das Feuer verbrennt; sie können ihr Leben nicht erretten vor der Flamme; denn es wird nicht eine Glut sein, dabei man sich wärme, oder ein Feuer, darum man sitzen möge.

... und du hast keinen Helfer.<«

Fidelma lächelte leise, wie immer, wenn Eadulf theologisch argumentierte, denn da er der neuen Lehre Roms anhing, ergaben sich viele Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen in ihrer Einstellung zum Glauben. Fidelma blieb bei ihrer eigenen Kultur.

»Du zitierst aus den alten Texten des jüdischen Glaubens«, erklärte sie.

»Aus dem unser Herr als Messias kam«, entgegnete Eadulf spitz.

»Genau. Er kam als Messias, als Erlöser, um ihnen einen neuen Weg zum Verständnis Gottes zu weisen. Wer waren laut Matthäus die ersten, die nach der Geburt Christi nach Jerusalem kamen?«

»Wer?« fragte Eadulf ratlos. Er wußte nicht, worauf sie hinauswollte.

»Astrologen aus dem Osten, die den Heiland suchten, denn sie hatten sein Kommen in ihren Himmelskarten gelesen. Hat nicht König Herodes versucht, ihnen ihre Kenntnis zu entlocken? Astrologen waren die ersten, die nach Bethlehem kamen und den Heiland anbeteten und ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe brachten. Hätte Gott die Astrologie verdammt, wäre es dann Astrologen erlaubt worden, Ihn als erste auf Erden zu begrüßen?«

Eadulf errötete gereizt. Fidelma wußte stets ein gutes Gegenargument, wenn er etwas zu behaupten versuchte, womit sie nicht übereinstimmte.

»Nun«, fuhr er störrisch fort, »im fünften Buch Mose heißt es deutlich: >. daß du auch nicht deine Augen aufhebest gen Himmel und sehest die Sonne und den Mond und die Sterne, das ganze Heer des Himmels, und fallest ab und betest sie an und dienest ihnen ...<«

»>. welche der Herr, dein Gott, verordnet hat allen Völkern unter dem ganzen Himmel<«, fügte Fidelma mit Betonung hinzu. »Du wolltest doch sicher den ganzen Vers aus dem fünften Buch Mose zitieren, Ea-dulf? Jedenfalls beten Astrologen die Sonne, den Mond und die Sterne nicht an und dienen ihnen nicht, sondern benutzen sie als Führer. Unsere Astrologen meinen, wir könnten den Lauf unserer Sterne ebensowenig ändern wie unsere Gesichtszüge und die Farbe unserer Haare und Augen. Doch wir besitzen den freien Willen, nach Belieben mit den Dingen zu verfahren, die uns gegeben sind.«

Eadulf seufzte tief. Er hatte genug von dem Thema und wünschte, er hätte es nicht aufgegriffen. Fidelma hingegen genoß solche Dispute und scheute sich nicht, dabei auch den Anwalt des Teufels zu spielen.

»Es widerspricht der Lehre ...«, begann er.

»Zeig mir einen klaren Hinweis in der Heiligen Schrift, der es Christen verbietet, sich dieser alten Wissenschaft zu widmen, abgesehen von ein paar obskuren Stellen .«

»Jeremia«, erinnerte sich Eadulf plötzlich.

»>Höret, was der Herr zu euch vom Hause Israel redet.

So spricht der Herr: Ihr sollt nicht der Heiden Weise lernen und sollt euch nicht fürchten vor den Zeichen des Himmels, wie die Heiden sich fürchten ...<«

»Was Israel tat, bevor der Messias kam, ist Israels Sache. Aber wir kommen von den Heiden her, und Je-remia gesteht immerhin ein, daß es Zeichen des Himmels gibt, wenn wir uns auch nicht vor ihnen fürchten, sondern sie lediglich zu deuten und zu verstehen suchen. Doch wenn es Zeichen des Himmels gibt, wer hat sie dort gesetzt? Wäre es nicht Blasphemie zu behaupten, eine andere Hand als die Gottes habe das getan?«

Eadulfs Gesicht war rot vor Ärger. Er wollte schon zornig auffahren, doch statt dessen begann er plötzlich zu lachen. »Wie komme ich nur darauf, daß ich einen Disput mit einer Anwältin gewinnen könnte?« meinte er kopfschüttelnd.

Nach einem Moment des Zögerns stimmte Fidelma in sein Lachen ein. »Castigat ridendo mores«, brachte sie leise eins ihrer Lieblingszitate an. Man verbessert die Sitten, indem man über sie lacht.

Plötzlich kamen sie aus dem Wald heraus auf ein weites Röhricht. Ihre Pferde scheuchten eine Schar kleiner Vögel auf, die geschlossen aufflogen und mit klingenden »pingping«-Lauten davonschossen. Sie sammelten sich zu einer ganzen Wolke, kreisten niedrig über dem Schilf, um die Gefahr abzuschätzen, und ließen sich dann wieder auf den hohen fiedrigen Schilfhalmen mit ihren dunkelbraunen Blüten und scharfkantigen Blättern nieder.

»Schilfmeisen«, erklärte Fidelma. »Unsere Pferde haben sie gestört.«

Eadulf hörte das Rauschen des Flusses ganz in der Nähe.

»Können uns die Krieger von der Brücke her sehen?« fragte er, denn wenn auch das Schilf stellenweise drei Meter hoch war, so wuchs es an dem Pfad, der sich zum offenen Fluß schlängelte, viel niedriger, und die Ufer waren von Rohrglanzgras gesäumt, einer kleineren Art.

»Nein. Der Fluß macht eine leichte Biegung, und die verbirgt uns. Außerdem werden sie glauben, wir wären nach Cashel zurückgekehrt, um die Krieger meines Bruders zu holen.«

Vorsichtig ritt sie an Eadulf vorbei und übernahm die Führung.

»Halte dich genau hinter mir und komme nicht vom Pfad ab. Der Grasboden sieht zwar fest aus, ist aber Morast, und es sind schon mal Leute darin versunken.«

Eadulf konnte ein Schaudern nicht unterdrücken, als er sich umsah.

Fidelma verzog das Gesicht, als er blaß wurde.

»Das Leben beschert uns immer wieder Risiken und Gefahren, also faß Mut«, riet sie ihm fröhlich und ritt zuversichtlich los. Ihr Pferd suchte sich den Weg durch das hohe, schwankende Schilf, das gegen den Himmel so wild und dramatisch wirkte. Eadulf erkannte, daß das Bruch aus einem Wirrwarr von Pflanzen bestand. Was er für reines Schilf gehalten hatte, war untermischt mit Riedgras, Sumpfbinsen und lange abgeblühten Rohrkolben. Das Ganze schimmerte in eigenartigen grünen, braunen und gelben Farben.

Die Schilfmeisen flogen nur noch in kleinen Gruppen von ihren Nestern auf. Ihre winzigen hellbraunen Körper, selbst die Männchen mit ihrer schwarzen Zeichnung, waren kaum auszumachen.

Das Rauschen des Flusses wurde immer lauter, und Eadulf begriff, daß das Wasser hier über eine Reihe flacher Stellen schoß und die Strömung sich an Felsen mitten im Flußbett brach.

Fidelma lenkte ihr Pferd vorsichtig den Pfad entlang. Selbst im Sattel spürte Eadulf den federnden Boden unter den Hufen, und er betete, sein Pferd möge nicht stolpern und ihn in den dunklen Morast zu beiden Seiten des Weges schleudern. Fidelma, eine ausgezeichnete Pferdekennerin, hatte ihm den jungen Rotfuchs ausgesucht, weil er eins der lammfrommsten Tiere im Stall ihres Bruders war und weil sie wußte, daß Eadulf kein besonders guter Reiter war.

Sie kamen aus dem schwankenden Schilf auf das üppige Grün der Uferböschung hinaus, dessen Grasboden auch noch stark federte. Vor sich sahen sie den breiten Suir.

Sorgenvoll betrachtete Eadulf das schnell dahinströmende Wasser, das gelblich um die Felsen im Flußbett schäumte.

»Wie tief ist es?«

Fidelma lächelte ihm ermutigend zu. »Es reicht deinem Pferd bis zur Brust. Laß die Zügel locker und versuch das Pferd nicht zu lenken. Der Fuchs hat Verstand, er sucht sich seinen Weg durch die Schnellen. Ich reite voraus.«

Sogleich trieb sie ihre Stute ins Wasser. Anfangs war das Tier unsicher, schüttelte den Kopf und rollte die Augen. Dann ging es vorsichtig los, stolperte ein paarmal, fing sich aber sofort wieder. In der Strommitte wirbelte ihm das Wasser bis zur Brust und Fi-delma um die Unterschenkel.

Sie wandte sich im Sattel um und winkte Eadulf, ihr zu folgen.

Eadulf blickte auf das wilde, weiß schäumende Wasser und war beinahe gelähmt von Furcht. Er sah Fidelma energisch winken und merkte, wie seine Hände zitterten. Er wollte nicht in diese tobende Sintflut. Er spürte Fidelmas Blick und hatte nicht den Mut, seine Feigheit zuzugeben.

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