ELFTES KAPITEL, in welchem Warja in die höchsten Sphären der Politik vordringt

»Times« (London)

vom 16. (4.) Dezember 1877

Derby und Carnarvon drohen mit Rücktritt

»Aufder gestrigen Kabinettssitzung schlug Graf Beaconsfield vor, vom Parlament einen außerordentlichen Kredit von 6 Millionen Pfund Sterling zu fordern, mit denen ein Expeditionskorps ausgerüstet werden soll, das binnen kurzer Zeit auf den Balkan geschickt werden kann, um die Interessen des Imperiums gegen die unmäßigen Ansprüche Zar Alexanders zu verteidigen. Der Beschluß wurde angenommen gegen den Widerstand des Ministers für Auswärtige Angelegenheiten Lord Derby und des Staatssekretärs für die Kolonien Lord Carnarvon, die sich gegen eine direkte Konfrontation mit Rußland wandten. Beide Minister waren in der Minderheit und reichten Ihrer Majestät ein Rücktrittsgesuch ein. Die Reaktion der Königin steht noch aus.«

Für die Parade in allerhöchster Anwesenheit hatte Warja sich herausstaffiert, also würde sie vor dem Zaren nicht wegen ihres Aufzugs erröten müssen (auch wenn die Feldzugsbedingungen Abstriche erzwangen) - das ging ihr als erstes durch den Kopf. Blaßlila Hut mit Moireschleife und Schleier, violettes Reisekleid mit besticktem Mieder und gemäßigter Schleppe, schwarze Schuhe mit Perlmuttknöpfen. Bescheiden, nicht extravagant, aber anständig - dank den Bukarester Läden.

»Wird man uns auszeichnen?« fragte sie unterwegs.

Fandorin hatte sich auch in Gala geworfen: Hose mit Bügelfalte, die Stiefel spiegelblank gewienert, im Knopfloch des gebügelten Gehrocks ein kleiner Orden. Unbestreitbar, der Titularrat sah gar nicht übel aus, nur war er gar zu jung.

»Wohl kaum.«

»Warum nicht?« fragte Warja verwundert.

»Zuviel der Ehre«, antwortete Fandorin nachdenklich. »Noch sind nicht alle G-generäle ausgezeichnet worden, wir kommen erst an sechzehnter Stelle.«

»Aber wenn nicht wir beide ... Das heißt, ich will sagen, ohne Sie wäre Osman Pascha doch durchgebrochen! Können Sie sich vorstellen, was dann gewesen wäre?«

»K-kann ich. Aber nach dem Sieg wird an so was gewöhnlich nicht gedacht. Nein, hier riecht es nach Politik, glauben Sie meiner Erfahrung.«

Der »Feldpalast« hatte nur sechs Zimmer, darum mußte die Vortreppe als Empfangssalon herhalten. Hier standen bereits ein Dutzend Generäle und ranghohe Offiziere, die darauf warteten, vor die allerhöchsten Augen treten zu dürfen. Sie alle sahen dümmlich-freudig aus - es roch nach Orden und Beförderungen. Warja wurde mit begreiflicher Neugier angestarrt. Sie blickte hochmütig über die Köpfe hinweg auf die niedrige Wintersonne. Mochten die alle sich den Kopf zerbrechen, wer die verschleierte junge Dame war und weshalb sie hier zur Audienz erschien.

Das Warten zog sich in die Länge, aber es war überhaupt nicht langweilig.

»Wer ist da so lange drin, General?« fragte sie hoheitsvoll einen großgewachsenen alten Herrn mit zottigem Schnurrbart.

»Sobolew«, sagte der General mit wichtiger Miene. »Schon eine halbe Stunde.« Er nahm Haltung an, berührte einen nagelneuen Orden am schwarz-orangenen Band auf seiner Brust. »Verzeihen Sie, gnädige Frau, ich habe mich nicht vorgestellt. Iwan Stepanowitsch Ganezki, Befehlshaber des Grenadierkorps.« Und verstummte abwartend.

»Warwara Andrejewna Suworowa.« Sie nickte ihm zu. »Freut mich sehr.«

Aber da mischte sich Fandorin gegen seine sonstige Gepflogenheit unhöflich ins Gespräch.

»Sagen Sie, General, war vor dem Sturmangriff der K-korrespondent der >Daily Post< MacLaughlin bei Ihnen?«

Ganezki warf einen mißmutigen Blick auf den zivilen Milchbart, aber er kalkulierte wohl, daß dieser nicht umsonst zum Zaren gebeten wurde, und antwortete höflich: »Ja, war er. Seinetwegen ist ja alles gekommen.«

»Was denn?« fragte Fandorin mit begriffsstutziger Miene.

»Haben Sie es noch nicht gehört?« Der General erklärte es wohl zum wiederholten Mal. »Ich kenne MacLaughlin von Petersburg. Ein ernsthafter Mensch und Freund Rußlands, obwohl Untertan der Königin Victoria. Er sagte mir, daß jeden Moment Osman Paschas Leute bei mir erscheinen würden, um die Kapitulation zu überbringen, und da habe ich sofort Meldegänger nach vorn geschickt, damit Gott behüte nicht geschossen wird. Und ich alter Esel habe in aller Eile den Paraderock angelegt.« Der General lächelte verlegen, und Warja fand ihn schrecklich sympathisch. »Die Türken haben unsere Vorposten ohne einen Schuß gefangengenommen. Zum Glück haben meine Jungs, die Grenadiere, mich nicht im Stich gelassen, sie haben sich gehalten, bis Sobolew in Osman Paschas Rücken zugeschlagen hat.«

»Wo ist MacLaughlin abgeblieben?« fragte der Titularrat und sah Ganezki mit kalten blauen Augen durchdringend an.

»Ich habe ihn nicht mehr gesehen.« Der General zuckte die Achseln. »Ich hatte anderes im Kopf. Was da losging - Gott soll schützen. Die Baschi-Bosuks waren schon fast beim Stab, ich konnte mich gerade noch in Sicherheit bringen mit meinem Paraderock.«

Die Tür wurde aufgerissen, und auf der Vortreppe erschien Sobolew, sein Gesicht war gerötet, und die Augen hatten einen besonderen Glanz.

»Wozu darf ich gratulieren, Michail Dmitrijewitsch?« fragte ein General von kaukasischem Aussehen, er trug einen Tscherkessenrock mit vergoldeten Patronentaschen.

Alle hielten den Atem an, doch Sobolew hatte es nicht eilig mit der Antwort, er machte eine effektvolle Pause, blickte von einem zum anderen, zwinkerte Warja fröhlich zu.

Aber sie erfuhr nicht, womit der Imperator den Helden von Plewna beschenkt hatte, denn hinter dem Olympier zeigte sich die banale Physiognomie von Lawrenti Misinow. Der oberste Gendarm des Imperiums winkte Fandorin und Warja mit dem Finger zu sich. Das Herz pochte wie verrückt.

Als Warja an Sobolew vorbeiging, flüsterte er: »Warwara Andrejewna, ich warte auf Sie.«

Von der Diele gelangten sie unmittelbar in das Adjutantenzimmer, wo an Schreibtischen der diensthabende General und zwei Offiziere saßen. Rechts lagen die Privaträume des Imperators, links war das Arbeitszimmer.

»Auf Fragen ist laut, deutlich und erschöpfend zu antworten«, instruierte Misinow sie im Gehen. »Ausführlich, aber ohne abzuschweifen.«

In dem schlichten Kabinett, das mit Möbeln aus karelischer Birke eingerichtet war, befanden sich zwei Männer: Der eine saß in einem Sessel, der andere stand mit dem Rücken zum Fenster. Warja warf natürlich den ersten Blick auf den Sitzenden, aber das war nicht Alexander, sondern ein mageres Männlein mit Goldrandbrille, einem klugen dünnlippigen Gesicht und eisigen Augen, die keinen Blick nach innen ließen - der Staatskanzler Fürst Kortschakow in eigener Person, und er sah genauso aus wie auf den Porträts, nur etwas subtiler. Eine in gewisser Hinsicht legendäre Persönlichkeit. Er war Außenminister gewesen, als Warja noch gar nicht auf der Welt war. Doch die Hauptsache - er hatte zusammen mit Puschkin das Lyzeum von Zarskoje Selo besucht. Über ihn stand geschrieben: »Der Mode Zögling, Freund der großen Welt, der Sitten glänzender Beobachter.« Jedoch mit seinen achtzig ließ »der Mode Zögling« eher an ein anderes Gedicht denken, das im Lehrplan der Gymnasien stand:

Wer von euch muß auf seine alten Tage den Tag der Schule feiern ganz allein?

Der Unglückliche! Unter jungen Leuten wird er dann lästig, überflüssig sein, gedenkt noch unser und der schönen Zeiten,

hält vor die Augen zitternd seine Hand ...

Die Hand des Kanzlers zitterte wirklich. Er holte ein Batisttüchlein aus der Tasche und schneuzte sich, was ihn jedoch nicht hinderte, aufs zudringlichste zuerst Warja zu mustern und dann Fandorin, auf dem er den Blick besonders lange verharren ließ.

Warja, die vom Anblick des Lyzeumsschülers von Zarskoje Selo ganz verzaubert war, hatte die wichtigste anwesende Person ganz vergessen. Verlegen wandte sie sich nach dem Fenster um, überlegte ein wenig und machte einen Knicks - wie im Gymnasium, wenn die Direktorin die Klasse betrat.

Der Imperator bekundete, anders als Kortschakow, mehr Interesse für sie als für Fandorin. Die berühmten Romanow-Augen - durchdringend, magnetisierend und vorstehend - blickten streng und fordernd. Sie dringen einem bis in die Seele, so nennt man das, dachte Warja und war ein wenig erbost. Sklavenpsychologie und Vorurteile. Er imitiert einfach den »Basiliskenblick«, auf den sein Papa so stolz war, im Grabe soll er sich umdrehen. Und sie musterte nun auch demonstrativ den Mann, nach dessen Willen das ganze Reich mit seinen achtzig Millionen Untertanen lebte.

Erste Beobachtung: ein Greis! Geschwollene Lider, Backenbart und aufgezwirbelter Schnauz stark angegraut, die Finger knotig, podagrisch. Stimmt ja auch - nächstes Jahr wird er sechzig. Fast so alt wie die Großmutter.

Zweite Beobachtung: nicht so gütig, wie die Zeitungen schreiben. Eher gleichgültig, müde. Er hat schon alles auf der Welt gesehen, wundert und freut sich über nichts mehr so richtig.

Dritte Beobachtung, die interessanteste: Trotz seines Alters und seiner kaiserlichen Würde ist er dem weiblichen Geschlecht gegenüber nicht gleichgültig. Warum sonst, Euer Majestät, lassen Sie den Blick über meine Brust und Taille streichen? Wahrscheinlich stimmt es, was über ihn und die halb so alte Fürstin Dolgorukowa geredet wird. Und Warja verlor nun endgültig die Scheu vor dem Befreierzaren.

»Euer Majestät, das ist der besagte Titularrat Fandorin. Und seine Assistentin, Fräulein

Suworowa.« So stellte der Chef der Gendarmerie sie vor.

Der Zar sagte nicht »guten Tag«, nickte nicht einmal. In Ruhe beendete er die Besichtigung von Warjas Figur, dann wandte er den Kopf zu Fandorin und sagte halblaut mit Schauspielerstimme: »Ich weiß, Asasel. Sobolew hat ihn soeben auch erwähnt.«

Er setzte sich an den Schreibtisch und nickte Misinow zu.

»Fang an. Michail Alexandrowitsch und ich hören zu.«

Er könnte ja einer Dame einen Stuhl anbieten, auch wenn er Imperator ist, dachte Warja mißbilligend und ließ den Glauben an das monarchistische Prinzip endgültig und unwiederbringlich fahren.

»Wieviel Zeit habe ich?« fragte der General ehrerbietig. »Ich weiß, Majestät, wie sehr Sie heute beschäftigt sind. Und die Helden von Plewna warten.«

»Es ist soviel Zeit, wie gebraucht wird. Das ist ja nicht nur eine strategische, sondern auch eine diplomatische Frage«, dröhnte der Imperator und warf einen freundlichen Blick auf Kortschakow. »Michail Alexandrowitsch ist extra aus Bukarest gekommen, hat die alten Knochen in der Kutsche durchrütteln lassen.«

Der Fürst verzog den Mund zu einem Lächeln ohne das geringste Anzeichen von Heiterkeit, und Warja entsann sich, daß den Kanzler vor Jahresfrist eine persönliche Tragödie getroffen hatte - sein Sohn oder sein Enkel war gestorben.

»Seien Sie mir nicht gram, Lawrenti Arkadjewitsch«, sagte der Kanzler mit trauriger Stimme. »Ich hege Zweifel. Das ist gar zu abenteuerlich, selbst für Herrn Disraeli. Und die Helden können warten. Das Warten auf eine Auszeichnung ist der angenehmste Zeitvertreib. Also reden Sie, wir sind ganz Ohr.«

Misinow reckte schneidig die Schultern und wandte sich überraschend nicht an Fandorin, sondern an Warja: »Frau Suworowa, erzählen Sie ausführlich von Ihren beiden Begegnungen mit dem Korrespondenten der >Daily Post<, James MacLaughlin - während des dritten Sturmangriffs auf Plewna und vor dem Ausbruch Osman Paschas.«

Warum nicht - Warja erzählte.

Der Zar und der Kanzler verstanden zuzuhören, wie sich herausstellte. Kortschakow unterbrach sie nur zweimal.

Das erste Mal: »Was für ein Graf Surow? Etwa der Sohn von Alexander Platonowitsch?«

Das zweite Mal: »Also, MacLaughlin und Ganezki waren gut miteinander bekannt, wenn er ihn mit Vor- und Vatersnamen anredete?«

Der Imperator schlug gereizt mit der flachen Hand auf den Tisch, als Warja davon sprach, daß viele Journalisten sich in Plewna Informanten zugelegt hatten.

»Du hast mir noch nicht erklärt, Misinow, wie es kam, daß Osman seine ganze Armee zusammenziehen konnte, ohne daß deine Spione es meldeten.«

Der Chef der Gendarmerie machte aufgeregt Anstalten, sich zu rechtfertigen, aber Alexander winkte ab.

»Später. Sprich weiter, Suworowa.«

»Sprich weiter« - wie finde ich das? Selbst in der ersten Klasse bin ich mit »Sie« angeredet worden. Warja machte eine demonstrative Pause, brachte dann aber doch ihre Erzählung zu Ende.

»Ich glaube, das Bild ist jetzt klar«, sagte der Zar mit einem Blick auf Kortschakow. »Schuwalow soll eine Note vorbereiten.«

»Ich bin nicht sicher«, antwortete der Kanzler. »Hören wir die Schlußfolgerungen des ehrenwerten Lawrenti Arkadjewitsch.«

Warja bemühte sich vergeblich, zu verstehen, weshalb es zwischen dem Imperator und seinem obersten diplomatischen Berater eine Unstimmigkeit gab. Misinow schaffte Klarheit.

Er entnahm dem Ärmelaufschlag ein paar Papierblätter, räusperte sich und sprach wie ein Streber in der Schule: »Wenn Sie gestatten, komme ich vom Besonderen zum Allgemeinen. Also. Vor allem muß ich mich schuldig bekennen. Während der ganzen Zeit, in der die Armee Plewna belagerte, agierte gegen uns ein listiger, grausamer Feind, den mein Dienst nicht rechtzeitig zu enttarnen vermochte. Durch die Ränke dieses sorgfältig konspirierenden Feindes haben wir viel Zeit und viele Menschen verloren, und am dreißigsten November wären wir beinahe um die Früchte unserer monatelangen Bemühungen gebracht worden.«

Bei diesen Worten bekreuzigte sich der Imperator.

»Gott hat Rußland gerettet.«

»Nach dem dritten Sturmangriff haben wir - genauer, ich, denn es waren meine Überlegungen - einen ernsten Fehler begangen. Wir haben Oberstleutnant Kasansaki für den wichtigsten Agenten der Türken gehalten und damit dem wahren Schuldigen volle Handlungsfreiheit eingeräumt. Heute steht außer Zweifel, daß uns von Anfang an der britische Untertan MacLaughlin geschadet hat. Er ist unstrittig ein Spitzenagent, ein außergewöhnlicher Schauspieler, der sich lange und gründlich auf seine Mission vorbereitet hat.«

»Wie ist dieses Subjekt überhaupt zur kämpfenden Armee gekommen?« fragte der Zar unzufrieden. »Habt ihr den Korrespondenten ohne jede Überprüfung Visa erteilt?«

»Eine Überprüfung hat es selbstverständlich gegeben, eine sehr gründliche sogar.« Der Chef der Gendarmerie breitete die Arme aus. »Von jedem ausländischen Journalisten haben wir bei den Redaktionen eine Publikationsliste angefordert, außerdem haben wir bei unseren Botschaften Erkundigungen eingeholt. Jeder dieser Zeitungsleute ist ein bekannter Mann, hat einen Namen, ist nicht durch Feindschaft gegen Rußland aufgefallen. Das trifft ganz besonders auf MacLaughlin zu. Ein sehr gründlicher Herr. Er hat schon während des Feldzugs in Mittelasien mit vielen russischen Generälen und Offizieren freundschaftliche Beziehungen geknüpft. Seine Reportagen über die türkischen Greuel in Bulgarien im vorigen Jahr haben ihm die Reputation eines Freundes der Slawen und eines aufrichtigen Anhängers Rußlands eingetragen. Doch in der ganzen Zeit hat er sicherlich nach geheimen Instruktionen seiner Regierung gehandelt, die bekanntlich unserer Orientpolitik mit offener Feindseligkeit begegnet.

Anfangs hat sich MacLaughlin auf reine Spionagetätigkeit beschränkt. Er hat natürlich Informationen über unsere Armee nach Plewna übermittelt und dazu die Bewegungsfreiheit genutzt, die wir den ausländischen Journalisten voreilig einräumten. Ja, viele von ihnen besaßen, von uns nicht kontrolliert, Kontakte in der belagerten Stadt, und das hat bei unserer Spionageabwehr keinerlei Verdacht erregt. Für die Zukunft werden wir entsprechende Schlußfolgerungen ziehen. Ich nehme die Schuld auf mich ... MacLaughlin hat sich, solange es ging, fremder Hände bedient. Euer Majestät werden sich an den Vorfall mit dem rumänischen Oberst Lucan erinnern, in dessen Notizbuch ein geheimnisvolles J vorkam. Ich hatte voreilig angenommen, es ginge um den Gendarmen Kasansaki. Nein, ich hatte mich geirrt. Das J stand für >Journalist<, also den Briten.

Aber als während des dritten Sturmangriffs das Schicksal Plewnas und des ganzen Krieges am seidenen Faden hing, verlegte sich MacLaughlin auf direkte Diversion. Ich bin überzeugt, daß er nicht auf eigenes Risiko handelte, sondern Instruktionen von seinen Vorgesetzten hatte. Ich bedaure, daß ich nicht von Anfang an die geheime Überwachung des britischen diplomatischen Agenten Oberst Wellesley veranlaßt habe. Ich habe Majestät bereits die antirussischen Manöver dieses Herrn gemeldet, dem die türkischen Interessen eindeutig näher stehen als die unseren.

Jetzt rekonstruiere ich die Ereignisse des dreißigsten August. General Sobolew durchbrach, auf eigene Initiative handelnd, die türkische Verteidigung und gelangte an den südlichen Stadtrand von

Plewna. Verständlich - denn der von seinem Agenten über unseren Angriffsplan informierte Osman hatte alle Kräfte im Zentrum zusammengezogen. Sobolews Stoß traf ihn unerwartet. Aber unsere Führung erfuhr nicht rechtzeitig von dem Erfolg, und Sobolew hatte nicht genug Kräfte, um weiter vorzustoßen. MacLaughlin und die übrigen Journalisten und ausländischen Beobachter, unter denen, nebenbei bemerkt, auch Oberst Wellesley war, befanden sich zufällig am Schaltpunkt unserer Front - zwischen dem Zentrum und der linken Flanke. Um sechs durchbrach Graf Surow, Sobolews Adjutant, die türkischen Sperren. Während er an den Journalisten vorüberritt, die er gut kannte, informierte er sie über den Vorstoß seiner Abteilung. Wie ging es weiter? Die Korrespondenten stürmten alle nach hinten, um schleunigst telegraphisch weiterzumelden, daß die russische Armee vor dem Sieg stehe. Alle, nur MacLaughlin nicht. Frau Suworowa traf ihn eine halbe Stunde später - er kam allein, schlammbespritzt, aus einem Gestrüpp. Zweifellos hatte der Journalist die Zeit und die Möglichkeit gehabt, den Kurier einzuholen und umzubringen, dazu auch noch den Oberstleutnant Kasansaki, der sich zu seinem Unglück an Surows Fersen geheftet hatte. Beide kannten MacLaughlin gut und konnten keine Treubrüchigkeit von ihm erwarten. Nun, und den Selbstmord des Oberstleutnants zu inszenieren war nicht schwer - den Leichnam ins Gebüsch zerren, mit dem Revolver des Gendarmen zweimal in die Luft schießen, und fertig. Auf diesen Angelhaken habe ich ja auch angebissen.«

Misinow senkte betrübt den Blick, doch er wartete den nächsten Vorwurf des Zaren nicht ab und spann seinen Faden weiter: »Was nun den jüngsten Durchbruch betrifft, so handelte MacLaughlin hier nach Absprache mit der türkischen Führung. Man kann sagen, er war die Trumpfkarte Osmans. Ihr Kalkül war einfach und richtig: Ganezki ist ein verdienter General, aber, ich bitte meine Geradlinigkeit zu verzeihen, das Pulver hat er nicht erfunden. Wir wissen, daß er gar nicht auf die Idee kam, die Information des Journalisten anzuzweifeln. Wir müssen General Sobolew danken für seine Entschlossenheit....«

»Herrn Fandorin ist zu danken!« rief Warja, die für Fandorin tödlich beleidigt war. Der stand da und sagte nichts. Hatten sie ihn nur als Dekoration geholt? »Es war doch Fandorin, der zu Sobolew geritten ist und ihn überzeugt hat anzugreifen!«

Der Imperator starrte verblüfft die freche Person an, die da gegen die Etikette verstieß, und der greise Kortschakow schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. Selbst Fandorin schien indigniert, er trat von einem Fuß auf den anderen. Warja hatte sie alle vor den Kopf gestoßen.

»Sprich weiter, Misinow.« Der Imperator nickte ihm zu.

»Mit Erlaubnis Eurer Majestät.« Der Kanzler hob den runzligen Finger. »Wenn MacLaughlin eine so verantwortungsvolle Diversion vorhatte, warum sollte er diese Jungfer einweihen?« Der Finger knickte zu Warja hin ab.

»Aber das liegt doch auf der Hand!« Misinow rieb sich die schweißfeuchte Stirn. »Er ging davon aus, daß Frau Suworowa die umwerfende Neuigkeit im ganzen Lager herumtratschen würde. Der Stab würde davon erfahren. Jubel, Wirrwarr. Die folgende Kanonade würde für Salutschießen gehalten werden. Es war sogar möglich, daß einer ersten Meldung des angegriffenen Ganezki nicht geglaubt und daß sie erst mal überprüft wurde. Ein kleines Detail, Improvisation eines gewieften Intriganten.«

»Das mag sein«, sagte der Fürst. »Aber wo ist dieser MacLaughlin geblieben?« fragte der Zar. »Den müßte man verhören und eine Gegenüberstellung mit Wellesley veranlassen. Oh, der Oberst würde sich nicht herauswinden können!«

Kortschakow seufzte träumerisch.

»Ja, eine solche Kompromittierung würde es uns erlauben, die ganze britische Diplomatie zu neutralisieren.«

»MacLaughlin ist weder unter den Gefangenen noch unter den Gefallenen gefunden worden.« Misinow seufzte ebenfalls, doch in anderer Tonlage. »Er ist entkommen. Ich weiß nicht, auf welche Weise. Er ist schlau, der Halunke. Unter den Gefangenen ist auch nicht der Berater Osman Paschas, der berüchtigte Ali Bei, der unseren ersten Sturmangriff scheitern ließ und in dem wir das alter ego von Anwar Effendi vermuten. Über letzteren habe ich Euer Majestät einen schriftlichen Bericht zugestellt.«

Der Zar nickte.

»Was sagen Sie dazu, Michail Alexandrowitsch?«

Der Kanzler kniff ein Auge ein.

»Ich sage, daß es zu einer interessanten Kombination kommen kann, Euer Majestät. Wenn das alles stimmt, sind die Engländer diesmal zu weit gegangen. Wenn wir geschickt vorgehen, können wir vielleicht noch unsern Vorteil daraus ziehen.«

»Na los, na los, was haben Sie sich da ausgedacht?« fragte Zar Alexander neugierig.

»Majestät, mit der Einnahme von Plewna ist der Krieg in seine entscheidende Phase getreten. Der endgültige Sieg über die Türken ist eine Sache weniger Wochen. Ich betone: über die Türken. Es darf nicht so weit kommen wie dreiundfünfzig - da haben wir mit einem Krieg gegen die Türken angefangen und wurden in einen Konflikt mit ganz Europa verwickelt. Unsere Finanzen halten eine solche Konstellation nicht aus. Sie wissen selbst, was uns dieser Feldzug gekostet hat.«

Der Zar verzog das Gesicht wie von Zahnschmerz und Misinow schüttelte betrübt den Kopf.

»Mich hat das entschlossene und brutale Vorgehen dieses MacLaughlin sehr beunruhigt«, fuhr Kortschakow fort. »Es deutet darauf hin, daß die Briten in ihrem Bestreben, uns nicht an die Meerengen heranzulassen, zu jeder, auch der extremsten, Maßnahme bereit sind. Wir dürfen nicht vergessen, daß ihr Kriegsgeschwader im Bosporus steht. Zugleich zielt das liebe Österreich, das schon einmal Ihrem Herrn Vater das Messer in den Rücken gestoßen hat, auf unser Hinterland. Um die Wahrheit zu sagen, während Sie hier mit Osman Pascha Krieg führten, habe ich immer mehr über einen anderen Krieg nachgedacht, einen diplomatischen. Wir vergießen hier Blut, verpulvern ungeheure Mittel und Ressourcen und stehen am Ende womöglich mit leeren Händen da. Das verdammte Plewna hat wertvolle Zeit gekostet und die Reputation unserer Armee beschädigt. Euer Majestät wollen gütigst einem alten Mann verzeihen, daß er an solch einem Tag wie ein Rabe krächzt.«

»Schon gut, Michail Alexandrowitsch«, sagte der Imperator seufzend, »wir sind nicht auf einer Parade. Als ob ich das nicht verstehe.«

»Vor Misinows Erläuterungen war ich sehr pessimistisch gestimmt. Hätten Sie mich vor einer Stunde gefragt: >Sag, alter Fuchs, worauf können wir rechnen nach dem Sieg?<, so hätte ich ehrlich geantwortet: >Die Autonomie Bulgariens und ein Stückchen vom Kaukasus - das ist das Maximum an Ausbeute, ein kümmerlicher Gegenwert für Zehntausende Gefallene und verausgabte Millionen.<«

»Und jetzt?« Alexander beugte sich vor.

Der Kanzler blickte ausdrucksvoll zu Warja und Fandorin.

Misinow verstand den Blick und sagte: »Majestät, ich verstehe, worauf Michail Alexandrowitsch hinaus will. Ich bin zu der gleichen Schlußfolgerung gekommen, und ich habe den Titularrat Fandorin nicht zufällig mitgebracht. Frau Suworowa können wir wohl jetzt verabschieden.«

Warja erglühte. Also vertraute man ihr hier nicht. Was für eine Demütigung, vor die Tür gesetzt zu werden, noch dazu im interessantesten Moment!

»Ich bitte um V-vergebung für meine Dreistigkeit.« Fandorin hatte zum erstenmal während der Audienz den Mund aufgetan. »Aber das wäre unvernünftig.«

»Was denn?« Der Imperator zog die rötlichen Brauen zusammen.

»Man sollte einem Mitarbeiter nicht nur halb vertrauen, Euer M-majestät. Das bringt unnötige Kränkungen mit sich und schadet der Sache. Warwara Andrejewna weiß so viel, daß sie den R-rest mühelos erraten kann.«

»Du hast recht«, räumte der Zar ein. »Reden Sie, Fürst.«

»Wir müssen diese Geschichte benutzen, um Britannien vor der ganzen Welt zu blamieren. Diversion, Mordtaten, Komplott mit einer der kriegführenden Seiten unter Verletzung der Neutralität - das ist unerhört. Ehrlich gesagt, ich wundere mich über die Unvorsichtigkeit des Grafen Beaconsfield. Wenn wir nun MacLaughlins habhaft geworden wären, und er hätte ausgesagt? Ein Skandal! Ein Alptraum! Für England, versteht sich. Es hätte sein Geschwader abziehen, sich vor ganz Europa rechtfertigen und noch lange seine Wunden lecken müssen. In jedem Fall wäre das Kabinett von Saint James genötigt gewesen, im Orientkonflikt zu passen. Und ohne London würden unsere österreichisch-ungarischen Freunde sofort friedlich werden. Dann könnten wir die Früchte unseres Sieges in vollem Maße genießen und ...«

»Träumereien!« unterbrach Alexander den Alten ziemlich heftig. »Wir haben MacLaughlin nicht. Also, was tun?«

»Ihn herschaffen«, antwortete Kortschakow ungerührt.

»Aber wie?«

»Weiß ich nicht, Euer Majestät, ich bin nicht der Chef der Dritten Abteilung.« Der Kanzler verstummte und faltete seelenruhig die Händchen über dem mageren Bauch.

»Wir sind von der Schuld der Engländer überzeugt, wir haben auch indirekte Beweise, aber keine direkten«, nahm Misinow die Stafette auf. »Also müssen wir welche beschaffen ... oder konstruieren. Hm ... «

»Werde deutlicher«, drängte der Zar. »Und rede nicht drumherum, Misinow, komm auf den Punkt. Wir machen hier kein Pfänderspiel.«

»Zu Befehl, Majestät. MacLaughlin ist jetzt entweder in Konstantinopel oder, wahrscheinlicher, unterwegs nach England, seine Mission ist ja beendet. In Konstantinopel haben wir ein Netz von Geheimagenten, und den Halunken zu entführen dürfte nicht allzu schwer sein. In England wäre das schwieriger, aber mit kluger Organisation ...«

»Ich wünsche das nicht zu hören!« schrie Alexander. »Was redest du da für Scheußlichkeiten!«

»Majestät haben befohlen, nicht drumherum zu reden.« Der General breitete die Arme aus.

»MacLaughlin im Sack herbeizuschaffen wäre natürlich nicht übel«, sagte der Kanzler nachdenklich, »aber es ist zu aufwendig und unsicher. Da kann man selber in einen Skandal hineintappen. In Konstantinopel von mir aus, doch in London, da würde ich abraten.«

»Gut.« Misinow ruckte heftig mit dem Kopf. »Wenn wir MacLaughlin in London aufspüren, rühren wir ihn nicht an. Aber wir können das verwerfliche Verhalten eines britischen Korrespondenten in die dortige Presse bringen und einen Skandal auslösen. Den Engländern werden die Gaunerstreiche MacLaughlins nicht gefallen, denn sie passen überhaupt nicht zum fair play.«

Kortschakow stimmte zu: »Das ist vernünftig. Um Beaconsfield und Derby die Hände zu binden, genügt ein guter Presseskandal.«

Während dieser ganzen Erörterung war Warja unauffällig, in Viertelschrittchen, näher an Fandorin herangetreten und stand nun unmittelbar neben ihm.

»Wer ist Derby?« fragte sie flüsternd.

»Der Außenminister«, murmelte Fandorin, fast ohne die Lippen zu bewegen.

Misinow drehte sich nach den Flüsternden um und zog drohend die Brauen zusammen.

»Ihr MacLaughlin ist offenbar mit allen Wassern gewaschen, er kennt keine Vorurteile und Sentiments«, setzte der Kanzler seine Betrachtungen fort. »Wenn man ihn in London aufspürt, kann man vor dem Skandal ein vertrauliches Gespräch mit ihm führen. Ihm Beweisstücke zeigen, mit Veröffentlichung drohen. Denn wenn es zum Skandal kommt, ist er erledigt. Ich kenne die britischen Gepflogenheiten - in der Gesellschaft gibt ihm keiner mehr die Hand, auch wenn er von Kopf bis Fuß mit Orden behängt ist. Immerhin zwei Morde, das ist keine Kleinigkeit. Da könnte ein Kriminalprozeß drohen. Er ist ein kluger Mann. Wenn man ihm dann noch gutes Geld anbietet, vielleicht auch ein Gut im Wolga-Gebiet ... Er kann wichtige Informationen liefern, die Schuwalow benutzt, um Druck auf Lord Derby auszuüben. Sowie er mit Entlarvung droht, wird das britische Kabinett sofort weich wie Butter. Was meinen Sie, General, wird MacLaughlin auf die Kombination von Drohung und Bestechung eingehen?«

»Es bleibt ihm nichts anderes übrig«, versprach der General überzeugt. »Ich habe diese Variante ebenfalls erwogen. Darum habe ich ja Herrn Fandorin mitgebracht. Ohne allerhöchste Billigung einen Mann für eine so heikle Operation zu bestimmen, das habe ich nicht gewagt. Da steht schon sehr viel auf dem Spiel. Fandorin ist findig, energisch, hat eine originelle Denkstruktur und, vor allem, er war schon mehrmals mit geheimen, höchst komplizierten Aufträgen in London und ist glänzend damit zurechtgekommen. Er beherrscht die Sprache. Kennt MacLaughlin persönlich. Wenn nötig, entführt er ihn. Wenn das nicht sein muß, kommt er mit ihm überein. Gelingt das nicht, so hilft er Schuwalow, einen tüchtigen Skandal zu organisieren. Er kann gegen MacLaughlin aussagen und selbst als Augenzeuge auftreten. Er besitzt eine außergewöhnliche Überzeugungskraft.«

»Wer ist Schuwalow?« wisperte Warja.

»Unser Botschafter«, antwortete der Titularrat zerstreut, der in Gedanken ganz woanders war und dem General wohl nicht sehr aufmerksam zugehört hatte.

»Na, Fandorin, schaffst du das?« fragte der Imperator. »Fährst du nach London?« .

»Natürlich, Euer M-majestät«, sagte Fandorin. »Warum sollte ich nicht?«

Der Monarch sah ihn prüfend an, spürte wohl etwas Unausgesprochenes, doch Fandorin fügte nichts mehr hinzu.

»Also, Misinow, du handelst in zwei Richtungen«, resümierte Alexander. »Du suchst in Konstantinopel und in London. Aber verlier keine Zeit, wir haben nicht mehr viel davon.«

Als sie in das Adjutantenzimmer zurückgingen, fragte Warja den General: »Und wenn MacLaughlin gar nicht gefunden wird?«

»Meine Liebe, glauben Sie meinem Gespür.« Der General holte tief Luft. »Mit diesem Gentleman werden wir uns ganz sicher noch treffen.«

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