DRITTES KAPITEL, welches fast vollständig morgenländischer Tücke gewidmet ist

»Revue Parisienne« (Paris) vom 15.(3.) Juli 1877

»Das Wappen des Russischen Imperiums, der doppelköpfige Adler, spiegelt aufs trefflichste das Verwaltungssystem in diesem Land, wo jedwede auch nur im Ansatz wichtige Angelegenheit nicht einer, sondern mindestens zwei Instanzen übertragen wird, die sich gegenseitig behindern und für nichts verantwortlich sind. Das Gleiche geschieht in der kämpfenden Armee. Oberbefehlshaber ist formell Großfürst Nikolai Nikolajewitsch, welcher sich derzeit in dem Dorf Zarewizy aufhält, aber in unmittelbarer Nähe seines Stabs, in dem Städtchen Bela, ist das Hauptquartier von Imperator Alexander II, und dort befinden sich der Kanzler, der Kriegsminister, der Chef der Gendarmerie und weitere hohe Beamte. Erwägt man dann noch, daß die verbündete rumänische Armee einen eigenen Oberbefehlshaber hat, den Fürsten Karl von Hohenzollern-Sigmaringen, so fällt einem nicht der doppelköpfige König der Gefiederten ein, sondern die witzige russische Fabel von Schwan, Krebs und Hecht, die unüberlegt vor dieselbe Kutsche gespannt wurden ...«

»Also, wie soll ich Sie anreden, >Madame< oder >Mademoiselle

Der Oberstleutnant hieß Iwan Charitonowitsch Kasansaki, er zeigte keinerlei Verständnis für Warjas Lage, und es sah schon so aus, als würde sie zwangsweise nach Rußland zurückgeschickt.

Am Vorabend waren sie erst sehr spät in Zarewizy eingetroffen. Fandorin begab sich sofort in den Stab, und Warja, die vor Müdigkeit fast umfiel, kümmerte sich gleichwohl noch um das Notwendigste. Krankenschwestern von der Sanitätsabteilung der Baronesse Wrejskaja gaben ihr Kleidung, machten Wasser warm, und Warja brachte sich erst einmal in Ordnung, dann ließ sie sich auf eine Pritsche fallen - zum Glück gab es fast keine Verwundeten im Lazarett. Die Begegnung mit Petja wurde auf den nächsten Tag verschoben, denn für die bevorstehende Aussprache mußte sie

hellwach sein.

Aber am Morgen konnte sie nicht ausschlafen. Es erschienen zwei Gendarmen mit Helm und Karabiner und geleiteten »das angebliche Fräulein Suworowa« geradewegs in die Sonderabteilung der Westgruppe, und sie durfte sich nicht mal kämmen.

Und nun versuchte sie schon seit Stunden, dem glattrasierten Peiniger mit den dicken Augenbrauen, der die blaue Montur trug, zu erklären, welcher Art ihre Beziehung zu dem Chiffrierer Pjotr Jablokow war. »Mein Gott, dann lassen Sie ihn doch herkommen, er wird es Ihnen bestätigen«, sagte sie zum wiederholten Male, worauf der Oberstleutnant nur antwortete: »Alles zu seiner Zeit.«

Besonders interessierten den Gendarmen die Einzelheiten ihrer Begegnung mit »der Person, die sich als Titularrat Fandorin« ausgab. Er notierte den Widiner Jussuf Pascha, den Kaffee, den Fandorin trinken mußte, die im Nardy-Spiel gewonnene Freilassung. Besonders lebhaft wurde der Oberstleutnant, als er erfuhr, daß der Freiwillige mit den Baschi-Bosuks türkisch gesprochen hatte, und er wollte unbedingt wissen, wie das geklungen hatte, gebrochen oder fließend. Allein für die Klärung dieses Blödsinns ging wohl eine halbe Stunde drauf.

Als Warja schon kurz vor einem tränenlosen hysterischen Anfall stand, wurde die Tür der Lehmhütte, in der die Sonderabteilung untergebracht war, jählings aufgerissen, und herein kam, nein stürmte ein hochmütiger General mit gebieterischen Augen und üppigem Schnauzbart.

»Generaladjutant Misinow«, rief er schallend von, der Tür und maß den Oberstleutnant mit strengem Blick. »Kasansaki?«

Der Gendarm, wie vom Donner gerührt, nahm stramme Haltung an und bewegte die Lippen. Warja starrte mit großen Augen auf den obersten Satrapen und Henker der Freiheit - diesen Ruf hatte er bei der fortschrittlichen Jugend, der Chef der Dritten Abteilung und Chef des Gendarmeriekorps Lawrenti Arkadjewitsch Misinow.

»Jawohl, Hohe Exzellenz«, krächzte Warjas Beleidiger. »Oberstleutnant Kasansaki vom Gendarmeriekorps. Habe früher in der Kischinjower Verwaltung gedient und bin jetzt zum Chef der Sonderabteilung beim Stab der Westgruppe ernannt. Verhöre soeben eine Festgenommene.«

»Wer ist sie?« Der General zog eine Braue hoch und warf einen mißbilligenden Blick auf Warja.

»Warwara Suworowa. Sie behauptet, aus privatem Anlaß hergekommen zu sein, um ihren Bräutigam zu treffen, den Chiffrierer Jablokow von der Operationsabteilung.«

»Suworowa?« fragte General Misinow interessiert. »Sind wir womöglich verwandt? Mein Urgroßvater mütterlicherseits hieß Alexander Wassiljewitsch Suworow-Rymnikski.«

»Ich hoffe nicht«, sagte Warja frostig.

Der Satrap lachte verstehend auf und beachtete die Frau nicht mehr.

»Und Sie, Kasansaki, machen Sie mir nicht dauernd blauen Dunst vor. Wo ist Fandorin? In der Meldung heißt es, er sei bei Ihnen.«

»Jawohl, er steht unter Arrest«, meldete der Oberstleutnant schneidig und fügte mit gesenkter Stimme hinzu: »Ich habe Grund zu der Annahme, daß er unser langerwarteter Gast Anwar Effendi ist. Alles paßt zusammen, Hohe Exzellenz. Osman Pascha und Plewna, das ist eindeutig eine Desinformation. Raffiniert hat er sich eingeschlichen ... «

»Dummkopfl« bellte Misinow so drohend, daß der Oberstleutnant den Kopf einzog. »Schaffen Sie ihn sofort her! Auf der Stelle!«

Kasansaki stürzte davon. Warja drückte sich gegen die Stuhllehne, aber der aufgebrachte General hätte sie vergessen. Er schnaufte laut und trommelte nervös mit den Fingern auf die Tischplatte, bis der Oberstleutnant mit Fandorin zurückkehrte.

Der Freiwillige sah erschöpft aus, unter den Augen lagen dunkle Ringe, er hatte wohl die letzte Nacht nicht geschlafen.

»G-guten Tag, Lawrenti Arkadjewitsch«, sagte er lasch und machte Warja eine leichte Verbeugung.

»Mein Gott, Fandorin, sind Sie das wirklich?« rief der Satrap. »Sie sind ja nicht wiederzuerkennen. Zehn Jahre älter sehen Sie aus! Nehmen Sie Platz, mein Lieber, ich freue mich sehr, Sie zu sehen.«

Er nötigte Fandorin auf einen Stuhl und setzte sich selber so hin, daß Warja nun hinter ihm saß. Kasansaki war an der Tür in der Position »stillgestanden« erstarrt.

»In was für einer Verfassung sind Sie jetzt?« fragte General Misinow, »Ich möchte Ihnen meine tiefste ... «

»Lassen Sie nur, Hohe Exzellenz«, unterbrach ihn Fandorin höflich, doch entschlossen. »Ich bin ganz in O-ordnung. Sagen Sie mir lieber, hat Ihnen dieser H-herr« (er nickte geringschätzig zum Oberstleutnant hin) »das von Plewna ausgerichtet? Jetzt ist ja jede Stunde kostbar.«

»Ja. Ich habe hier eine Anordnung des Oberbefehlshabers, doch ich wollte mich vorher überzeugen, daß Sie es wirklich sind. Also hören Sie.« Er nahm ein Blatt aus der Tasche, setzte das Monokel ins Auge und las: »An den Chef der Westgruppe Generalleutnant Baron Krüdener. Ich befehle, Plewna zu nehmen und sich dort mit mindestens einer Division zu verschanzen. Nikolai.«

Fandorin nickte.

»Oberstleutnant, sofort chiffrieren und an Krüdener telegraphieren«, befahl Misinow.

Kasansaki nahm das Blatt ehrerbietig entgegen und eilte sporenklirrend zur Ausführung.

»Sie können also wieder Ihren Dienst antreten?« fragte der General.

Fandorin verzog das Gesicht.

»Lawrenti Arkadjewitsch, ich habe doch wohl meine P-flicht getan, indem ich das türkische Flankenmanöver meldete. Aber Krieg führen gegen die arme Türkei, die auch ohne unsere glanzvollen Bemühungen auseinanderfallen würde - entbinden Sie mich.«

»Das tue ich nicht, mein Herr, nein!« rief Misinow ärgerlich. »Wenn Patriotismus für Sie ein leeres Wort ist, erlaube ich mir, Sie zu erinnern, daß Sie, Herr Titularrat, nicht im Ruhestand sind, sondern nur in einem unbefristeten Urlaub, und obwohl Sie beim diplomatischen Dienst geführt werden, gehören Sie nach wie vor zu meiner Dritten Abteilung!«

Warja stöhnte. Fandorin, den sie für einen anständigen Menschen gehalten hatte, ein Polizeiagent? Und gerierte sich als ein Petschorin (*Gestalt aus Lermontows »Held unserer Zeit«. D.Ü.)! Interessante Blässe, Schmachteblick, edles Grauhaar. Da sollte man noch Vertrauen zu den Menschen haben!

»Euer Hohe E-exzellenz«, sagte Fandorin leise; er schien nicht zu ahnen, daß er für Warja ein für allemal erledigt war. »Ich diene nicht Ihnen, sondern Rußland. Und an einem Krieg, der für Rußland nutzlos, ja, verderblich ist, wünsche ich mich nicht zu beteiligen.«

»Über den Krieg entscheiden nicht Sie und nicht ich. Darüber entscheidet der Imperator«, sagte Misinow barsch.

Eine ungute Pause entstand. Als der Chef der Gendarmerie dann wieder das Wort nahm, klang seine Stimme gänzlich anders.

»Erast Petrowitsch, mein Bester«, begann er gefühlvoll, »Hunderttausende Russen riskieren ihr Leben, das Land stöhnt unter der Last des Krieges. Ich habe ein komisches Vorgefühl. Alles läuft gar zu glatt. Ich fürchte, das nimmt kein gutes Ende.«

Als er keine Antwort bekam, rieb er sich müde die Augen und gestand: »Ich hab's schwer,

Fandorin, sehr schwer. Überall Unordnung, der reinste Saustall. Es fehlt an Mitarbeitern, an tüchtigen zumal. Ich will Ihnen ja keinen Routineposten aufhalsen. Es gibt da eine hübsche Aufgabe, nicht leicht, genau das Richtige für Sie.«

Fandorin neigte fragend den Kopf, und der General sagte einschmeichelnd: »Sie erinnern sich an Anwar Effendi? Den Sekretär des Sultans Abd ul Hamid? Na, der im Falle >Asasel< eine Rolle gespielt hat?«

Fandorin zuckte kaum merklich zusammen, sagte aber nichts.

Misinow brummte: »Und für den hat dieser Idiot Kasansaki Sie gehalten, nicht zu fassen. Wir haben Informationen, wonach dieser interessante Türke höchstpersönlich eine Geheimoperation gegen unsere Truppen leitet. Er ist ein verwegener Mann mit einem Hang zum Abenteurer. Gut möglich, daß er in eigener Person bei uns auftaucht, es ist ihm zuzutrauen. Na, interessiert?«

»Ich höre Ihnen zu, Lawrenti Arkadjewitsch«, sagte Fandorin mit einem Seitenblick auf Warja.

»Na großartig«, freute sich Misinow und schrie: »Nowgorodzew! Die Mappe!«

Auf leisen Sohlen kam ein älterer Major mit den Achselschnüren des Adjutanten herein, reichte dem General eine rote Kalikomappe und entfernte sich sogleich wieder. Warja sah in der Türöffnung die schweißige Visage des Oberstleutnants Kasansaki und schnitt ihm eine spöttisch-verächtliche Grimasse - schadet dir gar nichts, du Sadist, steh dir ruhig die Beine in den Bauch vor der Tür.

»Also, hier ist, was wir über Anwar haben«, sagte der General und raschelte mit den Papieren. »Möchten Sie Notizen machen?«

»Nein, ich merk's mir«, sagte Fandorin.

»Über die frühe Periode nur sparsamste Angaben. Geboren vor cirka fünfunddreißig Jahren. Nach etlichen Informationen in dem muselmanischen bosnischen Städtchen Hevrais. Eltern unbekannt. Erzogen irgendwo in Europa, in einer der berühmten Lehranstalten der Lady Aster, an die Sie sich natürlich von dem Fall >Asasel< erinnern.«

Schon zum zweitenmal hörte Warja diesen seltsamen Namen, und zum zweitenmal reagierte Fandorin seltsam - er ruckte mit dem Kinn, als sei ihm der Kragen plötzlich zu eng geworden.

»Ins Blickfeld gelangte Anwar Effendi vor zehn Jahren, als in Europa erstmalig über den großen türkischen Reformer Midhat Pascha gesprochen wurde. Unser Anwar, damals noch kein Effendi, diente ihm als Sekretär. Und nun hören Sie sich den Werdegang Midhats an.« Misinow nahm ein einzelnes Blatt heraus und räusperte sich. »Dazumal war er Generalgouverneur der Donau-Provinz. Unter seiner Protektion eröffnete Anwar in dieser Region eine Diligence-Verbindung, baute Eisenbahnstrecken und schuf auch ein Netz von wohltätigen Lehranstalten für Waisenkinder muselmanischen wie auch christlichen Glaubens.«

»W-wirklich?« fragte Fandorin interessiert.

»Ja. Eine löbliche Initiative, nicht wahr? Überhaupt entfalteten Midhat Pascha und Anwar hier eine Tätigkeit, die allen Ernstes die Gefahr heraufbeschwor, Bulgarien aus der russischen Einflußsphäre zu verlieren. Unser Botschafter in Konstantinopel, Nikolai Pawlowitsch Gnatjew, mußte all seinen Einfluß auf den Sultan Abd ul Asis geltend machen, um zu erreichen, daß der übereifrige Gouverneur abberufen wurde. Midhat wurde Vorsitzender des Staatsrats und erließ ein Gesetz über die allgemeine Volksbildung, ein hervorragendes Gesetz, wie wir es übrigens in Rußland bis heute nicht haben. Können Sie sich denken, wer das Gesetz ausarbeitete? Richtig - Anwar Effendi. Das alles wäre ja sehr rührend, aber unser Gegenspieler leistete nicht nur Aufklärungsarbeit, sondern beteiligte sich schon damals intensiv an den Hofintrigen, zumal sein Gönner mehr als genug Feinde hatte. Man schickte ihm Mörder, schüttete ihm Gift in den Kaffee, schob ihm sogar eine an Lepra erkrankte Beischläferin unter, und Anwar fiel die Aufgabe zu, den großen Mann gegen all diese netten Streiche abzuschirmen. Die russische Partei bei Hofe erstarkte, und 1869 wurde der Pascha als Generalgouverneur in die schlimmste Einöde gesandt, ins wilde und bettelarme Mesopotamien. Als Midhat versuchte, dort Reformen durchzuführen, flammte in Bagdad ein Aufstand auf. Wissen Sie, was er tat? Er rief die Ältesten und die Geistlichkeit der Stadt zusammen und hielt ihnen eine kurze Rede folgenden Inhalts. Ich lese sie Ihnen wörtlich vor, denn ich bin aufrichtig begeistert von der Energie und dem Stil: >Verehrte Mullas und Älteste, wenn die Unruhen nicht binnen zwei Stunden aufhören, lasse ich Sie alle aufhängen und die ruhmreiche Stadt Bagdad von allen vier Seiten anzünden, und dann mag der Großherr, Allah beschütze ihn, auch mich für die Untat aufhängen lassen.< Natürlich herrschte nach zwei Stunden Frieden.« Misinow brummte und schüttelte den Kopf. »Jetzt konnte er seine Reformen in Angriff nehmen. In weniger als drei Jahren gelang es Anwar Effendi unter Midhats Regentschaft, den Telegraph einzuführen, in Bagdad eine Pferdebahn zu eröffnen, Dampfer auf den Euphrat zu schicken, die erste irakische Zeitung zu gründen und Schüler für seine Handelsschule zu werben. Wie finden Sie das? Ich rede schon gar nicht von einer Lappalie wie der Schaffung der >Osmano-Osmanischen Schiffahrtsgesellschaft<, deren Schiffe durch den Suezkanal bis London fahren. Später glückte es Anwar mit einer sehr pfiffigen Intrige, den Großwesir Mahmud Nedim zu stürzen, der so sehr von dem russischen Gesandten abhängig war, daß die Türken ihn >Nedimow< nannten. Midhat stand der Regierung des Sultans vor, hielt sich aber nur zweieinhalb Monate auf dem hohen Posten - unser Gnatjew hatte ihn wieder ausgetrickst. Midhats größter und vom Standpunkt der anderen Paschas unverzeihlichster Fehler war seine Unbestechlichkeit. Er nahm den Kampf gegen das Schmiergeldunwesen auf und sprach vor europäischen Diplomaten den Satz, der ihm zum Verhängnisn wurde: >Es ist an der Zeit, Europa zu zeigen, daß nicht alle Türken jämmerliche Prostituierte sind.< Dafür wurde er aus Stambul gefeuert und mußte als Gouverneur nach Saloniki gehen. Dieses griechische Städtchen blühte alsbald auf, und der Hof des Sultans sank wieder in Schlaf, Wohlleben und Durchstecherei.«

»Sie sind ja richtig v-verliebt in diesen Mann«, unterbrach Fandorin den General.

»In Midhat? Gewiß.« Misinow zuckte die Achseln. »Und ich wäre froh, ihn als Oberhaupt der russischen Regierung zu sehen. Aber er ist ein Türke. Noch dazu ein Türke, der sich an England orientiert. Unsere Bestrebungen sind gegensätzlicher Art, darum ist Midhat unser Feind. Unser gefährlichster Feind. Europa ist uns nicht gewogen und fürchtet uns, dafür trägt es Midhat auf Händen, besonders seit er der Türkei die Verfassung geschenkt hat. Und jetzt, Erast Petrowitsch, schicken Sie sich in Geduld. Ich lese Ihnen einen ausführlichen Brief vor, den mir Nikolai Gnatjew schon voriges Jahr geschickt hat. Er wird Ihnen eine klare Vorstellung von dem Gegner vermitteln, mit dem wir es zu tun haben werden.«

Der Chef der Gendarmerie entnahm seiner Mappe mehrere Blätter, die eng mit gleichmäßiger Kopistenhandschrift beschrieben waren, und begann vorzulesen.

»Lieber Lawrenti, die Ereignisse in unserm von Allah behüteten Stambul entwickeln sich so rasend schnell, daß selbst ich nicht hinterherkomme, dabei hat Dein gehorsamer Diener, ohne falsche Bescheidenheit, die Hand schon mehr als ein Jahr am Puls des Kranken Mannes vom Bosporus. Dieser Puls war, nicht ohne mein Zutun, schon am Erlöschen und versprach, in Bälde ganz stehenzubleiben, aber seit dem Mai ...«

»Die Rede ist vom vorigen Jahr, 1876«, hielt es Misinow einzuwerfen für angezeigt.

»... aber seit dem Mai schüttelt den kranken Mann das Fieber dermaßen, daß der Bosporus über seine Ufer tritt und die Mauern von Zargrad (*Alte russische Bezeichnung für Konstantinopel. D.Ü.) einzustürzen drohen, und dann ist nichts mehr da, wo Du Dein Schild aufhängen könntest.

Die Sache ist die, daß im Mai in die Hauptstadt des großen und unvergleichlichen Sultans Abd ul Asis, Schattens des Allmächtigen und Behüters des Glaubens, Midhat Pascha triumphal aus der Verbannung zurückkehrte und seine >graue Eminenz< mitbrachte, den listigen Anwar Effendi.

Diesmal ging der klug gewordene Anwar auf Nummer sicher - er handelte sowohl europäisch wie orientalisch. Der Anfang war europäisch: Seine Agenten kreuzten immer öfter in den Werften, dem Arsenal, dem Münzhof auf - und die Arbeiter, die schon seit langem keinen Lohn bekamen, strömten auf die Straße. Dann folgte ein rein orientalischer Schachzug. Am 25. Mai verkündete Midhat Pascha den Rechtgläubigen, ihm sei im Traum der Prophet erschienen (das prüfe mal einer nach) und habe seinem Sklaven befohlen, die sterbende Türkei zu retten.

Derweil saß mein guter Freund Abd ul Asis wie gewöhnlich in seinem Harem und genoß die Gesellschaft seiner Lieblingsfrau, der schönen Mihri Chanum, die war guter Hoffnung, hatte ihre Launen und verlangte, der Gebieter solle ständig bei ihr sein. Diese goldhaarige, blauäugige Tscherkessin war außer für ihre überirdische Schönheit auch dafür berühmt, daß sie die Kasse des Sultans bis auf den Grund leerte. Allein im letzten Jahr verausgabte sie in den französischen Geschäften von Pera (*Stadtteil von Konstantinopel. D.Ü.) mehr als zehn Millionen Rubel, und so ist verständlich, daß die Konstantinopolitaner sie, wie die zum understatement neigenden Engländer sagen würden, nicht besonders mochten.

Glaube mir, Lawrenti, ich konnte daran nichts ändern. Ich beschwor, drohte, intrigierte wie ein Eunuch im Harem, aber Abd ul Asis war taub und stumm. Am 29. Mai tobte rund um den Palast Dolma Bahce (ein scheußliches Gebäude im europäisch-orientalischen Stil) eine vieltausendköpfige Menschenmenge, aber der Padischah versuchte nicht einmal, seine Untertanen zu beruhigen - er schloß sich in der Frauenhälfte seiner Residenz ein, wo ich keinen Zutritt habe, und lauschte dem Klavierspiel von Mihri Chanum, die ihm Wiener Walzer zu Gehör brachte.

Derweil saß Anwar unentwegt beim Kriegsminister, um den vorsichtigen und vorausschauenden Herrn zu einer Änderung seiner politischen Orientierung zu bewegen. Nach einem Bericht meines Agenten, der dem Minister als Koch diente (daher die spezifische Färbung des Berichts), verliefen die schicksalträchtigen Verhandlungen folgendermaßen. Anwar kam genau zur Mittagsstunde zum Minister, und es wurde befohlen, Kaffee mit Tschureks aufzutragen. Eine Viertelstunde später scholl aus dem Kabinett des Ministers das empörte Gebrüll seiner Exzellenz, und die Adjutanten führten Anwar auf die Hauptwache. Dann wanderte der Minister eine halbe Stunde lang einsam durchs Zimmer und verzehrte zwei Teller Halwa, das er sehr gern aß. Danach wollte er den Verräter persönlich einvernehmen und begab sich auf die Hauptwache. Um halb drei erging Befehl, Obst und Süßigkeiten zu servieren. Um dreiviertel vier wurden Kognak und Champagner verlangt. In der fünften Stunde, nach dem Kaffeetrinken, fuhren der Minister und Anwar zu Midhat. Wie man hört, wurden dem Minister für seine Teilnahme an der Verschwörung der Posten des Großwesirs und eine Million Pfund von den englischen Gönnern versprochen.

Gegen Abend waren sich die beiden Hauptverschwörer vollkommen einig, und schon in derselben Nacht kam es zu dem Staatsstreich. Die Flotte blockierte den Palast von der See her, der Chef der hauptstädtischen Garnison besetzte die Wachen mit seinen Leuten, und der Sultan wurde mitsamt seiner Mutter und der schwangeren Mihri Chanum per Boot in den Feriye-Palast überführt.

Vier Tage später stutzte sich der Sultan mit einer Nagelschere den Bart, doch so ungeschickt, daß er sich die Venen beider Handgelenke durchschnitt und sogleich verstarb. Die Ärzte der europäischen Gesandtschaften, hinzugebeten, den Leichnam zu begutachten, erkannten einstimmig auf Selbstmord, da keinerlei Spuren eines Kampfes an dem Körper gefunden wurden. Kurz und gut, alles wurde einfach und elegant durchgespielt wie bei einer guten Schachpartie - so wollte es der Stil von Anwar Effendi.

Aber das war nur die Eröffnung, es folgte das Mittelspiel.

Der Kriegsminister hatte sein Werk getan und wurde nun zu einem ernsthaften Störfaktor, denn für Reformen und für die Verfassung besaß er keinerlei Neigung, er interessierte sich vornehmlich dafür, wann ihm die von Anwar versprochene Million ausgefolgt würde. Überhaupt benahm sich der Kriegsminister so, als wäre er die Hauptperson der Regierung, und wurde nicht müde, daran zu erinnern, daß keineswegs Midhat, sondern er selbst den Sultan Abd ul Asis gestürzt habe.

Eben davon überzeugte Anwar Effendi einen wackeren Offizier, der zuvor dem verblichenen Sultan als Adjutant gedient hatte. Dieser hieß Hassan Bei, war der Bruder der entzückenden Mihri Chanum

und genoß bei den Schönen des Hofes eine unwahrscheinliche Popularität, denn er sah sehr gut aus, war tapfer und sang vorzüglich italienische Arien. Alle nannten ihn einfach den Tscherkessen.

Ein paar Tage, nachdem Abd ul Asis sich so ungeschickt den Bart gestutzt hatte, gebar die untröstliche Mihri Chanum ein totes Kind und verstarb unter schrecklichen Qualen. Just zu dieser Zeit wurden Anwar und der Tscherkesse Busenfreunde. Eines Tages kam Hassan Bei in die Residenz Midhat Paschas, um seinen Freund zu besuchen. Anwar war nicht in seinem Zimmer, doch genau zu diesem Zeitpunkt kamen die Minister zu einer Beratung zusammen. An den Tscherkessen waren sie hier gewöhnt, sahen in ihm einen der Ihren. Er trank Kaffee mit den Adjutanten, rauchte, schwatzte über alles mögliche. Dann schlenderte er durch die Korridore, doch plötzlich stürmte er in den Saal, wo die Sitzung stattfand. Midhat und die übrigen Würdenträger rührte er nicht an, aber dem Kriegsminister schoß er mit seinem Revolver zwei Kugeln in die Brust und gab dem alten Mann mit dem Jatagan den Rest. Diejenigen Minister, die bei klugem Verstand waren, stürzten fluchtartig davon, doch zwei gedachten den Helden zu spielen. Gänzlich sinnlos. Den einen erschoß der rasende Tscherkesse aus nächster Nähe, den anderen verwundete er schwer. Da kehrte der kühne Midhat Pascha mit seinen beiden Adjutanten zurück. Hassan Bei tötete sie beide, doch Midhat rührte er wieder nicht an. Der Mörder wurde schließlich in Fesseln geschlagen, doch zuvor hatte er noch einen Polizeioffizier umgebracht und sieben Soldaten verwundet. Unser Anwar betete derweil fromm in der Moschee, und dafür gab es eine Menge Zeugen.

Die Nacht verbrachte Hassan Bei hinter Schloß und Riegel in einem Wachraum und sang mit lauter Stimme Arien aus >Lucia di Lammermoor<. Wie es heißt, war Anwar Effendi davon so entzückt, daß er versuchte, den heldenmütigen Übeltäter zu begnadigen, aber die erbitterten Minister waren unbeugsam, und der Mörder wurde am Morgen darauf an einem Baum aufgeknüpft. Die Haremsdamen, die ihren Tscherkessen so heiß geliebt hatten, kamen nun, um seiner Hinrichtung beizuwohnen, sie weinten bitterlich und warfen ihm Kußhändchen zu.

Jetzt gab es niemanden mehr, der Midhat störte, mit Ausnahme des Schicksals, das ihm einen Schlag von gänzlich unerwarteter Seite zufügte. Den großen Politiker legte seine Marionette herein, der neue Sultan Murad.

Schon am Morgen des 31. Mai, gleich nach dem Umsturz, stattete Midhat Pascha dem Neffen des gestürzten Sultans, dem Prinzen Murad, eine Visite ab, welche diesen höchlich erschreckte. An dieser Stelle ist eine kleine Abschweifung angebracht, um zu erklären, wie jämmerlich es im Osmanischen Reich um die Figur des Thronfolgers bestellt ist.

Der Prophet Mohammed nämlich hatte trotz seiner fünfzehn Ehefrauen keinen einzigen Sohn gezeugt, und er hatte keine Instruktionen zur Frage der Thronfolge hinterlassen. Darum hat in all den Jahrhunderten jede der zahlreichen Sultaninnen davon geträumt, ihren Sohn zu inthronisieren, und mit allen Mitteln versucht, die Söhne ihrer Rivalinnen zu beseitigen. Es gibt beim Hof einen speziellen Friedhof für die getöteten Prinzen, und wir Russen mit unseren Boris und Gleb sowie dem Zarewitsch Dmitri nehmen uns nach türkischen Maßstäben einfach lächerlich aus.

Der Thron des Osmanischen Reiches wird nicht vom Vater auf den Sohn vererbt, sondern vom älteren auf den jüngeren Bruder. Wenn der Vorrat an Brüdern zur Neige geht, tritt die nächste Generation in ihre Rechte ein, und wieder folgt auf den älteren der jüngere Bruder. Jeder Sultan hat tödliche Angst vor seinem jüngeren Bruder oder seinem ältesten Neffen, und die Chancen des Thronfolgers, seine Inthronisierung zu erleben, sind äußerst gering. So ein Erbprinz wird in völliger Isolation gehalten, man läßt niemanden zu ihm und sucht für ihn nach Möglichkeit Beischläferinnen aus, die keine Kinder gebären können. Nach alter Tradition bedienen den künftigen Padischah Sklaven mit abgeschnittener Zunge und durchstochenem Trommelfell. Du kannst Dir vorstellen, wie es bei solcher Erziehung um die seelische Gesundheit seiner Hoheit bestellt ist. Suleiman II. zum

Beispiel verbrachte neununddreißig Jahre in Gefangenschaft, wo er den Koran abschrieb und mit Bildern schmückte. Als er dann endlich Sultan wurde, wollte er schon bald wieder zurück und entsagte dem Thron. Ich kann ihn verstehen - Bilderchen malen macht ja auch mehr Spaß.

Aber zurück zu Murad. Er war ein schöner, nicht dummer und sogar recht belesener junger Mann, doch mit einer Neigung zu übermäßigen Trankopfern und einem durchaus berechtigten Verfolgungswahn. Mit Vergnügen überließ er dem weisen Midhat die Zügel der Regierung, so daß bei unseren Schlauköpfen alles nach Plan lief. Aber sein plötzlicher Aufstieg und der sonderbare Tod seines Oheims wirkten dermaßen auf den armen Murad, daß er wirr redete und in Tobsucht verfiel. Die europäischen Psychiater, die ihn heimlich besuchten, gelangten zu dem Schluß, daß er unheilbar sei und sein Zustand sich nur noch verschlimmern könne.

Beachte die unwahrscheinliche Voraussicht von Anwar Effendi. Schon am ersten Tag der Regentschaft Murads, als alles noch glänzend aussah, bewarb sich our mutual friend (*(eng.) Unser gemeinsamer Freund.) plötzlich um den Posten des Sekretärs beim Prinzen Abd ul Hamid, Bruder des Sultans und Thronfolger. Als ich das erfuhr, war mir klar, daß Midhat Pascha nicht an Murad V glaubte. Anwar machte sich mit dem neuen Thronfolger vertraut, den er wohl für annehmbar hielt, und Midhat stellte Abd ul Hamid die Bedingung: Versprich, dem Land eine Verfassung zu geben, und du wirst Padischah. Der Prinz willigte natürlich ein.

Das Weitere ist Dir bekannt. Am 31. August bestieg Abd ul Hamid II. an Stelle des geisteskranken Murad V den Thron, Midhat wurde Großwesir, und Anwar blieb bei dem neuen Sultan der Drahtzieher hinter den Kulissen und faktisch Chef der Geheimpolizei, das heißt (haha), Dein Kollege, Lawrenti.

Es ist typisch, daß in der Türkei fast niemand von Anwar Effendi weiß. Er drängt sich nicht in den Vordergrund, zeigt sich nicht in der Öffentlichkeit. Ich zum Beispiel habe ihn nur ein einziges Mal gesehen, als ich dem neuen Padischah meine Aufwartung machte. Anwar saß seitlich des Throns, im Schatten, mit einem riesigen schwarzen Vollbart (den ich für falsch halte), und mit einer dunklen Brille, was ein unerhörter Verstoß gegen die höfische Etikette ist. Während der Audienz blickte Abd ul Hamid mehrmals zu ihm hin, wie um Rat oder Unterstützung zu finden.

Nun weißt Du, mit wem Du von heute an zu tun hast. Wenn mich mein Gespür nicht täuscht, werden Midhat und Anwar den Sultan auch weiterhin manipulieren, wie es sie gut dünkt, und in ein­zwei Jährchen ...«

»Nun, das Weitere ist uninteressant.« Misinow wischte sich mit dem Taschentuch die schweißige Stirn. »Zumal das Gespür den obergescheiten Nikolai Gnatjew doch noch getäuscht hat. Midhat Pascha hat sich nicht an der Macht gehalten, er wurde ins Exil geschickt.«

Erast Fandorin, der aufmerksam zugehört und sich kein einziges Mal gerührt hatte (im Gegensatz zu Warja, die auf dem harten Stuhl hin und her rutschte), fragte kurz: »Die Eröffnung ist k-klar, das Mittelspiel auch. Aber wo ist das Endspiel?«

Der General nickte beifällig.

»Da liegt der Hund begraben. Das Endspiel geriet dermaßen verwirrend, daß es selbst den vielerfahrenen Gnatjew verblüffte. Am 7. Februar dieses Jahres wurde Midhat Pascha zum Sultan zitiert, unter Bewachung gestellt und auf einen Dampfer gesetzt, der den in Ungnade gefallenen Premierminister nach Europa brachte. Unser Anwar, der seinen Wohltäter verraten hatte, wurde nun >graue Eminenz< beim Sultan persönlich. Er tat alles nur Mögliche, um die Beziehungen zwischen der Pforte und Rußland zu zerreißen. Vor einiger Zeit, als das Schicksal der Türkei am seidenen Faden hing, hat sich Anwar Effendi laut Agentenberichten an den Kriegsschauplatz begeben, um den Gang der Ereignisse mittels geheimer Operationen umzulenken, über deren Inhalt wir auf Mutmaßungen angewiesen sind.«

Da sprach Fandorin sonderbare Worte: »Keinerlei Verpflichtungen. Erstens. Völlige Ha- handlungsfreiheit. Zweitens. Rechenschaft nur Ihnen gegenüber. Drittens.«

Warja verstand den Sinn dieser Worte nicht, aber der Chef der Gendarmerie war hocherfreut und sagte rasch: »Na wunderbar! Fandorin ist wieder der alte! Sie sind mir schon ganz erloschen vorgekommen, mein Lieber. Seien Sie mir nicht böse, ich meine es nicht dienstlich, ich spreche als der Ältere, rein väterlich. Man darf sich nicht selber lebendig begraben. Überlassen Sie das Grab den Toten. In Ihrem Alter, ich bitte Sie! Sie haben doch, wie es in der Arie heißt, toute la vie devant soi (* (franz.) Das ganze Leben noch vor sich.)!«

»Lawrenti Arkadjewitsch!« Die blassen Wangen des Freiwilligen und Diplomaten und Spions liefen dunkelrot an, in der Stimme knirschte Eisen. »Ich habe doch wohl nicht um p-private Ergüsse gebeten.«

Warja fand diese Bemerkung unzulässig grob und zog den Kopf ein: Gleich würde der in seinen besten Gefühlen gekränkte Misinow losbrüllen.

Aber der Satrap seufzte nur und sagte kühl: »Ihre Bedingungen sind akzeptiert. Sie haben Handlungsfreiheit. Das hatte ich sowieso vorgesehen. Gucken Sie, horchen Sie, und wenn Sie etwas Auffälliges bemerken ... Aber ich brauche Sie ja nicht zu belehren.«

»Hat-schi!« nieste Warja und duckte sich erschrocken.

Aber der General erschrak noch heftiger. Er zuckte zusammen, fuhr herum und starrte entgeistert auf die unfreiwillige Zeugin des vertraulichen Gesprächs.

»Gnädige Frau, Sie hier? Sie sind nicht mit dem Oberstleutnant hinausgegangen? Wie konnten Sie es wagen!«

»Ein Blick hätte genügt«, antwortete Warja würdevoll. »Ich bin keine Mücke oder Fliege, die man übersehen könnte. Im übrigen stehe ich unter Arrest, niemand hat mich freigelassen.«

Sie glaubte zu sehen, daß Fandorins Lippen leicht zuckten. Doch nein, dieses Subjekt konnte wohl nicht lächeln.

»Na schön.« In Misinows Stimme schwang eine leichte Drohung. »Sie haben Dinge erfahren, die Sie keineswegs wissen dürfen. Zur Gewährleistung der Staatssicherheit nehme ich Sie in zeitweiligen Administrativarrest. Man wird Sie nach Kischinjow in Garnisonsquarantäne bringen und Sie dort unter Bewachung bis zum Ende des Feldzugs festhalten. Daran sind Sie selber schuld.«

Warja erbleichte.

»Aber ich habe ja meinen Bräutigam noch gar nicht gesehen ...«

»Nach dem Krieg werden Sie ihn sehen«, fiel ihr der Chefgendarm ins Wort und wandte sich zur Tür, um seine Gendarmen zu rufen, aber da mischte sich Fandorin ins Gespräch.

»Lawrenti Arkadjewitsch, ich glaube, es wird g-genügen, wenn Sie Frau Suworowa das Ehrenwort abnehmen.«

»Ich gebe mein Ehrenwort!« rief Warja sogleich, ermuntert von dieser überraschenden Fürsprache.

»Entschuldigen Sie, mein Lieber, aber das kann ich nicht riskieren.« Der General würdigte sie keines Blicks. »Da ist auch noch dieser Bräutigam. Und darf man überhaupt einem Mädchen trauen? Sie wissen ja - lange Haare, kurzer Verstand.«

»Ich habe keine langen Haare! Und das mit dem Verstand ist gemein!« Warjas Stimme zitterte verräterisch. »Was gehen mich Ihre Anwars und Midhats an!«

»Auf meine Verantwortung, E-exzellenz. Ich bürge für Warwara Andrejewna.«

Misinow runzelte mißmutig die Stirn und sagte nichts, Warja aber dachte: Es scheint auch Polizeiagenten zu geben, die nicht gänzlich verkommen sind. Dieser ist immerhin serbischer Kriegsfreiwilliger.

»Dumme Situation«, knurrte der General. Er wandte sich Warja zu und fragte feindselig: »Können

Sie wenigstens irgendwas? Haben Sie eine schöne Schrift?«

»Ich habe Stenographie gelernt! Ich habe als Telegraphistin gearbeitet! Und als Hebamme!« log Warja hinzu.

»Stenographin und Telegraphistin?« fragte Misinow verwundert. »Wenn das so ist. Erast Petrowitsch, ich lasse das Fräulein unter einer Bedingung hier: Sie wird Ihre Sekretärin sein. Sie werden ja mal einen Boten oder Melder brauchen, der keinen Verdacht erregt. Aber bedenken Sie - Sie haben für sie gebürgt.«

»Das geht nicht!« riefen Warja und Fandorin im Chor. Und fuhren verschieden fort:

Fandorin: »Ich brauche keine Sekretärin!«

Warja: »Ich arbeite nicht für die Geheimpolizei!«

»Wie Sie wollen«, sagte der General achselzuckend und stand auf. »Nowgorodzew, die Eskorte!« »Ich bin einverstanden!« schrie Warja.

Fandorin schwieg.

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