ACHTES KAPITEL in welchem Warja des Todesengels ansichtig wird

»Regierungsbote« (Sankt Petersburg) vom 30. Juli (11. August) 1877

»Ungeachtet quälender Anfälle von Katarrh und blutiger Diarrhöe hat der Imperator in den letzten Tagen Spitäler besucht, die überfüllt sind mit Typhuskranken und Verwundeten. Seine Kaiserliche Majestät bekunden eine solche Herzlichkeit für die Leidenden, daß einem bei diesen Szenen unwillkürlich warm ums Herz wird. Die jungen Soldaten stürzen sich wie Kinder auf die Geschenke und zeigen eine ganz naive Freude.

Der Autor dieser Zeilen hat mehr als einmal gesehen, wie die schönen blauen Augen des Imperators von Tränen feucht wurden. Es ist unmöglich, diese Szenen ohne ein besonderes Gefühl der andächtigen Rührung zu beobachten.«

Fandorin sagte dies: »Sie waren lange u-unterwegs, Warwara Andrejewna, haben viel Interessantes versäumt. Gleich nach Ihrem T-telegramm habe ich verfügt, das Zelt und die persönlichen Sachen des Getöteten sorgfältig zu durchsuchen. Es wurde nichts Aufschlußreiches gefunden. Aber vorgestern wurden aus Bukarest die Papiere gebracht, die Lucan bei sich hatte. Und was meinen Sie?«

Warja hob furchtsam den Blick und sah dem Titularrat zum erstenmal ins Gesicht. Mitleid oder gar Verachtung las sie nicht in dessen Augen, nur Konzentration und vielleicht Jagdeifer. Doch die Erleichterung wich sogleich der Scham: Sie hatte getrödelt aus Furcht vor der Rückkehr ins Lager, hatte sich um ihren kostbaren Ruf gesorgt und alles andere darüber vergessen, Egoistin.

»Reden Sie schon!« drängte sie Fandorin, der mit Interesse zusah, wie ein Tränchen über Warjas Wange rollte.

»Bitte v-verzeihen Sie großmütig, daß ich Sie in diese Geschichte hineingezogen habe«, sagte Fandorin schuldbewußt. »Alles hätte ich erwartet, nur d-das ...«

»Was haben Sie in Lucans Papieren gefunden?« fiel Warja ihm ärgerlich ins Wort, denn sie fühlte, wenn das Gespräch nicht sofort eine sachliche Wende nahm, würde sie losheulen.

Ob nun ihr Gesprächspartner diese Möglichkeit erahnte oder ob er das Thema für ausgeschöpft hielt, jedenfalls ging er nicht weiter auf die Bukarester Episode ein.

»Hochinteressante Eintragungen in einem Notizbuch. Da, sehen Sie.«

Er zog ein elegantes Büchlein im Brokateinband aus der Jackentasche und schlug es beim Lesezeichen auf.

Warja überflog eine Zahlen- und Buchstabenkolonne:

19=S -1500

20=S -3400-i

21=J +5000 S-800

22=S -2900

23=J +5000 S-700

24=S -1100

25=J +5000 S-1000

26=S -300

27=J +5000 S-2200

28=S -1900

29=J +15000 S+i

Sie las noch einmal langsamer, dann noch einmal. Gar zu gern hätte sie Scharfsinn gezeigt.

»Eine Chiffre? Nein, die Numerierung geht fortlaufend. Eine Liste? Die Nummern von Regimentern? Die Anzahl von Soldaten? Vielleicht Verluste und Verstärkungen?« Warja zog die Stirn kraus. »Also war Lucan doch ein Spion? Aber was bedeuten die Buchstaben S, J, i? Vielleicht Formeln oder Gleichungen?«

»Sie tun dem Toten zuviel Ehre an, Warwara Andrejewna. Es ist viel einfacher. Wenn das Gleichungen sind, dann sehr anspruchslose. Freilich mit einer Unbekannten.«

»Nur mit einer?« sagte Warja verdutzt.

»Schauen Sie genauer hin. Die erste K-kolonne besteht nur aus Zahlen. Lucan macht dahinter ein Gleichheitszeichen. Neunzehnter bis neunundzwanzigster Juli nach westlichem Stil. Was hat der Oberst an diesen Tagen gemacht?«

»Woher soll ich das wissen? Ich habe ihn nicht beschattet.« Warja überlegte. »Na, im Stab wird er gewesen sein, ist zu den Stellungen geritten.«

»Ich habe den O-oberst kein einziges Mal zu den Stellungen reiten sehen. Eigentlich habe ich ihn immer nur an einem Ort gesehen.«

»Im Klub?«

»Genau. Und was hat er da gemacht?«

»Nichts. Karten gespielt.«

»B-bravo, Warwara Andrejewna.«

Sie blickte noch einmal auf das Blatt.

»Also hat er die Spielergebnisse notiert! Nach dem S ein Minus, nach dem J immer ein Plus. Mit dem S bezeichnet er Verluste, mit dem J Gewinne. Das soll alles sein?« Warja zuckte enttäuscht die Achseln. »Wo ist da die Spionage?«

»Es gab keine. Spionage ist eine hohe Kunst, doch hier haben wir es mit primitiver B-bestechung und Verrat zu tun. Am 19. Juli, dem Tag vor dem ersten Angriff auf Plewna, erschien im Klub der Raufbold Surow, und Lucan vertiefte sich ins Spiel.«

»Also ist S gleich Surow?« rief Warja. »Warten Sie« Sie blickte auf die Ziffern und flüsterte: »Neunundvierzig ... sieben im Sinn ... Hundertvier ...« Sie addierte. »Insgesamt hat er 15800 an Surow verloren. Das scheint zu stimmen, Surow hat auch von fünfzehntausend gesprochen. Aber was bedeutet das i?«

»Ich v-vermute, das ist der berüchtigte Ring, auf rumänisch inel. Am 20. Juli hat Lucan ihn verspielt, am 29. zurückgewonnen.«

»Aber wer ist J?« Warja rieb sich die Stirn. »Unter den Spielern war doch wohl keiner, der mit J anfängt. Von dem hat Lucan gewonnen ... hm ... Oho! Fünfunddreißigtausend! An so große Gewinne kann ich mich nicht erinnern. Damit hätte er auch bestimmt geprahlt.«

»Es gab nichts zum Prahlen. Das ist kein Gewinn, sondern das Honorar für Verrat. Zum erstenmal hat der geheimnisvolle J dem Oberst am 21. Juli Geld gegeben, nachdem der gegen Surow mit Pauken und Trompeten verloren hatte. Des weiteren bekam der Verstorbene von seinem unbekannten Gönner je f-fünftausend am 23., am 25. und am 27., das heißt, jeden zweiten Tag. Dadurch konnte er weiter gegen Surow spielen. Am 29. erhielt Lucan mit einem Schlag fünfzehntausend. Fragt sich, warum so v-viel und warum gerade am 29.?«

»Er hat die Disposition vom zweiten Angriff auf Plewna verraten!« flüsterte Warja. »Der verhängnisvolle Sturmangriff war am 30. Juli, am nächsten Tag!«

»Nochmals bravo. Da haben Sie das Geheimnis von Lucans Scharfsicht und von der Treffgenauigkeit der türkischen Artilleristen, die unsre Kolonnen schon auf dem Anmarsch zusammenschossen.«

»Aber wer ist J? Haben Sie denn niemanden im Verdacht?«

»Doch doch«, brummte Fandorin kaum verständlich. »Aber noch fügt sich nicht alles zusammen.«

»Also müssen wir nur noch diesen J finden, dann kommt Petja frei, Plewna wird genommen, und der Krieg ist zu Ende?«

Fandorin überlegte, zog die glatte Stirn in Falten und antwortete ernsthaft: »Ihre logische Kette ist nicht ganz k-korrekt, aber im Prinzip richtig.«

In den Presseklub traute sich Warja an diesem Abend nicht. Sicherlich würden ihr alle die Schuld an Lucans Tod geben (sie wußten ja nichts von dem Verrat) und an der Ausweisung des allgemein beliebten d'Hevrais. Der Franzose war nicht aus Bukarest ins Lager zurückgekehrt. Fandorin wußte zu erzählen, daß der Duellant in Arrest genommen und aufgefordert worden war, das Gebiet des

rumänischen Fürstentums binnen vierundzwanzig Stunden zu verlassen.

In der Hoffnung, Surow oder wenigstens MacLaughlin zu treffen und von ihnen zu erfahren, wie streng die öffentliche Meinung mit ihr, der Verbrecherin, ins Gericht ging, spazierte die arme Warja in hundert Schritten Abstand um das Zelt herum, das mit bunten Fähnchen geschmückt war. In ihr Zelt zurückzukehren hatte sie absolut keine Lust. Die Krankenschwestern, herzensgute, doch unbedarfte Geschöpfe, würden doch nur wieder erörtern, wer von den Ärzten ein feiner Kerl und wer ein Schuft sei und ob der einarmige Oberleutnant Strumpf aus Zelt sechzehn es ernst gemeint habe, als er Nastja Prjanischnikowa einen Heiratsantrag machte.

Der Zeltvorhang bewegte sich, Warja erblickte eine stämmige Gestalt in blauer Gendarmenmontur, wandte sich eilig ab und tat, als wäre sie in den Anblick des Dörfchens Bohot versunken, in dem der Stab des Oberbefehlshabers Quartier genommen hatte. Wo, dachte sie, ist da die Gerechtigkeit? Der schäbige Intrigant und Geheimschnüffler Kasansaki geht einfach in den Klub, während sie, eigentlich doch das unschuldige Opfer von widrigen Umständen, sich auf der staubigen Straße herumdrücken muß wie ein Hofhund! Warja schüttelte entrüstet den Kopf und war fest entschlossen, in ihr Zelt zu gehen, doch da ertönte von hinten die einschmeichelnde Stimme des verhaßten Griechen: »Frau Suworowa, welch angenehme Begegnung!«

Warja drehte sich um und schnitt eine Grimasse, überzeugt, auf die ungewohnte Liebenswürdigkeit des Oberstleutnants werde alsbald ein Schlangenbiß folgen.

Kasansaki sah sie an, die dicken Lippen zu einem Lächeln verzogen, und sein Blick war fast schmeichlerisch.

»Alle im Klub reden nur von Ihnen und warten ungeduldig auf Sie. Wissen Sie, nicht jeden Tag werden wegen einer schönen Dame die Klingen gekreuzt, noch dazu mit letalem Ausgang.«

Warja wartete argwöhnisch auf den Pferdefuß, aber der Gendarm lächelte noch süßer.

»Graf Surow hat schon die ganze Eskapade in den saftigsten Farben ausgemalt, und dann dieser Artikel ... «

»Welcher Artikel?« fragte Warja ernstlich erschrocken.

»Nun, unser in Ungnade gefallener d'Hevrais hat in der >Revue Parisienne< eine ganze Kolumne veröffentlicht, in der er den Zweikampf beschreibt. Romantisch. Sie nennt er nur >la belle m-lle S.<.«

»Und«, Warjas Stimme zitterte ein wenig, »gibt man mir die Schuld?«

Kasansaki zog die dichten Augenbrauen hoch.

»Allenfalls MacLaughlin und Perepjolkin. Aber der erste ist ein bekannter Nörgler, und der zweite kommt nur selten mal angeritten, höchstens mit Sobolew. Apropos, Perepjolkin hat für den letzten Kampf das Georgskreuz gekriegt. Für welche Verdienste wohl? Da sieht man's - zur rechten Zeit am rechten Ort sein ist alles.«

Der Oberstleutnant schmatzte neidisch und kam nun vorsichtig auf das Wichtigste zu sprechen.

»Alle rätseln, wo unsere Heldin geblieben ist, und was stellt sich heraus? Unsere Heldin ist mit wichtigen Staatsangelegenheiten beschäftigt. Na, was geht dem schlauen Herrn Fandorin durch den Sinn? Was für Hypothesen gibt es über die geheimnisvollen Notizen von Lucan? Wundern Sie sich nicht, Warwara Andrejewna, ich bin auf dem laufenden. Schließlich leite ich die Sonderabteilung.«

Sieh mal an, dachte Warja und runzelte die Stirn. Hab ich's doch gewußt. Wie flink der sich ins gemachte Bett legt.

»Erast Petrowitsch hat mir was erklärt, aber ich hab's nicht ganz verstanden«, sagte sie mit naivem Wimpernschlag. »Irgendwas mit >S< oder >J<. Fragen Sie am besten den Herrn Titularrat selbst. Jedenfalls ist mein Pjotr Jablokow gänzlich unschuldig, soviel steht fest.«

»Verrat hat er sich möglicherweise nicht zuschulden kommen lassen, aber verbrecherische Fahrlässigkeit bestimmt.« Die Stimme des Gendarmen hatte wieder das stählerne Klirren. »Mag Ihr

Bräutigam einstweilen sitzen, es geschieht ihm nichts.« Aber Kasansaki änderte sogleich wieder den Ton, er hatte sich wohl erinnert, daß er heute in einer anderen Rolle auftrat. »Es findet sich alles, Warwara Andrejewna. Ich bin nicht hochnäsig und stehe nicht an, einen Irrtum zu bekennen. Nehmen wir zum Beispiel den unvergleichlichen Monsieur d'Hevrais. Ja, ich gebe zu: Ich habe ihn verdächtigt und verhört und hatte Grund dazu. Wegen seines verhängnisvollen Interviews mit dem türkischen Oberst hat unsere Führung einen Fehler gemacht, der Menschenleben kostete. Ich hatte die Hypothese, daß Oberst Ali Bei eine mythische Person ist, die sich der Franzose ausgedacht hat, aus journalistischer Eitelkeit oder aus anderen, weniger unschuldigen Erwägungen. Jetzt sehe ich, daß ich ungerecht war.« Er senkte vertraulich die Stimme. »Wir haben Agentenmeldungen aus Plewna bekommen.

Osman Pascha hat tatsächlich einen Berater Ali Bei. Der zeigt sich fast nie in der Öffentlichkeit. Unser Mann hat ihn von weitem gesehen, er konnte nur einen schwarzen Vollbart und eine dunkle Brille ausmachen. D'Hevrais hat übrigens auch den Bart erwähnt.«

»Bart, Brille?« Warja senkte auch die Stimme. »Ist das nicht der, wie heißt er gleich, Anwar Effendi?«

»Psst!« Kasansaki sah sich nervös um und sprach noch leiser. »Ich bin sicher, daß er es ist. Ein sehr geschickter Herr. Er hat unseren d'Hevrais schön um den Finger gewickelt. Nur drei Bataillone, hat er gesagt, die Hauptkräfte kämen nicht so bald heran. Nicht besonders einfallsreich, aber elegant. Und wir Holzköpfe haben den Köder geschluckt.«

»Aber wenn am Mißerfolg des ersten Sturmangriffs d'Hevrais nicht schuld ist, sondern der von ihm getötete Lucan, der Verräter, dann ist doch der Journalist zu Unrecht ausgewiesen worden?« fragte Warja.

»So ist es. Der Ärmste hat einfach Pech gehabt.« Der Oberstleutnant machte eine wegwerfende Handbewegung und trat näher. »Sie sehen, wie offen ich zu Ihnen bin, Warwara Andrejewna. Ich habe Ihnen eine geheime Information mitgeteilt. Und Sie wollen mir eine Lappalie vorenthalten. Ich habe mir die Liste aus dem Notizbuch abgeschrieben und plage mich schon den dritten Tag damit herum, vergeblich. Zuerst dachte ich, eine Chiffre. Sieht nicht so aus. Ein Verzeichnis der Truppenteile oder ihrer Bewegungen? Verluste und Verstärkungen? Nun sagen Sie doch, was meint Fandorin?«

»Ich sage nur eines: Es ist viel einfacher«, bemerkte Warja herablassend, rückte an ihrem Hut und ging leichtfüßig zum Presseklub.

Die Vorbereitungen auf den dritten und endgültigen Sturmangriff gegen die Festung Plewna zogen sich über den ganzen glutheißen August hin. Obwohl die Zurüstungen strenger Geheimhaltung unterlagen, wurde im Lager offen darüber gesprochen, daß die Schlacht am 30. sein würde, dem Allerhöchsten Namenstag. Von früh bis spät fanden in den umliegenden Tälern und Hügeln gemeinsame Manöver von Infanterie und Reiterei statt, über die Straßen zogen Tag und Nacht Feld- und Belagerungsgeschütze. Die abgekämpften jungen Soldaten waren traurig anzusehen: durchgeschwitzte Feldblusen und staubgraue Mützen mit Sonnenschutztüchern, aber die allgemeine Stimmung war freudig und rachedurstig: Jetzt ist Schluß, unsere Geduld ist am Ende, wir Russen spannen langsam an, kommen aber schnell in Fahrt, wir klatschen die lästige Plewna-Fliege mit der ganzen Kraft unserer Bärentatze tot.

Im Klub und im Offizierskasino, wo Warja zu speisen pflegte, hatten sich alle in Strategen verwandelt - sie zeichneten Skizzen, warfen mit den Namen türkischer Paschas um sich, rätselten, von wo der Hauptschlag geführt würde. Ein paarmal kam Sobolew geritten, gab sich aber wichtig und geheimnisvoll, spielte auch nicht mehr Schach, sah Warja würdevoll an und klagte nicht mehr über das böse Schicksal. Ein Stabsmitarbeiter, den sie kannte, flüsterte ihr zu, der General werde bei dem bevorstehenden Angriff wenn nicht die Schlüssel-, so doch eine eminent wichtige Rolle spielen, und er befehlige nunmehr zwei Brigaden und ein Regiment. Also wurden seine Verdienste endlich anerkannt.

Ringsum herrschte lebhaftes Treiben, und Warja bemühte sich nach Kräften, sich von der allgemeinen Hochstimmung anstecken zu lassen, aber es gelang ihr nicht. Um die Wahrheit zu sagen, sie hatte die ewigen Gespräche über Reserven, Dislozierungen und Verbindungswege gründlich satt. Zu Petja durfte sie noch immer nicht, Fandorin lief finster wie die Nacht herum und beantwortete Fragen mit unartikuliertem Gebrumm, Surow zeigte sich nur als Begleiter seines Patrons, er warf Warja Blicke zu wie ein gefangener Wolf und schnitt dem Büfettier Semjon klägliche Grimassen, aber er spielte nicht und bestellte keinen Wein - bei Sobolew herrschte eiserne Disziplin. Flüsternd klagte er, daß Perepjolkin »die ganze Wirtschaft« an sich gerissen habe und keinen mehr atmen lasse. Und Sobolew stärke diesem Kerl auch noch den Rücken und dulde nicht, daß ihm mal eine anständige Abreibung verpaßt wurde. Wenn nur bald der Sturmangriff begänne!

In all den letzten Tagen war das einzige freudige Ereignis die Rückkehr von d'Hevrais, der, wie sich herausstellte, das Unwetter in Kischinjow abgewartet hatte und, nachdem er von seiner vollständigen Rehabilitierung erfahren hatte, an den Kriegsschauplatz zurückgeeilt war. Aber auch er war wie ausgewechselt. Er unterhielt sie nicht mehr mit spannenden Geschichten, vermied es, über das Bukarester Ereignis zu sprechen, sauste dauernd durch das Lager, um den versäumten Monat nachzuholen, und kritzelte Artikelchen für seine »Revue«. Warja fühlte sich ungefähr so wie im Restaurant des »Royal«, als die Männer, nachdem sie Blut gerochen hatten, wie von der Kette gelassen losstürmten und völlig vergaßen, daß sie existierte. Das war eine weitere Bestätigung dafür, daß sich im Mann das tierische Prinzip deutlicher ausprägte als in der Frau, daß die Frau die höher entwickelte Spielart des homo sapiens war, das feinere, kompliziertere Wesen. Es war nur schade, daß sie ihre Gedanken niemandem mitteilen konnte. Wenn die Krankenschwestern so etwas hörten, prusteten sie nur in die Hand, während Fandorin zerstreut nickte und an etwas ganz anderes dachte.

Kurz und gut, Stagnation und Langeweile.

Am 30. August wurde Warja in aller Frühe von einem ungeheuren Dröhnen geweckt. Die erste Kanonade hatte begonnen. Am Vorabend hatte Fandorin ihr erklärt, außer der üblichen Artillerievorbereitung werde diesmal eine psychologische Methode angewendet - ein neues Wort in der Kriegskunst. Mit dem ersten Sonnenstrahl, als es für die Gläubigen Zeit war, ihr Namas-Gebet zu verrichten, eröffneten dreihundert russische und rumänische Geschütze ein orkanartiges Feuer auf die türkischen Befestigungen. Punkt neun wurde die Kanonade eingestellt. Osman Pascha schickte in Erwartung der Attacke frische Truppen nach vorn, aber nichts geschah: Die Verbündeten rührten sich nicht vom Fleck, und über den Weiten um Plewna herrschte Stille. Punkt elf Uhr brach ein neuer Feuerschlag über die staunenden Türken herein, er dauerte bis eins. Wieder Stille. Der Gegner barg die Verwundeten und Gefallenen, flickte eilig die Zerstörungen, rollte neue Geschütze heran, doch der Angriff ließ noch immer auf sich warten. Bei den Türken, die sich nicht durch Nervenstärke auszeichneten und bekanntlich zu kurzzeitigen Energieleistungen fähig waren, nicht aber zu längeren Anstrengungen, machte sich Verwirrung, vielleicht gar Panik breit. In der vordersten Linie war sicherlich die gesamte moslemische Führung versammelt, guckte durch Feldstecher und begriff nichts. Und da, um vierzehn Uhr dreißig, rollte die dritte Welle der Kanonade los, und nach einer weiteren halben Stunde sahen die vom Warten zermürbten Türken die Sturmkolonnen auf sich zu kommen.

Warja versetzte sich in die Lage der unglücklichen Verteidiger von Plewna und bekam eine

Gänsehaut. Das war ja furchtbar - eine, zwei, drei Stunden auf die entscheidenden Ereignisse zu warten, und ganz umsonst. Sie würde es gewiß nicht ausgehalten haben. Pfiffig ausgedacht, das war den Stabsgenies nicht abzusprechen.

Wumm-wumm! Wumm-wumm! machten die schweren Belagerungsgeschütze. Wum-wum, wum! echoten etwas schwächer die Feldgeschütze. Das dauert noch, dachte Warja, man müßte was frühstücken.

Die Journalisten, nicht eingeweiht in den listigen Plan der Artillerievorbereitung, waren noch bei Dunkelheit zu den Stellungen gefahren. Der Standort der Beobachtungsstelle für die Korrespondenten war vorher mit der militärischen Führung abgesprochen worden. Nach langen Diskussionen hatten die Journalisten beschlossen, die Genehmigung für eine Anhöhe zu erbitten, die zwischen Griwiza, dem Zentrum der Stellung, und der Chaussee nach Lowetsch lag, hinter der sich die linke Flanke hinzog. Anfangs hatten die meisten Journalisten näher zur rechten Flanke gewollt, weil der Hauptschlag offenbar von hier aus geführt werden sollte, aber MacLaughlin und d'Hevrais hatten ihre Kollegen umgestimmt. Ihr stärkstes Argument: Die linke Flanke mochte durchaus zweitrangig sein, aber dort hielt sich Sobolew auf, also waren Sensationen zu erwarten.

Nachdem Warja mit den blassen, bei jedem Schuß zusammenzuckenden Krankenschwestern gefrühstückt hatte, machte sie sich auf die Suche nach Fandorin. Im Stab war der Titularrat nicht, auch nicht in der Sonderabteilung. Für alle Fälle warf Warja einen Blick in sein Zelt, da saß er seelenruhig in seinem Klappsessel, mit dem Saffianpantoffel wippend, ein Buch in der Hand, und trank Kaffee.

»Wann fahren Sie zur Stellung?« fragte Warja und setzte sich auf das Bett, denn eine andere Sitzgelegenheit gab es nicht.

Fandorin zuckte die Achseln. Sein Gesicht zeigte frische Röte. Das Lagerleben schien ihm gut zu bekommen.

»Wollen Sie etwa den ganzen Tag hier sitzen? D'Hevrais hat gesagt, die heutige Schlacht sei der größte Sturmangriff auf eine befestigte Stellung in der ganzen Weltgeschichte. Grandioser als die Einnahme von Malachow Kurgan, dem Hauptfort von Sewastopol.«

»Ihr d'Hevrais l-lügt immer was dazu«, antwortete der Titularrat. »Waterloo und Borodino waren gewaltiger, ganz zu schweigen von der Völkerschlacht bei Leipzig.«

»Sie sind ein Ungeheuer! Das Schicksal Rußlands entscheidet sich, Tausende Menschen sterben, und er sitzt da und liest ein Buch! Das ist ja geradezu unsittlich!«

»Aus sicherer Entfernung zusehen, wie Menschen einander u-umbringen, das ist sittlich, was?« In Fandorins Stimme klang - o Wunder - ein menschliches Gefühl: Gereiztheit. »Ergebensten D-dank, das Schauspiel habe ich schon beobachtet und sogar daran teilgenommen. Es hat mir nicht g-gefallen. Da bleibe ich lieber bei meinem Tacitus.« Er steckte die Nase demonstrativ in das Buch.

Warja sprang auf, stampfte mit dem Fuß und wandte sich dem Ausgang zu, da sagte Fandorin: »Seien Sie dort vorsichtig, ja? Rühren Sie sich nicht von der Beobachtungsstelle. Sonst passiert noch was.«

Sie blieb stehen und sah Fandorin verwundert an.

»Sie machen sich Sorgen?«

»W-wirklich, Warwara Andrejewna, was wollen Sie da? Zuerst wird lange mit Kanonen geschossen, dann stürmen die Soldaten los, Rauchwolken steigen auf, Sie sehen nichts, hören nur, wie die einen >hurra< und die anderen vor Schmerz schreien. Sehr interessant. Ihre und meine Arbeit ist nicht dort, sondern hier, im H-hinterland.«

»Etappenhocker.« Dieses passende Wort fiel ihr im richtigen Moment ein, und sie ließ den Misanthropen mit seinem Tacitus allein.

Die Anhöhe, auf der sich die Presseleute und die Militärbeobachter aus den neutralen Ländern niedergelassen hatten, war leicht zu finden, Warja sah schon von der mit Munitionswagen verstopften Straße aus das weiße Tuch, das vom Wind schwach bewegt wurde. Dort hatten sich an die hundert Personen versammelt, wenn nicht mehr.

Der Straßenordner, ein vom Schreien heiserer Hauptmann mit roter Armbinde, sorgte dafür, daß die Geschosse an die richtige Stelle der vordersten Linie gelangten. Er lächelte dem hübschen Fräulein mit dem Spitzenhütchen zu und winkte.

»Dort lang, Mademoiselle. Aber biegen Sie nirgends ab. Auf die weiße Fahne schießt die feindliche Artillerie nicht, doch überall sonst kann schon mal ein Granätchen einschlagen. Wo willst du denn hin, du Dorftrottel? Ich hab doch gesagt, die Vierpfünder zur Sechsten!«

Warja trieb ihren friedlichen Goldfuchs an, den sie aus dem Pferdestall des Lazaretts entliehen hatte, und ritt auf die weiße Fahne zu, wobei sie neugierig Umschau hielt.

Das ganze Tal vor der flachen Hügelkette, hinter der das Vorfeld von Plewna begann, war von seltsamen Inselchen gesprenkelt - Infanteriekompanien, die sich im Gras niedergelassen hatten und auf den Angriffsbefehl warteten. Die Soldaten unterhielten sich halblaut, von Zeit zu Zeit erschallte bald da, bald dort ein unnatürlich lautes Gelächter. Die Offiziere standen in kleinen Grüppchen beisammen und rauchten Papirossy. Die heranreitende Amazone Warja wurde von ihnen verwundert und ungläubig beäugt wie ein Wesen aus einer anderen, unwirklichen Welt. Der Anblick des wimmelnden, summenden Tals stimmte Warja ängstlich. Sie sah deutlich über dem staubigen Gras den Todesengel kreisen, der Ausschau hielt und Gesichtern sein unsichtbares Siegel aufdrückte.

Warja stieß dem Pferd die Ferse in die Flanke, um schneller an diesem grausligen Wartesaal vorbeizukommen.

Dafür waren an der Beobachtungsstelle alle voll lebhafter Vorfreude. Es herrschte Picknickatmosphäre, auf der Erde waren weiße Tischtücher ausgebreitet, und man speiste mit Appetit.

»Ich dachte schon, Sie kommen nicht!« begrüßte d'Hevrais sie, der ebenso aufgedreht war wie die anderen. Warja vermerkte, daß er seine berühmten verfärbten Uraltstiefel angezogen hatte.

»Wir stehen hier seit dem Morgengrauen herum wie die Idioten, und die russischen Offiziere kommen erst gegen Mittag. Herr Kasansaki hat sich vor einer Viertelstunde herbemüht, und von ihm haben wir erfahren, daß der Sturmangriff erst um drei losgeht«, schnatterte der Journalist vergnügt. »Ich sehe, Sie haben die Disposition auch schon vorher gekannt. Das ist nicht schön, Mademoiselle Barbara, Sie hätten mir ja auch einen freundschaftlichen Tip geben können. Ich bin schon um vier aufgestanden, und das ist für mich schlimmer als der Tod.«

Der Franzose half dem Fräulein aus dem Sattel, bot ihr einen Klappstuhl an und erklärte: »Da drüben auf den gegenüberliegenden Höhen sind die befestigten Stellungen der Türken. Sehen Sie die Explosionswolken? Das ist das Zentrum ihrer Stellung. Parallel dazu verläuft die fünfzehn Kilometer lange Linie der russisch-rumänischen Armee, wir können von hier aus nur einen Teil dieses gewaltigen Raums überschauen. Beachten Sie den runden Hügel, nein, nicht den, da wo das weiße Zelt ist. Das ist das zeitweilige Hauptquartier. Dort sind der Befehlshaber der Westgruppe Fürst Karl von Rumänien, der Oberbefehlshaber Großfürst Nikolai und Imperator Alexander persönlich. Oh, die Leuchtkugeln! Ein malerisches Schauspiel, nicht wahr?«

Über dem menschenleeren Feld, das die feindlichen Seiten trennte, zeichneten Rauchstreifen steile Bögen - als hätte jemand das Himmelsgewölbe in Scheiben geschnitten wie eine Melone oder einen Brotlaib. Warja legte den Kopf in den Nacken und sah hoch droben drei bunte Bälle, den einen nahe, den zweiten weiter weg, über dem Hauptquartier, und den dritten über dem Horizont.

»Das sind Luftballons, Warwara Andrejewna«, sagte der herzugetretene Kasansaki. »Mit ihnen und mit Signalfähnchen wird das Artilleriefeuer korrigiert.«

Der Gendarm war noch unangenehmer anzusehen als sonst. Er ließ erregt die Finger knacken, seine Nüstern blähten sich nervös. Der Vampir hatte Menschenblut gewittert. Warja trug ihren Stuhl demonstrativ ein Stück weiter, doch der Oberstleutnant übersah ihr Manöver. Er trat wieder zu ihr und zeigte dahin, wo es hinter den flachen Hügeln besonders heftig krachte.

»Unser gemeinsamer Bekannter Sobolew leistet sich wieder mal ein tolles Stück. Laut Disposition besteht seine Rolle darin, gegen die Krischin-Redoute einen Scheinangriff zu führen, während die Hauptkräfte den Schlag im Zentrum führen. Aber unser Ehrgeizling konnte sich nicht zügeln. Entgegen dem Plan hat er sich schon am Morgen auf einen Frontalangriff eingelassen. Nicht genug, daß er sich von den Hauptkräften gelöst hat und durch die türkische Reiterei abgeschnitten wurde, gefährdet er die ganze Operation! Na, der wird was auf die Nase kriegen!«

Kasansaki zog eine goldene Uhr aus der Tasche, nahm die Mütze ab und bekreuzigte sich.

»Drei Uhr! Jetzt geht's los!«

Warja drehte sich um und sah, wie das ganze Tal in Bewegung geriet: Die Inselchen der weißen Feldblusen wogten, bewegten sich rasch zur vordersten Linie. An der Anhöhe vorbei liefen blasse Männer, vorneweg, humpelnd, ein älterer Offizier mit langem Schnauzbart.

»Nicht zurückbleiben, das Bajonett höher!« schrie er durchdringend und blickte zurück. »Semenzow, paß mir auf! Ich reiß dir die Rübe ab!«

Schon gingen andere Kompanien vorbei, doch Warjas Blick folgte noch immer jener ersten mit dem älteren Kommandeur und dem unbekannten Semenzow.

Die Kompanie entfaltete sich zur Linie und lief langsam auf die ferne Redoute zu, wo immer dichter Erdfontänen aufsprangen.

»Na, jetzt gibt er's ihnen«, sagte jemand neben Warja.

Fern auf dem Feld krepierten schon Granaten, der über die Erde kriechende Rauch versperrte die Sicht, aber Warjas Kompanie lief immer weiter, sie wurde offenbar nicht beschossen.

»Los, Semenzow, los«, flüsterte Warja und ballte die Fäuste.

Bald war »ihre« Kompanie nicht mehr auszumachen. Als der freie Raum vor der Redoute bis zur Mitte mit weißen Feldblusen gefüllt war, fetzten Detonationen mitten in die Menschenmasse hinein, wieder und immer wieder.

»Die harken gründlich«, hörte Warja. »Die Artillerievorbereitung hat nichts gebracht! Statt sich mit der blöden Psychologie dickezutun, hätte man lieber pausenlos draufhämmern sollen.«

»Sie laufen! Sie fliehen!« Kasansaki packte Warja an der Schulter und preßte sie heftig.

Sie warf ihm von unten einen bösen Blick zu, begriff aber, daß der Mann außer sich war. Sie riß sich los und sah aufs Feld. Es war in einen Rauchschleier gehüllt, in dem weiße Feldblusen schimmerten und schwarze Erdklumpen hochflogen.

Auf dem Hügel war es still geworden. Aus dem graublauen Dunst kam schweigend die Menge gelaufen, umfloß die Beobachtungsstelle auf beiden Seiten. Warja sah rote Flecke auf den Feldblusen und zog den Kopf zwischen die Schultern.

Der Qualm wurde etwas dünner. Jetzt war das Tal wieder zu sehen, übersät mit schwarzen Granattrichtern und weißen Punkten, Feldblusen. Warja blickte genauer hin und bemerkte, daß die hellen Punkte sich bewegten, und sie hörte ein dumpfes Heulen, das aus der Erde selbst zu kommen schien - das Geschützfeuer war eingestellt worden.

»Die erste Kraftprobe ist beendet«, sagte der Major, den der Hauptstab den Presseleuten beigegeben hatte. »Osman hat sich verschanzt, er wird uns noch zu schaffen machen. Gleich gibt es eine neue Artillerievorbereitung und dann wieder >hurra-hurra<.«

Warja wurde schlecht.

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