DREIZEHNTES KAPITEL, in welchem Fandorin eine lange Rede hält

»WienerZeitung« (Wien), vom 21. (9.) Januar 1878

»Die Kräfteverteilung zwischen den feindlichen Seiten ist in der Schlußetappe des Krieges so beschaffen, daß wir nicht länger die Gefahr einer panslawischen Expansion ignorieren dürfen, welche die Südgrenzen der Doppelmonarchie bedroht. Zar Alexander und seine Satelliten Rumänien, Serbien und Montenegro haben eine siebenhunderttausendköpfige eiserne Streitmacht zusammengezogen, die mit anderthalbtausend Kanonen ausgerüstet ist. Fragt sich, gegen wen? Gegen die demoralisierte türkische Armee, die nach sehr optimistischen Berechnungen derzeit nicht mehr als hundertzwanzigtausend hungrige, verängstigte Soldaten zählt?

Das ist nicht komisch, Herrschaften! Man muß ein Vogel Strauß sein; um nicht die Gefahr zu sehen, die über dem ganzen aufgeklärten Europa schwebt. Zögern wäre gleichbedeutend mit dem Tode. Wenn wir die Hände in den Schoß legen und zusehen, wie skythische Horden ... «

Fandorin warf den Mantel ab, und in seiner rechten Hand blinkte ein schöner kleiner Revolver aus brüniertem Stahl. Im selben Moment schnippte Misinow mit den Fingern, zwei Gendarmen kamen herein und richteten die Karabiner auf den Korrespondenten.

»Was ist denn das für ein Theater?« blaffte Sobolew. »Was heißt hier >salam aleikumEffendi

Warja drehte sich nach Charles um. Der stand an der Wand, die Arme vor der Brust gekreuzt, und sah den Titularrat mit einem ungläubigen und spöttischen Lächeln an.

»Erast Petrowitsch!« stammelte Warja. »Sie sind doch gereist, um MacLaughlin zu finden!«

»Warwara Andrejewna, ich bin nach England gereist, aber keineswegs, um MacLaughlin zu finden. Mir war k-klar, daß er nicht dort ist und nicht dort sein kann.«

»Aber Sie haben doch mit keinem Wort widersprochen, als Seine Majestät ...« Warja hielt inne, fast hätte sie ein Staatsgeheimnis ausgeplaudert.

»Ich ha-hatte keine Beweise. Und nach Europa mußte ich sowieso fahren.«

»Und was haben Sie dort herausgefunden?«

»Wie zu erwarten, haben die Intrigen des englischen Kabinetts nichts damit zu tun. Das erstens. Ja, in London liebt man uns nicht. Ja, man bereitet sich auf einen großen Krieg vor. Aber Kuriere ermorden und Diversionsakte durchführen, das wäre doch zu viel. Das widerspräche dem sportlichen Geist der Briten. Das hat mir auch Graf Schuwalow gesagt.

Ich war in der R-redaktion der >Daily Post< und konnte mich von der völligen Unschuld MacLaughlins überzeugen. Das zweitens. Die Freunde und Kollegen bezeichnen James als einen geradlinigen und arglosen Mann, der zu der britischen Politik eine ablehnende Einstellung hat und Verbindung zur irischen Nationalbewegung unterhält. Als Agent des tückischen Disraeli kommt er nicht in Betracht.

Auf der Rückreise - es lag ja am Wege - blieb ich ein paar Tage in Paris. Ich schaute auch bei der Redaktion der >Revue Parisienne< vorbei ...«

D'Hevrais bewegte sich, und die Gendarmen rissen die Karabiner hoch, bereit zu schießen. Der Journalist schüttelte ausdrucksvoll den Kopf und legte die Hände nach hinten unter die Schöße seines Gehrocks.

»Dort hörte ich«, fuhr Fandorin fort, als wäre nichts weiter, »daß den berühmten Charles d'Hevrais noch nie jemand in seiner Redaktion gesehen hatte. Das drittens. Er pflegte seine glänzenden Artikel, Skizzen und Feuilletons mit der Post oder dem Telegraphen zu schicken.«

»Na und?« sagte Sobolew entrüstet. »Charles ist kein Parkettschleicher, sondern ein Abenteurer.«

»Und d-das sogar in größerem Maße, als Euer Exzellenz vermuten. Ich durchwühlte die Jahrgänge der >Revue Parisienne< und fand hochinteressante Übereinstimmungen. Die ersten Beiträge schickte Herr d'Hevrais vor zehn Jahren aus Bulgarien - damals war Midhat Pascha Gouverneur in der Donauprovinz, und sein Sekretär war der junge Beamte Anwar. 1868 schickte d'Hevrais aus Konstantinopel eine Reihe glänzender Skizzen über die Sitten am Hof des Sultans. Es war die Periode des ersten Aufstiegs von Midhat Pascha, als er in die Hauptstadt gerufen wurde, um den Staatsrat zu leiten. Ein Jahr später wurde der Reformer in eine ehrenvolle Verbannung geschickt, ins ferne Zweistromland, und die flotte Feder des talentierten Journalisten wechselte wie durch einen Zauber von Konstantinopel nach Bagdad. Drei Jahre (so lange wie Midhat Pascha Gouverneur im Irak war) schrieb d'Hevrais über die Ausgrabungen assyrischer Städte, über arabische Scheichs und den Suezkanal.«

»Das stimmt nicht!« unterbrach Sobolew den Titularrat ärgerlich. »Charles hat den ganzen Orient bereist. Er hat auch von anderen Plätzen berichtet, die Sie jetzt nicht erwähnen, weil sie Ihre Hypothese gefährden. 1873 zum Beispiel war er mit mir in Chiwa. Wir waren beide halbtot vor Durst und vor Hitze. Und dort gab es keinen Midhat, Herr Untersuchungsführer!«

»Und von wo war er nach Chiwa, nach Mittelasien gekommen?« fragte Fandorin den General.

»Ich glaube, vom Iran.«

»Ich nehme an, nicht vom Iran, sondern vom Irak. Ende 1873 druckte die Zeitung seine lyrischen Etüden über Hellas. Warum plötzlich über Hellas? Weil der Gönner unseres Anwar Effendi damals nach Saloniki versetzt wurde. Apropos, Warwara Andrejewna, erinnern Sie sich an die schöne Geschichte von den alten Stiefeln?«

Warja nickte und sah Fandorin wie verzaubert an. Der trug geradezu Unglaubliches vor, aber wie sicher, wie schön, wie souverän! Und er stotterte gar nicht mehr.

»Dort ist ein Schiffbruch erwähnt, der sich im November 1873 im Thermäischen Meerbusen zutrug. Übrigens, an der Küste dieses Meerbusens liegt die Stadt Saloniki. Der Artikel hat mir gezeigt, daß der Autor sich 1867 in Sofia aufhielt und 1871 im Zweistromland, denn ebendort hatten arabische Nomaden die britische archäologische Expedition von Sir Andrew Wayard niedergemetzelt. Nach den >Alten Stiefeln< hatte ich schon einen ernsthaften Verdacht gegen Monsieur d'Hevrais, aber mit seinen geschickten Manövern hat er mich noch ein paarmal in die Irre geführt ... Und jetzt«, Fandorin versorgte den Revolver in die Tasche und wandte sich Misinow zu, »lassen Sie uns ausrechnen, welcher Schaden uns durch die Tätigkeit des Herrn Anwar entstanden ist. Monsieur d'Hevrais hat sich dem Korps der Kriegsberichterstatter Ende Juni vorigen Jahres angeschlossen. Es war die Zeit der siegreichen Angriffe unserer Armee. Die Donau war überschritten, die türkische Armee demoralisiert, der Weg nach Sofia und von dort nach Konstantinopel offen. Die Abteilung des Generals Gurko hatte schon den Schipkapaß, den Schlüssel zum Großen Balkangebirge, erobert. Eigentlich hatten wir den Krieg schon gewonnen. Doch wie ging es weiter? Infolge eines verhängnisvollen Chiffrierfehlers besetzte unsere Armee das ganz unnötige Nikopol, derweil zog Osman Pascha ungehindert in Plewna ein und brachte unsern Angriff zum Stehen. Erinnern wir uns an die Umstände der rätselhaften Geschichte. Der Chiffrierer Jablokow machte den schwerwiegenden Fehler, die Geheimdepesche auf dem Tisch liegenzulassen. Warum tat er das?

Weil er erschüttert war von der Nachricht, daß seine Braut, Frau Suworowa, überraschend eingetroffen sei.«

Alle blickten Warja an. Sie kam sich vor wie eine Art Beweisstück.

»Und wer informierte Jablokow über die Ankunft seiner Braut? Der Journalist d'Hevrais. Als der vor Freude durchgedrehte Chiffrierer davonstürmte, genügte es, die Depesche umzuschreiben und >Plewna< durch >Nikopol< zu ersetzen. Unser Armeecode ist, milde gesagt, nicht kompliziert. Von dem bevorstehenden Manöver der russischen Armee wußte d'Hevrais, denn in seiner Gegenwart erzählte ich Ihnen, Michail Dmitrijewisch, von Osman Pascha. Erinnern Sie sich an unsere erste Begegnung?«

Sobolew nickte mürrisch.

»Erinnern wir uns ferner an die Geschichte mit dem mysteriösen Ali Bei, den d'Hevrais angeblich interviewte. Dieses >Interview< hat uns zweitausend Gefallene gekostet, und die russische Armee saß jetzt lange Zeit bei Plewna fest. Ein riskanter Trick, denn Anwar zog unweigerlich den Verdacht auf sich, aber er hatte keine Wahl. Die Russen konnten ja auch eine Sperre gegen Osman zurücklassen und die Hauptkräfte weiter nach Süden führen. Doch die Zerschlagung des ersten Sturmangriffs weckte bei unserer Führung übertriebene Vorstellungen von der Gefährlichkeit der Stadt Plewna, und die Armee entfaltete gegen das bulgarische Städtchen ihre gesamte Macht.«

»Moment mal, Erast Petrowitsch, aber Ali Bei hat doch wirklich existiert!« warf Warja ein.

»Unsere Späher haben ihn in Plewna gesehen!«

»Darauf kommen wir noch zurück. Jetzt wollen wir uns an den zweiten Sturmangriff auf Plewna erinnern, dessen Scheitern wir auf den Verrat des rumänischen Obersts Lucan geschoben haben, der den Türken unsere Disposition preisgab. Sie hatten recht, Lawrenti Arkadjewitsch, das J aus dem Notizbuch Lucans stand für >Journalist<, aber gemeint war nicht MacLaughlin, sondern d'Hevrais.

Er konnte den rumänischen Fant ohne Schwierigkeiten anwerben, denn die Spielschulden und die unmäßigen Ambitionen machten den Oberst zu einer leichten Beute. In Bukarest benutzte d'Hevrais geschickt Madame Suworowa, um sich des Agenten zu entledigen, der seinen Wert verloren hatte und zu einer Gefahr geworden war. Außerdem nehme ich an, daß Anwar das Bedürfnis hatte, sich mit Osman Pascha zu treffen. Die Ausweisung aus Rumänien, die nur zeitweilig war und die von vornherein geplante Rehabilitierung einschloß, bot ihm diese Möglichkeit. Der französische Korrespondent war einen Monat abwesend. Genau in dieser Zeit berichtete unsere Aufklärung von Ali Bei, dem geheimnisvollen Berater des türkischen Befehlshabers. Dieser Ali Bei zeige sich absichtlich auf belebten Plätzen mit seinem auffälligen Vollbart. Sie müssen sich köstlich amüsiert haben über uns, Herr Spion.«

D'Hevrais gab keine Antwort. Er sah den Titularrat aufmerksam und, wie es schien, erwartungsvoll an.

»Das Erscheinen Ali Beis in Plewna war notwendig geworden, um den Journalisten d'Hevrais nach dem unglückseligen Interview von jedem Verdacht zu befreien. Im übrigen zweifle ich nicht, daß Anwar diesen Monat mit großem Nutzen verbrachte: Gewiß hat er mit Osman Pascha gemeinsame Aktionen für die Zukunft besprochen und sich zuverlässige Verbindungen geschaffen. Unsere Spionageabwehr hat schließlich die Korrespondenten nicht daran gehindert, in der belagerten Stadt eigene Informanten zu haben. Wenn Anwar wollte, konnte er sogar für ein paar Tage nach Konstantinopel fahren, denn Plewna war noch nicht von den Verkehrswegen abgeschnitten.

Der dritte Sturmangriff war für Osman Pascha besonders gefährlich, vor allem durch Ihre unerwartete Attacke, Michail Dmitrijewitsch. Doch Anwar hatte Glück, wir nicht. Ein verhängnisvoller Zufall brachte uns in die Klemme - auf dem Weg ins Hauptquartier sprengte Ihr Adjutant Surow an den Korrespondenten vorbei und schrie ihnen zu, daß Sie in Plewna eingedrungen seien. Anwar begriff natürlich die Bedeutung dieser Information und den Grund, warum Surow zum Befehlshaber entsandt war. Er mußte Zeit gewinnen und Osman Pascha die Möglichkeit verschaffen, sich umzugruppieren und Sie mit Ihrer kleinen Abteilung aus Plewna hinauszuwerfen, ehe Verstärkungen kämen. Anwar ging wieder das Risiko ein, improvisierte, dreist, virtuos, talentiert.

Und wie immer gnadenlos.

Als die Journalisten, die nun von der erfolgreichen Attacke auf der Südflanke wußten, um die Wette zu den Telegraphenapparaten eilten, heftete sich Anwar an die Fersen von Surow und Kasansaki. Auf seinem berühmten Pferd Jatagan holte er sie mühelos ein, und an einer menschenleeren Stelle hat er sie beide erschossen. Im Moment des Überfalls ritt er wohl zwischen Surow und Kasansaki, wobei der Rittmeister rechts und der Gendarm links von ihm war. Anwar schoß Surow aus nächster Nähe in die linke Schläfe und jagte im nächsten Moment Kasansaki, der auf den Schuß zu ihm hinblickte, eine Kugel in die Stirn. Das alles dauerte nicht länger als eine Sekunde. Ringsum bewegten sich Truppen, aber die drei Reiter waren in ihrer Senke nicht zu sehen, und die Schüsse dürften während der Kanonade kaum aufgefallen sein. Den Leichnam Surows ließ der Mörder liegen, stieß ihm aber den Dolch des Gendarmen ins Schulterblatt. Das heißt, er hat ihn zuerst erschossen und ihm danach den Dolch in die Schulter gestoßen, nicht umgekehrt, wie wir zunächst dachten. Der Sinn ist klar - der Verdacht sollte auf Kasansaki fallen. Aus der gleichen Erwägung zerrte Anwar den toten Kasansaki ins nächste Gebüsch und inszenierte den Selbstmord.«

»Und der Brief?« erinnerte Warja. »Von diesem ... Wildkatz?«

»Ein vorzüglicher Schachzug«, gestand Fandorin. »Die türkische Aufklärung dürfte noch aus den Tifliser Zeiten von den widernatürlichen Neigungen Kasansakis gewußt haben. Ich nehme an, daß Anwar Effendi den Oberstleutnant längst im Visier hatte, um ihn möglicherweise in Zukunft erpressen zu können. Doch die Ereignisse entwickelten sich anders, und die nützliche Information wurde genutzt, um uns von der Spur abzubringen. Anwar nahm einfach ein sauberes Blatt Papier und verfaßte in Eile die Karikatur eines homosexuellen Briefes. Dabei trug er zu dick auf, der Brief kam mir schon damals verdächtig vor. Erstens ist schwer zu glauben, daß ein georgischer Fürst ein so scheußliches Russisch schreibt - er muß ja wohl das Gymnasium besucht haben. Und zweitens, Sie werden sich erinnern, daß ich Lawrenti Arkadjewitsch nach dem Kuvert fragte und erfuhr, der Brief habe ohne Kuvert in der Tasche des Toten gesteckt. Es war unbegreiflich, wie das Blatt Papier solche Frische bewahren konnte, wenn Kasansaki es ein ganzes Jahr bei sich getragen hatte!«

»Schön und gut«, warf Misinow ein, »Sie legen mir Ihre Erwägungen nun schon das zweitemal in den letzten vierundzwanzig Stunden dar, aber ich frage wieder: Warum haben Sie geschwiegen? Warum haben Sie mir Ihre Zweifel nicht früher mitgeteilt?«

»Wer eine Version verwirft, muß eine andere haben, und ich hatte keine andere«, antwortete Fandorin. »Der Opponent war zu raffiniert. Es ist mir peinlich, aber eine Zeitlang hielt ich Herrn Perepjolkin für den Hauptverdächtigen.«

»Jeremej?« fragte Sobolew verblüfft und breitete die Arme aus. »Meine Herren, das ist ja Paranoia.«

Perepjolkin klapperte mit den Augen und öffnete nervös den straffen Kragen.

»Ja, es war dumm«, stimmte Fandorin zu. »Aber der Herr Perepjolkin ist uns dauernd vor den Füßen herumgelaufen. Alles war ziemlich verdächtig: seine Gefangenschaft und die wundersame Befreiung, dann der Fehlschuß aus nächster Nähe. Die Baschi-Bosuks schießen gewöhnlich besser. Dann die Geschichte mit dem chiffrierten Telegramm - den Befehl an General Krüdener, Nikopol einzunehmen, überbrachte Herr Perepjolkin. Und wer stiftete den vertrauensseligen Journalisten d'Hevrais an, sich zu den Türken nach Plewna durchzuschlagen? Und der geheimnisvolle Buchstabe J? Der leichtsinnige Surow redete ja Perepjolkin mit >Jerome< an. Das ist die eine Seite. Auf der anderen war die Tarnung Anwar Effendis ideal, das müssen Sie zugeben. Ich konnte noch so viele logische Berechnungen anstellen, wenn ich dann Charles d'Hevrais ansah, zerfielen alle Argumente zu Staub. Sehen Sie sich den Mann an.« Fandorin zeigte auf den Journalisten, alle Augen richteten sich auf d'Hevrais, und er verbeugte sich mit übertriebener Bescheidenheit. »Kann man glauben, daß dieser bezaubernde, geistreiche, durch und durch europäische Herr und der tückische, grausame Chef des türkischen Geheimdienstes ein und dieselbe Person sind?«

»Nie und nimmer!« bemerkte Sobolew. »Ich glaube es auch jetzt noch nicht.«

Fandorin nickte zufrieden.

»Nun die Geschichte mit MacLaughlin und dem nicht stattgefundenen Durchbruch. Hier war alles einfach und ohne Risiko. Dem vertrauensseligen James die >sensationelle< Nachricht unterzujubeln war nicht schwierig. Der Informant, den er uns verheimlichte und auf den er so stolz war, arbeitete gewiß für Sie, Effendi.«

Warja zuckte zusammen, so unangenehm berührte sie diese Anrede. Nein, da stimmte was nicht! Wieso denn »Effendi«?

»Sie haben geschickt mit MacLaughlins Vertrauensseligkeit und seiner Eitelkeit gespielt. Er hat den glänzenden Charles d'Hevrais so beneidet und davon geträumt, ihm den Rang abzulaufen!

Bislang war es ihm nur beim Schachspiel gelungen, und auch da nicht immer, und nun ein so phantastischer Glücksfall! Exclusive information from most reliable sources (*(engl.) Exklusivinformation aus glaubwürdigen Quellen)! Und was für eine Information! Für solche Enthüllungen würde jeder Reporter dem Teufel seine Seele verkaufen. Wenn MacLaughlin nicht unterwegs Warwara Andrejewna getroffen und sich nicht mit ihr verplaudert hätte ... Osman würde das Grenadierkorps überrannt, die Blockade durchbrochen und sich zum Schipka zurückgezogen haben. Dann wäre an der Front eine Pattsituation entstanden.«

»Aber wenn MacLaughlin kein Spion ist, wo ist er dann geblieben?« fragte Warja.

»Erinnern Sie sich an die Erzählung Ganezkis, wie die Baschi-Bosuks ihn und seinen Stab überfielen und der verehrte General kaum entkam? Ich meine, die Diversanten wollten nicht Ganezki, sondern MacLaughlin. Ihn mußten sie beseitigen, und er verschwand. Spurlos. Wahrscheinlich liegt der betrogene und verleumdete Ire jetzt irgendwo am Grunde des Flusses Wid mit einem Stein um den Hals. Oder die Baschi-Bosuks haben ihn ihrer netten Gewohnheit entsprechend in Stücke gehauen.«

Warja erschauerte, als sie daran dachte, wie der rundgesichtige Korrespondent während ihrer letzten Begegnung Kuchen mit Marmelade mampfte. Da hatte er nur noch ein paar Stunden zu leben.

»Hat Ihnen der arme MacLaughlin nicht leid getan?« fragte Fandorin, aber d'Hevrais (oder vielleicht doch Anwar Effendi?) bat ihn mit einer eleganten Geste fortzufahren und legte wieder die Hände auf den Rücken.

Warja entsann sich ihrer psychologischen Ausbildung, wonach auf dem Rücken verschränkte Hände Verschlossenheit signalisieren wie auch Unlust, die Wahrheit zu sagen. War es möglich? Sie trat näher zu dem Journalisten, sah ihm prüfend ins Gesicht und versuchte, in den bekannten Zügen etwas Fremdes, Furchteinflößendes zu entdecken. Das Gesicht war wie immer, allenfalls ein wenig blasser. Er sah Warja nicht an.

»Der Ausbruch scheiterte, doch Sie kamen wieder ungeschoren davon. Ich habe mich sehr beeilt, von Paris an den Kriegsschauplatz zurückzukehren, denn ich wußte schon sicher, wer Sie sind und wie gefährlich Sie sind.«

»Sie hätten ein Telegramm schicken können«, knurrte Misinow.

»Was für eins, Hohe Exzellenz? >Der Journalist d'Hevrais ist Anwar Effendi?< Sie hätten gedacht, ich wäre übergeschnappt. Denken Sie daran, wie ausführlich ich Ihnen die Beweise darlegen mußte, weil Sie die Version von den englischen Umtrieben nicht aufgeben wollten. Und Sie sehen, General Sobolew ist auch nach meinen weitschweifigen Erklärungen noch nicht überzeugt.«

Sobolew schüttelte stur den Kopf.

»Wir hören Sie zu Ende an, Fandorin, und dann lassen wir Charles zu Wort kommen. Eine Untersuchung kann nicht nur aus dem Plädoyer des Staatsanwalts bestehen.«

»Merci, Michel.« D'Hevrais lächelte kurz. »Comme dit l'autre, a friend in need is a friend indeed (*

(franz. u. engl.) etwa: Freunde in der Not gehn tausend auf ein Lot). Eine Frage an den Herrn Staatsanwalt. Wie ist Ihnen überhaupt in den Sinn gekommen, mich zu verdächtigen? Von Anfang an? Stillen Sie meine Neugier.«

»Wie schon«, sagte Fandorin verwundert. »Sie waren sehr unvorsichtig. Man darf doch nicht so mit der Gefahr spielen und den Gegner derartig unterschätzen! Als ich das erstemal Ihre Unterschrift d'Hevrais in der >Revue Parisienne< sah, ist mir sofort eingefallen, daß unser Hauptwidersacher Anwar Effendi aus dem bosnischen Städtchen Hevrais stammt. D'Hevrais, >aus Hevrais<, ist ein gar zu durchsichtiges Pseudonym, das werden Sie zugeben. Gewiß konnte das auch ein Zufall sein, aber es war verdächtig. Wahrscheinlich haben Sie am Beginn Ihrer journalistischen Tätigkeit noch nicht angenommen, daß die Maske des Korrespondenten Ihnen für Aktionen ganz anderer Art zupaß kommen würde. Ich bin sicher, daß Sie aus völlig harmlosen Gründen angefangen haben, für die Pariser Zeitung zu schreiben, nämlich um Ihr überdurchschnittliches literarisches Talent zu nutzen, und zugleich weckten Sie bei den Europäern Interesse an den Problemen des türkischen Imperiums und insbesondere an dem großen Reformer Midhat Pascha. Und Sie haben Ihre Aufgabe nicht schlecht bewältigt. Der Name des weisen Midhat erscheint in Ihren Publikationen mindestens fünfzigmal. Man kann sagen, Sie haben den Pascha zu einer populären und angesehenen Persönlichkeit in ganz Europa und besonders in Frankreich gemacht, wo er sich übrigens derzeit aufhält.«

Warja zuckte zusammen als sie daran dachte, wie d'Hevrais von seinem heißgeliebten Vater, der in Frankreich lebe, gesprochen hatte. Also hatte Fandorin recht? Entsetzt warf sie einen Blick auf den Korrespondenten. Der wahrte nach außen hin völlige Kaltblütigkeit, doch sein Lächeln kam Warja etwas gequält vor.

»Übrigens glaube ich nicht, daß Sie Midhat Pascha verraten haben«, fuhr der Titularrat fort. »Das ist ein raffiniertes Spiel. Jetzt, nach der Niederlage der Türkei, wird er mit dem Lorbeer des Märtyrers zurückkehren und wieder die Regierung übernehmen. Für Europa ist er die ideale Figur. In Paris wird er einfach auf Händen getragen.« Fandorin berührte mit der Hand die Schläfe, und Warja bemerkte plötzlich, wie blaß und müde er aussah. »Ich habe mich sehr beeilt zurückzukehren, aber die dreihundert Werst von Sofia bis Hermanli haben mich mehr Zeit gekostet als die anderthalb tausend Werst von Paris nach Sofia. Die Straßen im Hinterland spotten jeder Beschreibung. Gottlob sind Misinow und ich noch rechtzeitig angekommen. Als General Strukow mitteilte, Seine Exzellenz seien in Begleitung des Journalisten d'Hevrais nach San Stefano gefahren, begriff ich: Das ist er, der tödliche Zug von Anwar Effendi. Nicht zufällig wurde auch der Telegraphenverkehr unterbrochen.

Ich bekam schreckliche Angst, Michail Dmitrijewitsch, daß dieser Mann mit Ihrer Verwegenheit und Ihrem Ehrgeiz spielen und Sie zum Einmarsch in Konstantinopel überreden könnte.«

»Und warum diese Angst, Herr Staatsanwalt?« fragte Sobolew ironisch. »Russische Truppen wären in die türkische Hauptstadt einmarschiert, na und?«

»Na und?« Misinow griff sich ans Herz. »Sie sind ja verrückt! Das hätte das Ende bedeutet!«

»Das Ende für wen?« Sobolew zuckte die Achseln, aber Warja sah Unruhe in seinen Augen.

»Für unsere Armee, für unsere Eroberungen, für Rußland!« sagte der Chef der Gendarmerie drohend. »Unser Botschafter in England, Graf Schuwalow, hat eine chiffrierte Meldung geschickt. Er hat mit eigenen Augen das geheime Memorandum des Kabinetts von Saint James gesehen. Nach einer vertraulichen Absprache zwischen England und Österreich-Ungarn würde, falls nur ein einziger russischer Soldat in Konstantinopel auftaucht, das Geschwader des Admirals Hornby das Feuer eröffnen, und die österreichisch-ungarische Armee würde die serbische und die russische Grenze überschreiten. So ist das, Michail Dmitrijewitsch. In diesem Falle würden wir eine Niederlage erleiden, um vieles schlimmer als im Krimkrieg. Das Land ist nach Plewna erschöpft, wir haben

keine Flotte im Schwarzen Meer, und die Staatskasse ist leer. Es wäre eine vollständige Katastrophe.«

Sobolew schwieg niedergeschlagen.

»Aber Euer Exzellenz waren weise und zurückhaltend genug, nicht weiter als bis San Stefano zu gehen«, fuhr Fandorin ehrerbietig fort. »Also hätten Misinow und ich uns nicht so zu beeilen brauchen.«

Warja sah das Gesicht des Weißen Generals puterrot anlaufen. Er räusperte sich, nickte mit wichtiger Miene und betrachtete mit Interesse den Marmorfußboden.

Es mußte wohl sein, daß sich genau in diesem Moment der Leutnant Gukmassow durch die Tür hereindrängte. Mit einem feindseligen Blick auf die blauen Monturen bellte er: »Erlaube mir zu melden, Euer Exzellenz!«

Warja tat der arme Achilles leid, und sie wandte sich ab, doch der tumbe Leutnant fuhr mit ebenso schallender Stimme fort: »Punkt sechs Uhr! Laut Befehl Bataillon angetreten und Gulnora gesattelt! Wir warten nur noch auf Euer Exzellenz, dann vorwärts zu den Toren von Zargrad!«

»Sei still, du Tölpel«, knurrte der puterrote Held. »Zum Teufel mit Zargrad!«

Gukmassow wich verwirrt zurück. Kaum hatten sich die Türflügel hinter ihm geschlossen, geschah etwas Unerwartetes.

»Et maintenant, mesdames et messieurs, la parole est a la defense!« (*(franz.) Und jetzt, meine Damen und Herren, hat die Verteidigung das Wort.) erklärte d'Hevrais laut.

Er hielt plötzlich in der rechten Hand einen Revolver, der zweimal Knall und Feuer spie.

Warja sah, daß es den beiden Gendarmen auf der linken Brustseite die Montur zerriß. Die Karabiner fielen scheppernd auf den Fußboden, die Gendarmen sanken fast lautlos nieder.

Die Schüsse hallten in den Ohren nach. Noch ehe Warja schreien oder erschrecken konnte, streckte d'Hevrais die linke Hand aus, umklammerte Warjas Ellbogen, zog sie vor sich, benutzte sie als Schutzschild.

Gogols »Revisor«, die stumme Schlußszene, dachte Warja stumpf, als sie einen hochgewachsenen Gendarm in der Tür erstarren sah. Fandorin und Misinow zielten mit ihren Revolvern. Misinows Gesicht war wütend, das Fandorins unglücklich. Sobolew breitete die Arme aus und verharrte in dieser Haltung. Mitja Gridnew riß den Mund auf und klapperte mit seinen auffälligen Wimpern. Perepjolkin hob die Hand, um den Kragen zu schließen, und vergaß, sie wieder herunterzunehmen.

»Charles, Sie sind verrückt!« schrie Sobolew und trat einen Schritt vor. »Sich hinter einer Dame zu verstecken!«

»Monsieur Fandorin hat bewiesen, daß ich Türke bin«, antwortete d'Hevrais spöttisch. Warja spürte am Hinterkopf seinen heißen Atem. »Und ein Türke macht mit Damen nicht viel Federlesens.«

»Uuuh!« heulte Mitja, senkte den Kopf wie ein Kalb und stürmte vor.

D'Hevrais' Revolver krachte noch einmal, unter Warjas Ellbogen hervor, und der junge Fähnrich stürzte mit einem Wehlaut bäuchlings zu Boden. Wieder standen alle starr.

D'Hevrais zog Warja nach hinten und zur Seite. »Wer sich vom Fleck rührt, wird erschossen«, warnte er halblaut.

Warja hatte das Gefühl, daß sich hinter ihr die Wand öffnete - und plötzlich befand sie sich mit d'Hevrais in einem anderen Raum.

Ach ja, der Tresor!

D'Hevrais knallte die Stahltür zu und schob den Riegel vor.

Sie waren allein.

Загрузка...