ZWEITES KAPITEL, in welchem viele interessante Männer auftauchen

»Der russische Invalide« (Sankt Petersburg) vom 2. (14.) Juli 1877

»Nach dem Waffenstillstand zwischen der Pforte und Serbien sind viele Patrioten der slawischen Sache, ruhmreiche Recken der russischen Erde, die als Freiwillige unter dem Befehl des kühnen Generals Tschernjajewgedient hatten, dem Ruf des Befreierzaren gefolgt, sie kämpfen sich über wilde Berge und durch düstere Wälder vor ins bulgarische Land, um sich mit dem rechtgläubigen Heer zu vereinigen und ihre heilige Ruhmestat mit dem langersehnten Sieg zu krönen.«

Der Sinn des Gesagten erreichte Warja nicht sofort. Dem Trägheitsgesetz folgend, nickte sie zunächst, schüttelte dann den Kopf und sperrte erst danach verdattert den Mund auf.

»Wundern Sie sich nicht«, sagte der sonderbare Bauer mit matter Stimme. »Daß Sie eine F-frau sind, sieht man gleich - unter der Mütze guckt eine Strähne hervor. Erstens.« (Warja schob die verräterische Locke verstohlen zurück.) »Daß Sie Russin sind, ist auch offensichtlich: Stupsnase, russisch geformte Jochbögen, dunkelblondes Haar und vor a-allem kein bißchen Bräune. Zweitens. Das mit dem Bräutigam ist auch einfach: W-wer sich heimlich durchschleicht, muß private Interessen haben. Und was kann eine junge Frau in Ihrem Alter für private Interessen bei der kämpfenden Armee haben? Nur romantische. Drittens. Und jetzt v-viertens: Der Schnauzbart, der Sie hergebracht hat und dann verschwunden ist, war das Ihr Fuhrmann? Und das Geld hatten Sie natürlich in Ihren Sachen versteckt? D-dumm. Alles Notwendige muß man bei sich tragen. Wie heißen Sie?«

»Warja Suworowa, Warwara Andrejewna«, flüsterte sie erschrocken. »Und Sie? Wo kommen Sie her?«

»Ich bin Erast Petrowitsch Fandorin. Kriegsfreiwilliger aus Serbien. Und ich komme aus t-türkischer Gefangenschaft.«

Gott sei Dank! Warja hatte schon fast an eine Halluzination geglaubt. Ein Kriegsfreiwilliger aus Serbien! Aus türkischer Gefangenschaft! Sie warf einen respektvollen Blick auf seine angegrauten Schläfen, dann fragte sie - und zeigte taktlos mit dem Finger auf die Schläfen: »Man hat Sie dort gefoltert, ja? Ich habe von den Greueln der türkischen Gefangenschaft gelesen. Das Stottern kommt bestimmt auch davon.«

Fandorin runzelte die Stirn und antwortete unwillig: »Niemand hat mich gefoltert. Man hat mich von früh bis spät mit Kaffee traktiert und ausschließlich französisch mit mir gesprochen. Ich war G- gast des Kaimakams von Widin.«

»Widin?«

»Ja, das ist eine Stadt an der rumänischen Grenze. Und Kaimakam bedeutet Gouverneur. Was das Sch-stottern betrifft, so ist es die Folge einer früheren Kontusion.«

»Sie sind geflohen, ja?« fragte sie neidisch. »Und wollen zur Armee, um zu kämpfen?«

»Nein. Ich habe genug gekämpft.«

Warja mußte wohl entgeistert geguckt haben. Fandorin hielt es jedenfalls für angezeigt hinzuzufügen: »Der Krieg, Warwara Andrejewna, ist eine entsetzliche Schweinerei. Da ist keiner im Recht oder Unrecht. Gute und Böse gibt es auf beiden Seiten. Nur daß die Guten gewöhnlich als erste draufgehen.«

»Warum sind Sie dann freiwillig nach Serbien gegangen?« fragte sie heftig. »Es hat Sie doch wohl niemand gezwungen?«

»Aus egoistischen Erwägungen. Ich war krank und mußte mich kurieren.«

»Kann man sich im Krieg kurieren?« fragte Warja verwundert.

»Ja. Der Anblick fremden L-leids macht das eigene erträglicher. Ich kam an die Front zwei Wochen nach der Zerschlagung der Tschernjajew-Armee. Danach bin ich noch durch die Berge gestreift und habe herumgeballert. Gottlob habe ich wohl n-niemanden getroffen.«

Er will sich interessant machen, oder er ist ein Zyniker, dachte Warja gereizt und sagte giftig: »Wären Sie doch bei Ihrem Kaimakam geblieben. Warum sind Sie geflohen?«

»Ich bin nicht geflohen. Jussuf Pascha hat mich gehen lassen.«

»Und was führt Sie nach Bulgarien?«

»Ich habe etwas zu erledigen«, antwortete er kurz. »Wo wollen Sie eigentlich hin?«

»Nach Zarewizy, zum Stab des Oberbefehlshabers. Und Sie?«

»Nach Bela. Dort soll das Hauptquartier Seiner M-majestät sein.« Der Freiwillige verstummte, bewegte mißmutig die dünnen Brauen, holte tief Luft. »Aber ich kann auch zum Oberbefehlshaber gehen.«

»Wirklich?« rief Warja erfreut. »Oh, lassen Sie uns zusammen gehen, ja? Ich weiß überhaupt nicht, was ich täte, wenn ich Sie nicht getroffen hätte.«

»W-was schon. Sie hätten sich vom Wirt zur nächsten russischen Truppe bringen lassen, und fertig.«

»Mich bringen lassen? Von dem Wirt hier?« fragte Warja furchtsam. »Aber das Dorf ist doch muselmanisch?«

»Ja.«

»Die würden mich an die Türken ausliefern.«

»Ich will Sie ja nicht beleidigen, Warwara Andrejewna, aber für die Türken sind Sie gänzlich uninteressant, und von ihrem B-bräutigam hätte der Wirt eine Belohnung bekommen.«

»Ich gehe lieber mit Ihnen«, flehte Warja, »bitte!«

»Ich habe nur eine alte Mähre, die schon halbtot ist. Auf der können keine zwei sitzen. An G-geld habe ich drei Kurus (*Kurus - türkisches Pfund). Für Wein und Käse reicht das, aber für mehr nicht. Wir brauchen noch ein Pferd oder wenigstens einen Esel. Das kostet mindestens hundert.«

Warjas neuer Bekannter verstummte, überlegte etwas, drehte sich nach den Würfelspielern um. Wieder holte er tief Luft.

»Warten Sie hier. Ich komme gleich wieder.«

Er ging langsam zu den Spielern, stand fünf Minuten am Tisch und sah zu. Dann sagte er etwas (Warja verstand es nicht), worauf alle das Würfeln einstellten und sich ihm zuwandten. Fandorin zeigte auf Warja, und sie rutschte auf der Bank hin und her unter den auf sie gerichteten Blicken. Plötzlich dröhnte Gelächter, es klang zotig und für Warja beleidigend, aber Fandorin dachte nicht daran, für die Ehre der Dame einzustehen. Statt dessen drückte er einem schnauzbärtigen Dickwanst die Hand und setzte sich auf die Bank. Die anderen rückten beiseite, und um den Tisch sammelte sich ein Häuflein Neugieriger.

Offenbar hatte sich der Freiwillige ein Spiel ausgedacht. Aber mit was für Geld? Mit seinen drei Kurus? Da würde er lange spielen müssen, um ein Pferd zu gewinnen. Warja war voller Unruhe, sie hatte sich einem Menschen anvertraut, den sie überhaupt nicht kannte. Er sah sonderbar aus, sprach sonderbar, handelte sonderbar. Andererseits, hatte sie eine Wahl?

Die Menge der Gaffer lärmte los - der Dicke hatte geworfen. Dann klapperte es noch einmal, und die Wände erbebten von dem allgemeinen Geheul.

»Z-zwölf«, sagte Fandorin ruhig und stand auf. »Wo ist der Esel?«

Der Dicke war auch aufgesprungen, er packte den Freiwilligen am Ärmel und redete, mit den Augen rollend, hastig auf ihn ein.

»Noch einmal, noch einmal!« rief er immer wieder.

Fandorin nickte entschlossen, aber seine Nachgiebigkeit stellte den Verlierer nicht zufrieden. Der brüllte immer lauter und fuchtelte mit den Armen. Fandorin nickte wieder, noch entschlossener, da entsann sich Warja der bulgarischen Paradoxie: Nicken bedeutete »nein«.

Nun wollte der Verlierer von Worten zu Tätlichkeiten übergehen - er holte weit aus, die Gaffer prallten auseinander, aber Fandorin rührte sich nicht, nur seine Rechte war wie von selbst in die Tasche geschlüpft. Das war ganz unauffällig geschehen, doch auf den Dicken hatte es eine magische Wirkung. Er sank in sich zusammen, schluchzte auf und brummelte kläglich. Diesmal schüttelte Fandorin den Kopf, warf dem Wirt ein paar Münzen zu und wandte sich zum Ausgang. Warja würdigte er keines Blicks, aber sie brauchte keine Einladung, sie sprang auf und war im Nu an der Seite ihres Retters.

»Der zweite von li-links«, sagte Fandorin mit konzentriertem Blick, er war auf der Vortreppe stehengeblieben.

Warja folgte seinem Blick und sah an der Anbindestange eine ganze Reihe Pferde, Esel und Maultiere, die friedlich Heu mampften.

»Da ist er, Ihr B-bukephalos.« Fandorin zeigte auf ein Eselchen mit dunklem Fell. »Schön ist er nicht, dafür fällt man nicht so tief.«

»Haben Sie den gewonnen?«

Fandorin nickte schweigend, während er seine magere graue Stute losband.

Er half seiner Begleiterin in den Holzsattel, schwang sich geschickt auf seine Schimmelstute, dann ritten sie hinaus auf die Dorfstraße, die im grellen Schein der Mittagssonne lag.

»Wie weit ist es bis Zarewizy ?« fragte Warja, die im Rhythmus der Trippelschritte ihres zottigen Transportmittels durchgerüttelt wurde.

»Wenn wir uns nicht v-verirren, sind wir zur Nacht dort«, antwortete der Reiter majestätisch von oben herab.

Die Gefangenschaft hat ihn ganz türkifiziert, dachte Warja ärgerlich. Er hätte das Pferd ja auch der Dame geben können. Typisch männlicher Narzißmus. Pfau! Enterich! Hauptsache, sich vor dem grauen Entlein dicketun. Ich sehe schon komisch genug aus, und nun soll ich auch noch den Sancho Pansa machen beim Ritter von der Traurigen Gestalt.

»Was haben Sie in der Tasche?« fragte sie in der Erinnerung an seine Handbewegung. »Eine Pistole?« Fandorin wunderte sich.

»In welcher Tasche? Ach so, in der T-tasche. Leider gar nichts.«

»Und wenn er nicht weich geworden wäre?«

»Mit einem, der nicht weich wird, hätte ich nicht gespielt.«

»Aber wie konnten Sie den Esel mit einem einzigen Spiel gewinnen?« fragte Warja neugierig. »Der Mann wird den Esel ja nicht gegen Ihre drei Kurus gesetzt haben?«

»Natürlich nicht.«

»Um was haben Sie also gespielt?«

»Um Sie«, antwortete Fandorin kaltblütig. »Mädchen gegen Esel, das ist ein vorteilhafter Einsatz. Verzeihen Sie großmütig, Warwara Andrejewna, aber es gab keinen anderen Ausweg.«

»Verzeihen?« Warja wäre fast vom Esel gerutscht. »Und wenn Sie verloren hätten?«

»Wissen Sie, Warwara Andrejewna, ich habe eine sonderbare Eigenschaft. Ich kann Glücksspiele nicht ausstehen, aber wenn ich spielen muß, gewinne ich unweigerlich. Les caprices de la fortune! (* (franz.) Die Launen des Glücks.) Ich habe ja auch meine Freiheit dem Pascha von Widin im Nardy- Spiel abgewonnen.«

Sie wußte nicht, was sie zu diesem Leichtsinn sagen sollte, und beschloß, tödlich beleidigt zu sein. Darum ritten sie schweigend weiter.

Warjas Sattel war ein Folterinstrument, das ihr eine Masse Unbequemlichkeiten bereitete, aber sie hielt tapfer aus und wechselte nur von Zeit zu Zeit ihren Schwerpunkt.

»Hart?« fragte Fandorin. »Wollen Sie meine W-weste unterlegen?«

Warja gab keine Antwort, denn erstens dünkte dieses Angebot sie nicht recht schicklich, und zweitens aus Prinzip.

Der Weg schlängelte sich zwischen flachen bewaldeten Hügeln hindurch und senkte sich dann hinunter in eine Ebene. Die ganze Zeit war den beiden Reisenden niemand entgegengekommen, und das beunruhigte Warja allmählich. Sie warf ab und an Seitenblicke auf Fandorin, aber dieser Holzklotz blieb unerschütterlich und knüpfte kein Gespräch an.

Schön würde sie aussehen, wenn sie in dieser Aufmachung nach Zarewizy käme. Nun, Petja würde es wohl egal sein, von ihm aus könnte sie Sackleinwand tragen, er würde es gar nicht wahrnehmen, aber dort war der Stab. Und sie wie eine Vogelscheuche ... Warja nahm die Schapka ab, fuhr mit der Hand durchs Haar und war nun vollends verdrossen. Ihr Haar, ohnehin nicht besonders schön, matt und mausgrau, war von der Maskerade ganz zerstrobelt und zottelig. Gewaschen hatte sie es zum letztenmal vor drei Tagen in Bukarest. Nein, dann schon lieber mit der Schapka. Diese Kleidung eines bulgarischen Bauern war gar nicht schlecht, war praktisch und auf eigene Weise wirkungsvoll. Die Pluderhose erinnerte an die berühmten »Bloomers«, in denen seinerzeit die englischen Suffragetten herumgelaufen waren, aus Protest gegen die albernen und demütigenden langen Damenunterhosen und die Unterröcke. Wenn sie einen breiten roten Gürtel um die Taille schlänge wie in der »Entführung aus dem Serail« (sie hatte die Oper im letzten Herbst mit Petja im Marientheater gesehen), sähe es sogar malerisch aus.

Plötzlich wurden Warjas Betrachtungen aufs rücksichtsloseste unterbrochen. Fandorin beugte sich herab und packte den Esel am Zügel, und das dumme Tier blieb so ruckartig stehen, daß Warja beinahe über den langohrigen Kopf hinweggeflogen wäre.

»Was soll das, sind Sie von Sinnen?«

»Schweigen Sie jetzt, was auch geschieht, sagte Fandorin halblaut und sehr ernst und blickte geradeaus.

Warja hob den Kopf und sah einen formlosen Reitertrupp, an die zwanzig Mann, in eine Staubwolke gehüllt, ihnen entgegensprengen. Sie sah zottige Schapkas, Sonnenfünkchen spielten auf den Patronenfutteralen an den Tscherkessenröcken, auf dem Zaumzeug und den Waffen. Einer ritt an der Spitze, um seine Pelzmütze war ein grünes Tuch geschlungen.

»Sind das Baschi-Bosuks?« fragte Warja, und ihre Stimme vibrierte. »Was wird jetzt? Sind wir verloren? Werden sie uns umbringen?«

»Wenn Sie still sind, nicht«, antwortete Fandorin nicht sehr überzeugt. »Ihre plötzliche Geschwätzigkeit ist völlig unangebracht.«

Sein Stottern war wie weggeblasen, und davon wurde ihr ganz unheimlich.

Fandorin nahm den Esel wieder beim Zügel, ritt zum Straßenrand, zog Warja die Schapka bis über die Augen und flüsterte: »Sehen Sie nach unten, und keinen Ton.«

Trotzdem riskierte sie einen verstohlenen Blick auf die berühmten »Halsabschneider«, von denen seit zwei Jahren alle Zeitungen schrieben.

Der Mann an der Spitze (sicherlich der Bek) hatte einen rötlichen Bart und trug einen schmutzigen zerrissenen Beschmet, doch seine Waffe glänzte silbern. Er ritt vorbei, ohne die jämmerlichen Bauern eines Blicks zu würdigen. Anders seine Bande. Ein paar Berittene hielten bei Warja und Fandorin und schnatterten gaumig. Die Physiognomien dieser Baschi-Bosuks waren so beschaffen, daß Warja am liebsten die Augen zugekniffen hätte - sie hatte nicht geahnt, daß Menschen so aussehen können. Plötzlich entdeckte sie unter den alptraumhaften Visagen ein ganz gewöhnliches menschliches Gesicht. Es war bleich und hatte ein blutunterlaufenes Auge, und das andere Auge, braun und voller Todesangst, sah sie direkt an.

Inmitten der Räuber ritt, rücklings im Sattel sitzend, ein russischer Offizier in verstaubter, zerfetzter Montur. Seine Hände waren auf dem Rücken zusammengeschnürt, an seinem Hals hing eine leere Säbelscheide, in einem Mundwinkel war Blut angetrocknet. Warja biß sich auf die Lippe, um nicht aufzuschreien; sie hielt die Hoffnungslosigkeit im Blick des Gefangenen nicht aus und senkte die Augen. Aber ein Schrei, genauer, ein hysterisches Schluchzen entrang sich dennoch ihrem vor Angst ausgedörrten Hals, denn einer der Banditen hatte an seinem Sattelknauf einen hellblonden Menschenkopf mit langem Schnurrbart hängen. Fandorin preßte Warja den Ellbogen und sagte kurz etwas auf türkisch - sie verstand die Wörter »Jussuf Pascha« und »Kaimakam«, aber die hatten keine Wirkung auf die Räuber. Einer mit Spitzbart und riesiger krummer Nase zog Fandorins Stute die Oberlippe hoch, sah lange faulige Zähne, spuckte verächtlich aus und sagte etwas, und die anderen lachten. Dann schlug er der Mähre die Nagaika über die Kruppe, sie sprang erschrocken zur Seite und verfiel sogleich in einen ungleichmäßigen Trab. Warja stieß dem Esel die Absätze in die aufgeblähten Seiten, und er trippelte hinterher; sie wagte nicht zu glauben, daß die Gefahr vorüber sei. Um sie herum verschwamm alles, der entsetzliche Kopf mit den leidend geschlossenen Augen und dem blutverkrusteten Mund ließ ihr keine Ruhe. Halsabschneider sind Leute, die den Halsabschneiden - dieser alberne Satz schwirrte ihr durch den halb bewußtlosen Kopf.

»Bitte keine Ohnmacht«, sagte Fandorin leise. »Vielleicht kommen die zurück.«

Er hatte es beschrien. Gleich darauf hörten sie hinter sich näher kommendes Hufgetrappel.

Fandorin sah zurück und flüsterte: »Drehen Sie sich nicht um, vorwärts!«

Warja drehte sich trotzdem um, doch das hätte sie besser nicht getan. Die Baschi-Bosuks waren an die zweihundert Schritte weitergeritten, aber einer der Reiter, der mit dem abgeschnittenen Kopf am Sattel, war umgekehrt und folgte ihnen rasch, und die furchtbare Trophäe hüpfte lustig an der Kruppe seines Pferdes.

Warja warf ihrem Begleiter einen verzweifelten Blick zu. Der schien seine Kaltblütigkeit verloren zu haben, mit zurückgeworfenem Kopf trank er nervös Wasser aus einer großen kupfernen Feldflasche.

Der verdammte Esel trippelte melancholisch dahin, er hatte keine Lust, den Schritt zu beschleunigen. Gleich darauf war der schnelle Reiter auf gleicher Höhe mit den unbewaffneten Reisenden und riß seinen feurigen Braunen hoch. Dann beugte er sich vor, zerrte Warja die Schapka vom Kopf und lachte räuberisch, als ihr befreites Haar zum Vorschein kam.

»Hoho!« johlte er mit blitzenden weißen Zähnen.

Fandorin, finster und konzentriert, riß dem Räuber mit einer raschen Bewegung seiner Linken die zottige Pelzmütze herunter, holte aus und schmetterte ihm die schwere Feldflasche gegen den rasierten Hinterkopf. Es gab ein ekelhaft klatschendes Geräusch, in der Flasche gluckerte es, und der

Baschi-Bosuk fiel in den Staub.

»Zum Teufel mit dem Esel! Geben Sie mir die Hand. In den Sattel! Und vollen Galopp! Und nicht umdrehen!« ratterte Fandorin, wieder ohne zu stottern.

Er half der benommenen Warja auf den Braunen, riß das Gewehr aus dessen Satteltasche, und sie sprengten davon.

Das Pferd des Räubers preschte sogleich voran. Warja zog den Kopf ein, aus Furcht, sich nicht halten zu können. In ihren Ohren pfiff es, ihr rechter Fuß rutschte sehr zur Unzeit aus dem zu lang geschnallten Steigbügel, von hinten krachten Schüsse, etwas Schweres schlug ihr schmerzhaft gegen den rechten Oberschenkel.

Warja blickte kurz nach unten, sah den tanzenden Kopf, stieß einen unterdrückten Schrei aus und ließ die Zügel los, was sie keineswegs hätte tun dürfen.

Im nächsten Moment flog sie aus dem Sattel, beschrieb einen Bogen in der Luft und plumpste in etwas Grünes, Weiches, Knisterndes - einen Busch am Wegrand.

Dies wäre der richtige Moment gewesen, in Ohnmacht zu fallen, aber dazu kam es nicht. Warja hockte im Gras, hielt sich die zerkratzte Wange, ringsum tanzten gebrochene Zweige.

Auf dem Weg spielte sich mittlerweile dies ab. Fandorin bearbeitete mit dem Kolben die unglückliche Mähre, die sich alle Mühe gab und die schwieligen Beine warf. Er hatte schon fast den Busch erreicht, unter dem die vom Sturz betäubte Warja saß, hinter ihm her jagte, vielleicht hundert Schritte zurück, unter krachenden Schüssen die Horde der Verfolger, gut und gern ein Dutzend. Plötzlich kam die graue Stute aus dem Tritt, schüttelte kläglich den Kopf und sank nieder, wobei sie ihrem Reiter ein Bein einquetschte. Warja schrie auf. Fandorin befreite sich mühsam von dem Gaul, der aufzustehen versuchte, und richtete sich hoch auf. Mit einem Blick auf Warja riß er das Gewehr an die Schulter und nahm die Baschi-Bosuks ins Visier.

Mit dem Schießen hatte er es nicht eilig, er zielte konzentriert, und seine Pose war so eindrucksvoll, daß keiner der Räuber sich der Kugel aussetzen wollte - der Trupp verließ den Weg und schwärmte aus auf die Wiese, wo er die Flüchtlinge im Halbkreis umschloß. Die Schüsse verstummten, und Warja erriet, daß man sie lebendig fassen wollte.

Fandorin wich zurück, richtete das Gewehr bald auf den einen, bald auf den anderen Reiter. Der Abstand zwischen ihnen verkürzte sich allmählich. Als Fandorin fast den Busch erreicht hatte, schrie Warja: »So schießen Sie doch, worauf warten Sie!«

Ohne sich umzudrehen, zischte Fandorin: »Das Gewehr ist nicht geladen.«

Warja blickte nach links (dort waren die Baschi-Bosuks), nach rechts (dort waren auch Reiter mit zottigen Pelzmützen) und schließlich nach hinten, da sah sie durch das schüttere Gezweig etwas Bemerkenswertes.

Über die Wiese galoppierten Reiter, vornweg sprengte, nein, flog auf einem mächtigen Rapphengst, die Ellbogen jockeyhaft abgespreizt, ein Mann mit einem breitkrempigen amerikanischen Stetson; hinter ihm ritt auf einem Paßgänger eine weiße Montur mit goldenen Schultern, dann folgte ein Dutzend Kubankosaken, und den Abschluß bildete, im Sattel hüpfend, ein ganz sonderbarer Herr mit Melone und langem Gehrock.

Warja betrachtete wie verzaubert die seltsame Kavalkade. Die Kosaken stießen Pfiffe und Hetzrufe aus. Die Baschi-Bosuks sammelten sich schreiend zum Häuflein, und da kam ihnen der rotbärtige Bek mit den übrigen Männern zu Hilfe. Die entsetzlichen Menschen hatten Warja und Fandorin vergessen, sie hatten jetzt andere Sorgen.

Es sah nach einem bevorstehenden Gemetzel aus. Warja wandte den Kopf bald dahin, bald dorthin und vergaß die Gefahr - das Schauspiel war schrecklich und schön.

Aber der Kampf brach ab, noch ehe er so recht begonnen hatte. Der Reiter mit dem Stetson (er war

jetzt ganz nahe, und Warja sah sein gebräuntes Gesicht, seinen Spitzbart a la Louis Napoleon und den aufgezwirbelten weizenblonden Schnauzbart) zog die Zügel an, saß reglos und hatte plötzlich, woher auch immer, eine langläufige Pistole in der Hand. Die spuckte - deng! deng! zwei ärgerliche Wölkchen aus, der Bek mit dem zerrissenen Beschmet wankte im Sattel wie betrunken und sank zur Seite. Einer der Baschi-Bosuks fing ihn auf, warf ihn über den Widerist seines Pferdes, und dann zog sich der Haufen kampflos zurück.

Vorbei an Warja und dem müde auf sein nutzloses Gewehr gestützten Fandorin ritten in einer Reihe der Kunstschütze, der Reiter in der weißen Montur mit der goldblitzenden Generalsepaulette und die Kosaken mit den hochragenden Lanzen.

»Die haben einen gefangenen Offizier!« rief ihnen Fandorin hinterher.

Derweil kam der letzte Mann der Kavalkade, der Herr in Zivil, gemächlich angeritten und hielt bei ihnen. Die Verfolgungsjagd schien ihn nicht zu interessieren.

Runde helle Augen blickten über die Brille hinweg teilnahmsvoll auf die Geretteten.

»Tschetniks?« fragte der Zivilist mit englischem Akzent.

»No, Sir«, antwortete Fandorin und fügte noch etwas in derselben Sprache hinzu, aber Warja verstand es nicht, sie hatte am Gymnasium nur Französisch und Deutsch gelernt.

Sie zupfte Fandorin ungeduldig am Ärmel, und der erläuterte schuldbewußt: »Ich s-sage, wir sind keine Tschetniks, sondern Russen, und wollen zu den Unseren.«

»Was sind Tschetniks?«

»Bulgarische Aufständische.«

»Oh, Sie Dame?« Das gutmütige fleischige Gesicht des Engländers zeigte Verwunderung. »Aber was für eine Maskerade! Ich wußte nicht, daß Russen Frauen für Espionage benutzen. Sie sind eine Heroine, Madam. Wie ist Ihr Name? Das wird sehr interesting für meine Leser.«

Er entnahm seiner Reisetasche ein Notizbuch, und Warja sah erst jetzt seine dreifarbige Armbinde mit der Zahl 48 und der Schrift »Presse«.

»Ich heiße Warwara Andrejewna Suworowa und beteilige mich an keiner >Espionage<. Mein Bräutigam ist beim Stab«, sagte sie würdevoll. »Und das ist mein Begleiter, der serbische Freiwillige Erast Petrowitsch Fandorin.«

Der Pressemann lüpfte verwirrt die Melone und sprach nun französisch. »Bitte um Vergebung, Mademoiselle. James MacLaughlin, Mitarbeiter der Londoner Zeitung >Daily Post<.«

»Dann sind Sie der Engländer, der über die türkischen Greuel in Bulgarien geschrieben hat?« fragte Warja, nahm die Schapka ab und ordnete die Haare, so gut es ging.

»Ich bin Ire«, korrigierte MacLaughlin streng. »Das ist keineswegs dasselbe.«

»Und wer sind die?« Warja nickte in die Richtung, wo Staub wölkte und Schüsse knallten. »Der mit dem Hut, wer ist das?«

»Dieser unvergleichliche Cowboy ist Monsieur d'Hevrais, er schreibt eine brillante Feder, ist der Liebling der französischen Leser und das Trumpf-As der Zeitung >Revue Parisienne<.«

»>Revue Parisienne

»Ja, das ist eine Pariser Tageszeitung. Auflage hundertfünfzigtausend, das ist für Frankreich unwahrscheinlich viel«, erklärte der Journalist geringschätzig. »Meine >Daily Post< dagegen verkauft täglich zweihundertvierzigtausend Exemplare, so ist das.«

Warja schüttelte den Kopf, damit das Haar lockerer fiel, und wischte mit dem Ärmel den Staub aus dem Gesicht.

»Ach, mein Herr, Sie sind gerade zur rechten Zeit gekommen. Die Vorsehung hat Sie geschickt.«

»Uns hat Sobolew hierher mitgenommen«, sagte der Engländer, genauer, der Ire achselzuckend.

»Er langweilt sich beim Stab und ist von der Untätigkeit schon ganz zermürbt. Heute früh hatten die

Baschi-Bosuks im russischen Hinterland ihr Unwesen getrieben, und Sobolew persönlich hat die Verfolgung aufgenommen. d'Hevrais und ich sind sozusagen seine Schoßhündchen und müssen überallhin mit. Erstens sind wir alte Freunde, schon von Turkestan her, und zweitens, wo Michel Sobolew ist, findet sich ganz sicher eine gute Story. Aber da kommen sie ja, und natürlich mit leeren Händen.«

»Wieso natürlich?« fragte Warja.

Der Pressemann lächelte nachsichtig und sagte nichts, für ihn antwortete Fandorin, der sich bisher kaum am Gespräch beteiligt hatte: »Sie haben doch gesehen, Mademoiselle, daß die Baschi-Bosuks f- frische Pferde hatten und die der Verfolger erschöpft waren.«

»Absolutely so.« MacLaughlin nickte.

Warja warf einen mürrischen Seitenblick auf die beiden: Siehe da, was für eine Übereinstimmung, um eine Frau als dumme Gans dastehen zu lassen. Aber Fandorin erwarb sich sogleich Vergebung - er holte ein erstaunlich sauberes Tuch aus der Tasche und legte es Warja an die Wange. Oh, den Kratzer hatte sie ganz vergessen!

Der Pressemann hatte sich geirrt, als er sagte, die Verfolger kehrten mit leeren Händen zurück - Warja sah zu ihrer Freude, daß sie den gefangenen Offizier befreit hatten: Zwei Kosaken trugen den erschlafften Körper in der schwarzen Montur an Armen und Beinen. Oder war er, Gott behüte, tot?

Vorneweg ritt diesmal der Geck, den der Brite Michel Sobolew genannt hatte, der junge General.

Er hatte lustige blaue Augen und einen ungewöhnlichen Bart - gepflegt, buschig und zur Seite gekämmt wie zwei Flügel.

»Sie sind weg, die Schurken!« schrie er von weitem und fügte einen Ausdruck hinzu, den Warja nicht ganz verstand.

»There's a lady here« (*(engl.) Hier ist eine Dame.), sagte MacLaughlin und drohte mit dem Finger. Er nahm die Melone ab und trocknete die rosige Glatze.

Der General nahm Haltung an, als er Warja erblickte, doch sein Blick glitt gelangweilt ab, begreiflich: ungewaschene Haare, ein Kratzer im Gesicht, unschöne Aufmachung.

»Generalmajor Sobolew Zwei von der Suite Seiner kaiserlichen Hoheit«, stellte er sich vor und sah Fandorin fragend an.

Aber Warja, über die Gleichgültigkeit des Generals erbost, fragte frech: »Zwei? Und wer ist Sobolew Eins?« Der General war verwundert.

»Wer das ist? Na, mein Herr Vater, Generalleutnant Dmitri Iwanowitsch Sobolew, Kommandeur der Kaukasus-Kosakendivision. Haben Sie nie von ihm gehört?«

»Nein. Nicht von ihm und nicht von Ihnen«, log Warja; Sobolew Zwei, den Helden von Turkestan und Bezwinger von Chiwa und Machram, kannte ganz Rußland.

Über den General wurde ganz Unterschiedliches erzählt. Die einen priesen ihn als unvergleichlich tapfer, als Ritter ohne Furcht und Tadel und nannten ihn den künftigen Suworow oder gar Bonaparte, andere schmähten ihn als Poseur und Ehrgeizling. Die Zeitungen hatten berichtet, daß er sich ganz allein einer ganzen Horde Tekinzen erwehrt, sieben Wunden empfangen hatte und doch nicht zurückgewichen war, daß er mit einer kleinen Abteilung die tote Wüste durchquert und das zehnfach überlegene Heer des gefährlichen Abd ur Rachman Bek zerschlagen hatte, doch Bekannte von Warja hatten auch Gerüchte anderer Art erzählt - von Geiselerschießungen und dem Raub der Kokander Staatskasse.

Ein Blick in die hellen Augen des schönen Generals überzeugte Warja: Das mit den sieben Wunden und Abd ur Rachman Bek war die lautere Wahrheit, das mit den Geiselerschießungen und der Kasse des Chans war Unsinn und Verleumdung von Neidern. Zumal Sobolew Warja jetzt genauer ansah und nun wohl doch Interessantes an ihr fand.

»Aber was hat Sie, gnädige Frau, hierher verschlagen, wo Blut fließt? Und in dieser Kostümierung! Es macht mich neugierig.«

Warja stellte sich vor und erzählte kurz von ihren Abenteuern, denn ein untrüglicher Instinkt sagte ihr, daß Sobolew sie nicht verraten und sie nicht unter Bewachung nach Bukarest zurückschicken würde.

»Ich beneide Ihren Bräutigam, Warwara Andrejewna«, sagte der General und liebkoste Warja mit Blicken. »Sie sind eine außergewöhnliche junge Frau. Aber gestatten Sie, daß ich Ihnen meine Gefährten vorstelle. Mister MacLaughlin haben Sie wohl schon kennengelernt, und dies ist meine Ordonnanz, Serjosha Berestschagin, Bruder des Malers Berestschagin.« (Vor Wanja verbeugte sich linkisch ein magerer hübscher Jünghing im Tscherkessenrock.) »Er zeichnet übrigens auch sehr gut. An der Donau hat er bei einem Erkundungsritt die türkischen Stellungen aufgemalt - die reinste Augenweide. Aber wo ist d'Hevrais? He, d'Hevrais, kommen. Sie, ich will Sie einer interessanten Dame vorstellen.«

Warja musterte neugierig den Franzosen, der als letzter heranritt (er trug eine Armbinde »Presse 32«). Er war bildschön und stand darin General Sobolew nicht nach: schmale Hakennase, aufgezwirbelter blonder Schnauzer nebst rötlichem Spitzbärtchen, gescheite graue Augen. Die blickten im übrigen wütend.

»Diese Halunken sind eine Schande für die türkische Armee!« rief er auf französisch. »Friedliche Einwohner abschlachten, das können sie, aber wenn es zum Kampf kommt, schlagen sie sich seitlich in die Büsche. Wäre, ich Kerim Pascha, würde ich sie alle entwaffnen und aufhängen lassen!«

»Gemach, wackerer Chevalier, hier ist eine Dame«, unterbrach MacLaughlin ihn spöttisch. »Sie haben Glück, denn Sie treten als romantischer Held vor sie hin, also Mut! Schauen Sie, wie sie Sie anguckt.«

Warja errötete und warf dem Iren einen erbosten Blick zu, aber MacLaughlin lachte gutmütig.

Dafür benahm sich d'Hevrais so, wie es sich für einen wahren Franzosen geziemt - er saß ab und verbeugte sich.

»Charles d'Hevrais, Ihnen zu dienen, Mademoiselle.«

»Warwara Suworowa«, sagte sie freundlich. »Freut mich, Sie kennenzulernen. Und meinen Dank an Sie alle, meine Herren. Sie sind genau im richtigen Moment gekommen.«

»Gestatten Sie, nach Ihrem Namen zu fragen.« D'Hevrais' Blick ruhte neugierig auf Fandorin.

»Erast Fandorin«, antwortete der Freiwillige und sah dabei nicht den Franzosen, sondern den General an. »Ich habe in Serbien gekämpft, und j-jetzt muß ich zum Hauptstab, dem ich eine wichtige Meldung zu machen habe.«

Der General musterte Fandorin von Kopf bis Fuß. Dann fragte er mit respektvollem Interesse: »Da haben Sie wohl viel durchgemacht? Womit haben Sie sich vor Serbien beschäftigt?«

Nach einigem Zögern antwortete Fandorin: »Ich war im Ministerium des Auswärtigen angestellt. Als Titularrat.«

Das war überraschend. Ein Diplomat? Um die Wahrheit zu sagen, die neuen Eindrücke hatten den starken Effekt (wozu es verschweigen), den ihr wortkarger Begleiter auf Warja gemacht hatte, ein wenig abgeschwächt, doch jetzt betrachtete sie ihn wieder mit Wohlgefallen. Ein Diplomat, der freiwillig in den Krieg geht, das gibt es, Sie werden es zugeben, nicht eben oft.

Nein, ganz sicher, alle drei waren tolle Männer, jeder auf seine Art: Fandorin, Sobolew und d'Hevrais.

»Was für eine wichtige Meldung?« fragte Sobolew stirnrunzelnd.

Fandorin zögerte mit der Antwort.

»Hören Sie doch auf mit der Geheimniskrämerei«, herrschte der General ihn an. »Das ist zumindest unhöflich gegenüber Ihren Rettern.«

Der Freiwillige senkte gleichwohl die Stimme, und die beiden Journalisten spitzten die Ohren. »Ich komme von Widin, H-herr General. Osman Pascha ist vor drei Tagen mit einem A-armeekorps in Richtung Plewna aufgebrochen.«

»Wer ist Osman? Was ist Plewna?«

»Osman Nuri Pascha ist der beste Feldherr der türkischen Armee und der Besieger der Serben. Er ist erst fünfundvierzig und doch schon Müschir, also Feldmarschall. Seine Soldaten sind mit denen an der Donau nicht zu vergleichen. Und Plewna ist ein Städtchen dreißig Werst westlich von hier. Man muß dem Pascha zuvorkommen und diesen strategisch wichtigen P-punkt besetzen. Er beherrscht die Straße nach Sofia.«

Sobolew klatschte die Hand aufs Knie - sein Pferd wechselte unruhig das Standbein.

»Ach, wenn ich wenigstens ein Regiment hätte! Aber ich bin nicht im Dienst, Fandorin. Sie müssen in den Stab, zum Oberbefehlshaber. Ich muß die Rekognoszierung beenden. Sie bekommen von mir eine Begleitung bis Zarewizy. Am Abend bitte ich Sie, mein Gast zu sein, Warwara Andrejewna. Im Zelt der Herren Journalisten geht es lustig zu.«

»Mit Vergnügen«, sagte Warja und blickte furchtsam zur Seite, wo der aus der Gefangenschaft befreite Offizier ins Gras gelegt worden war. Zwei Kosaken hockten bei ihm und machten etwas mit ihm.

»Ist der Offizier tot?« fragte Warja flüsternd.

»Quicklebendig ist er«, antwortete der General. »Der Satansbraten hat Schwein gehabt, jetzt kann er hundert Jahre alt werden. Als wir den Baschi-Bosuks auf den Fersen waren, haben sie auf seinen Kopf geschossen und sind abgehauen. Aber eine Kugel ist bekanntlich dumm. Es war ein Streifschuß, sie hat ihm nur ein Fetzchen Haut abgerissen. Na, Männer, habt ihr den Hauptmann verbunden?« rief er den Kosaken zu.

Die halfen dem Offizier gerade auf die Beine. Er wankte, stand aber und stieß die Kosaken, die ihn am Ellbogen stützen wollten, von sich weg. Er machte ein paar ruckartige Schritte auf unsicheren Beinen, die ihm einzuknicken drohten, dann legte er die Hände an die Hosennähte und krächzte: »Hauptmann Jeremej Perepjolkin vom Ge-generalstab, Euer Exzellenz. Ich war auf dem Weg von Zimnicea zu meinem Dienstort, zum Stab der Westgruppe, mit meiner Ernennung zur Operationsabteilung, zu Generalleutnant Krüdener. Wurde unterwegs von einer irregulären Kavallerietruppe attackiert und gefangengenommen. Um Vergebung ... Hatte ich nicht erwartet in unserm Hinterland ... Nicht mal eine Pistole hatte ich dabei, nur den Säbel.«

Jetzt sah Warja den Märtyrer genauer an. Er war sehnig, nicht groß, hatte zerrauftes kastanienbraunes Haar, einen schmalen, fast lippenlosen Mund und strenge braune Augen. Genauer, ein solches Auge, das andere war noch immer nicht zu sehen, dafür war der Blick des Hauptmanns nicht mehr voller Todesangst und Verzweiflung.

»Sie leben - wie schön«, sagte Sobolew unbekümmert. »Aber ohne Pistole darf ein Offizier niemals unterwegs sein, auch nicht ein Stabsoffizier. Das ist ja, als ob eine Dame ohne Hut auf die Straße ginge, man würde sie für ein leichtfertiges Frauenzimmer halten.« Er lachte laut auf, sah jedoch Warjas strafenden Blick und verschluckte sich. »Pardon, Mademoiselle.«

Zum General trat ein schneidiger Kosakenunteroffizier und zeigte mit dem Finger irgendwo zur Seite.

»Euer Exzellenz, ich glaube, es ist Semjonow!«

Warja drehte sich um, und ihr wurde schlecht: Beim Gebüsch stand plötzlich der Braune des Banditen, auf dem sie so erfolglos geflohen war, und rupfte Grashalme, als wäre nichts weiter, und an seiner Seite baumelte noch immer das ekelerregende Anhängsel.

Sobolew sprang aus dem Sattel, trat zu dem Braunen, kniff skeptisch die Augen ein, drehte die schreckliche Kugel hin und her.

»Das soll Semjonow sein?« sagte er zweifelnd. »Du spinnst, Netschitailo. Semjonows Gesicht sah ganz anders aus.«

»Aber doch, Michail Dmitrijewitsch«, sagte der Unteroffizier eifrig. »Da, das eingerissene Ohr, schauen Sie.« Er zog die violetten Lippen des toten Kopfes auseinander. »Und ein Vorderzahn fehlt. Er ist es.«

»Mag sein.« Der General nickte nachdenklich. »Mein Gott, ist der verunstaltet. Warwara Andrejewna, das ist ein Kosak aus der zweiten Hundertschaft, den die Mes'chetinzen des Daud Bek heute früh entführt haben.« Er drehte sich zu Warja um.

Aber Warja hörte nicht - vor ihren Augen tauschten Himmel und Erde die Plätze. D'Hevrais und Fandorin konnten das erschlaffte Fräulein gerade noch auffangen.

Загрузка...