»Regierungsbote« (Sankt Petersburg) vom 9. (21.) Januar 1878
»... bringt einen auf traurige Gedanken. Hier ein paar Daten aus der Rede des Finanzministers, Staatssekretär M. C. Rejtern, die er am letzten Donnerstag auf der Sitzung der Allrussischen Bankvereinigung gehalten hat. 1874 haben wir das erstemal seit vielen Jahren einen Einnahmenüberschuß erzielt, sagte der Minister. Für 1876 errechnete das Staatliche Schatzamt einen disponiblen Überschuß von 40 Millionen Rubel. Aber das knappe Jahr der militärischen Aktionen hat den Staatsschatz 1 Milliarde 20 Millionen Rubel gekostet, und für die weitere Kriegführung sind keine Mittel mehr vorhanden. Da die Ausgaben für zivile Zwecke gekürzt wurden, ist 1877 auf dem Territorium des Reiches keine einzige Werst Eisenbahnstrecke gebaut worden. Die In- und Auslandsverschuldung hat eine nie dagewesene Höhe erreicht und beträgt entsprechend... «
D'Hevrais ließ Warja los, und sie wich voller Entsetzen zur Seite.
Durch die mächtige Tür drang gedämpftes Stimmengewirr.
»Anwar, nennen Sie Ihre Bedingungen!« Das war Fandorin.
»Keine Bedingungen!« (Misinow) »Öffnen Sie sofort, oder ich lasse die Tür mit Dynamit sprengen!«
»Sie können Ihrem Gendarmeriekorps Befehle geben!« (Sobolew.) »Wenn gesprengt wird, kommt sie doch um!«
»Meine Herren!« schrie auf französisch d'Hevrais, der nicht d'Hevrais war. »Das ist unhöflich! Sie lassen mich nicht mit der Dame sprechen!«
»Charles oder wie Sie heißen!« brüllte Sobolew mit schallendem Generalsbaß. »Wenn Warwara Andrejewna auch nur ein Haar gekrümmt wird, spieße ich Sie auf den Pfahl ohne Untersuchung und Verhandlung!«
»Noch ein Wort, und ich erschieße zuerst sie und dann mich!« rief d'Hevrais mit dramatisch erhobener Stimme und zwinkerte auf einmal Warja zu, als hätte er einen nicht ganz stubenreinen, aber höchst komischen Witz erzählt.
Vor der Tür wurde es still.
»Sehen Sie mich nicht so an, als hätte ich plötzlich Hörner und Hauer, Mademoiselle Barbara«, sagte d'Hevrais mit seiner gewöhnlichen Stimme und rieb sich müde die Augen. »Selbstverständlich werde ich Sie nicht töten, und ich möchte auf keinen Fall Ihr Leben in Gefahr bringen.«
»Ach ja?« fragte sie giftig. »Wozu dann dieses ganze Theater? Warum haben Sie drei gänzlich unschuldige Menschen ermordet? Worauf hoffen Sie?«
Anwar Effendi (d'Hevrais kann vergessen werden) zog seine Uhr hervor.
»Fünf nach sechs. Ich brauche >dieses ganze Theater<, um Zeit zu gewinnen. Übrigens, um den Fähnrich brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Da ich wußte, daß Sie ihn mögen, habe ich ihm nur den Oberschenkel durchlöchert, das ist nicht schlimm. Später kann er sich mit der Kriegsverwundung brüsten. Was die Gendarmen angeht, so ist das ihr Berufsrisiko.«
»Zeit gewinnen? Wozu?« fragte Warja besorgt.
»Schauen Sie, Mademoiselle Barbara, laut Plan wird in einer Stunde und fünfundzwanzig Minuten, also um halb acht, in San Stefano ein anatolisches Schützenregiment einrücken. Das ist eine der besten Truppen der türkischen Garde. Wir sind davon ausgegangen, daß die Abteilung Sobolew zu diesem Zeitpunkt schon den Stadtrand von Stambul erreicht hat, dort ins Feuer der englischen Flotte gerät und zurückweicht. Die türkischen Gardisten hätten dann den ungeordnet fliehenden Russen einen Schlag von hinten versetzt. Ein schöner Plan, und bis zum letzten Moment lief alles wie am Schnürchen.«
»Und weiter?«
»Für den Anfang sollten Sobolews Gedanken auf den verlockenden Personenzug gelenkt werden. Dabei haben Sie mir sehr geholfen, danke. >Ein Buch aufschlagen, heißen Tee trinken< - das war großartig. Das weitere war einfach - der mächtige Ehrgeiz unseres unvergleichlichen Achilles, sein unstillbares Temperament und sein Glaube an seinen Stern hätten die Sache vollendet. Oh, Sobolew wäre nicht gefallen. Ich hätte es nicht zugelassen. Erstens kann ich ihn gut leiden, und zweitens hätte die Gefangennahme des großen Generals eine zweite Etappe des Balkankriegs einleiten können.« Anwar Pascha holte tief Luft. »Schade, daß es nicht geklappt hat. Ihr jugendlicher Greis Fandorin hat Beifall verdient. Wie die östlichen Weisen sagen, es war Karma.«
»Was sagen sie?« fragte Warja verwundert.
»Sehen Sie, Mademoiselle Barbara, Sie sind ein intelligentes, gebildetes Fräulein, aber Sie wissen elementare Dinge nicht«, sagte ihr sonderbarer Gesprächspartner vorwurfsvoll. »>Karma< ist einer der Grundbegriffe der indischen und der buddhistischen Philosophie. Etwas wie das Schicksal im Christentum, aber bedeutend interessanter. Das Elend des Westens besteht darin, daß er sich überheblich zur Weisheit des Ostens verhält. Dabei ist der Osten viel älter, einsichtsvoller und komplizierter. Meine Türkei liegt an der Kreuzung von West und Ost, und das Land könnte eine große Zukunft haben.«
»Lassen Sie das Dozieren«, unterbrach ihn Warja. »Was werden Sie tun?«
»Was ich tun werde?« fragte Anwar verwundert. »Natürlich warten, daß es halb acht wird. Der ursprüngliche Plan ist gescheitert, aber die anatolischen Schützen kommen auf jeden Fall. Der Kampf ist unausweichlich. Wenn unsere Gardisten gewinnen, und sie haben die zahlenmäßige Überlegenheit, die Ausbildung und das Überraschungsmoment auf ihrer Seite, dann bin ich gerettet. Wenn jedoch Sobolews Leute standhalten ... Lassen wir die Mutmaßungen. Übrigens«, er sah Warja ernst in die Augen, »ich kenne Ihre Entschlossenheit, aber kommen Sie nicht auf die Idee, Ihre Freunde vor dem Angriff zu warnen. Wenn Sie auch nur den Mund öffnen, um zu schreien, bin ich genötigt, Sie zu knebeln. Das werde ich tun, trotz der Achtung und Sympathie, die ich für Sie empfinde.«
Er nahm den Schlips ab, machte ein festes Knäuel daraus und steckte es in die Tasche.
»Eine Dame knebeln?« sagte Warja auflachend. »Als Franzose haben Sie mir besser gefallen.«
»Ich versichere Sie, ein französischer Spion würde an meiner Stelle genauso gehandelt haben, wenn von seinen Entscheidungen so viel abhinge. Ich bin es gewohnt, das eigene Leben nicht zu schonen, und habe es viele Male im Interesse der Sache aufs Spiel gesetzt. Das gibt mir das Recht, auch das Leben anderer nicht zu schonen. Es ist ein Spiel von gleich zu gleich, Mademoiselle Barbara. Ein grausames Spiel, aber das Leben ist überhaupt ein grausames Ding. Meinen Sie, mir hätte es nicht leid getan um den tapferen Surow oder den gutmütigen MacLaughlin? Und wie, aber es gibt wichtigere Werte als die Gefühle.«
»Was sollen das für Werte sein?« rief Warja. »Erklären Sie mir, Herr Intrigant, um was für hoher Ideen willen man einen Menschen töten kann, der einem freundschaftlich gesonnen war.«
»Ein ausgezeichnetes Gesprächsthema.« Anwar rückte einen Stuhl näher. »Nehmen Sie Platz, Mademoiselle Barbara, wir müssen uns die Zeit vertreiben. Und sehen Sie mich nicht so böse an. Ich bin kein Ungeheuer, sondern nur ein Feind Ihres Landes. Ich möchte nicht, daß Sie mich als seelenloses Monster betrachten, als das mich der übernatürlich scharfsinnige Monsieur Fandorin dargestellt hat. Ihn hätte ich rechtzeitig unschädlich machen müssen. Ja, ich bin ein Mörder. Aber wir sind hier alle Mörder, auch Ihr Fandorin und der verstorbene Surow und Misinow. Und Sobolew ist ein Obermörder, der badet geradezu in Blut. Bei unseren Männerspielen sind nur zwei Rollen möglich: Mörder oder Ermordeter. Machen Sie sich keine Illusionen, Mademoiselle, wir leben alle im Dschungel. Versuchen Sie, mich unvoreingenommen zu sehen und zu vergessen, daß Sie Russin sind und ich Türke bin. Ich habe mir im Leben einen sehr schweren Weg ausgesucht. Sie sind mir nicht gleichgültig. Ich bin sogar ein bißchen verliebt in Sie.«
Warja, von dem »ein bißchen« unangenehm berührt, runzelte die Stirn.
»Vielen Dank«, sagte sie.
»Na ja, ich habe mich ungeschickt ausgedrückt.« Anwar breitete die Arme aus. »Ich kann mir nicht erlauben, mich ernsthaft zu verlieben, das wäre ein unzulässiger und gefährlicher Luxus. Lassen wir das. Ich möchte lieber Ihre Frage beantworten. Einen Freund betrügen oder töten, das ist eine schwere Prüfung, aber manchmal muß man auch diese Schwelle überschreiten. Ich mußte es tun.« Seine Mundwinkel zuckten nervös. »Wenn man sich ganz einem hohen Ziel verschreibt, muß man persönliche Bindungen opfern können. Um Beispiele zu finden, brauchen wir nicht weit zu gehen.
Ich bin überzeugt, daß Sie, ein fortschrittliches Mädchen, revolutionäre Ideen leidenschaftlich bejahen. Ist es nicht so? Bei Ihnen in Rußland haben die Revolutionäre schon angefangen zu schießen. Bald wird ein heimlicher Krieg beginnen, das können Sie einem Profi wie mir glauben. Idealistisch gesonnene Jünglinge und Mädchen werden Paläste, Züge und Kutschen in die Luft sprengen. Darin werden außer dem reaktionären Minister und dem bösen Gouverneur unweigerlich unschuldige Menschen sitzen - Angehörige, Gehilfen, Dienerschaft. Aber um der Idee willen wird das in Kauf genommen. Warten Sie ab. Ihre Idealisten werden sich ins Vertrauen schleichen und spionieren und betrügen und Abtrünnige töten - alles für die Idee.«
»Und worin besteht Ihre Idee?« fragte Warja scharf.
»Wenn Sie gestatten, erzähle ich es Ihnen.« Anwar stützte den Ellbogen auf die Stellage mit den Geldsäcken. »Ich sehe Rettung nicht in der Revolution, sondern in der Evolution. Diese muß man nur in die richtige Richtung lenken, man muß ihr helfen. Unser neunzehntes Jahrhundert entscheidet das Schicksal der Menschheit, davon bin ich zutiefst überzeugt. Man muß den Kräften der Vernunft und der Toleranz helfen, die Oberhand zu gewinnen, ansonsten werden in nächster Zukunft schwere und überflüssige Erschütterungen die Erde heimsuchen.«
»Und wo wohnen Vernunft und Toleranz? In den Besitzungen Ihres Abd ul Hamid?«
»Natürlich nicht. Ich meine diejenigen Länder, in denen der Mensch nach und nach lernt, sich und andere zu achten, nicht mit dem Knüppel, sondern mit der Überzeugung zu siegen, Schwache zu unterstützen, Andersdenkende zu tolerieren. Ach, welch vielversprechende Prozesse entwickeln sich in Westeuropa und in Nordamerika! Ich bin natürlich weit davon entfernt zu idealisieren. Auch dort gibt es viel Schmutz, viele Verbrechen, viel Dummheit. Aber der Gesamtkurs ist richtig. Die Welt muß diesen Weg gehen, sonst versinkt die Menschheit in Chaos und Tyrannei. Der helle Fleck auf der Karte des Planeten ist noch sehr klein, aber er wird rasch größer. Man muß ihn nur vor dem Druck der Finsternis bewahren. Es läuft eine grandiose Schachpartie, und ich spiele darin für die Weißen.«
»Demnach ist Rußland für die Schwarzen?«
»Ja. Ihr gewaltiges Reich bildet heute die Hauptgefahr für die Zivilisation - mit seinen weiten Räumen, seiner zahlreichen unwissenden Bevölkerung, seiner schwerfälligen und aggressiven Staatsmaschine. Ich beobachte Rußland schon lange, ich habe die Sprache gelernt, bin viel gereist, habe historische Aufsätze gelesen, habe Ihren Staatsmechanismus studiert und Ihre Führer kennengelernt. Sie brauchen nur Sobolew zuzuhören, diesem Herzchen, der ein neuer Napoleon werden will! Die Mission des russischen Volkes sei die Einnahme von Zargrad und die Vereinigung aller Slawen. Wozu? Damit die Romanows Europa wieder ihren Willen diktieren? Eine Horrorvision! Sie hören das nicht gern, Mademoiselle Barbara, aber Rußland birgt in sich eine schreckliche Bedrohung für die Zivilisation. In Rußland brodeln wilde, zerstörerische Kräfte, die früher oder später nach außen drängen werden, und das wird der Welt nicht gut bekommen. Es ist ein instabiles, absurdes Land, das alles Schlechte vom Westen wie vom Osten in sich aufgesogen hat. Rußland muß in die Schranken gewiesen, muß gebändigt werden. Das ist zu seinem Nutzen und ermöglicht es Europa, sich weiterhin in der notwendigen Richtung zu entwickeln. Wissen Sie, Mademoiselle Barbara«, Anwars Stimme zitterte plötzlich, »ich liebe meine unglückliche Türkei sehr. Sie ist ein Land der versäumten großen Möglichkeiten. Aber ich bin mit vollem Bewußtsein bereit, den osmanischen Staat zu opfern, wenn ich damit die russische Bedrohung von der Menschheit abwenden kann. Da wir schon vom Schach sprechen, wissen Sie, was ein Gambit ist? Nein? Das italienische gambetto, dare il gambetto, bedeutet >ein Bein stellen<. Gambit, das ist ein Eröffnungsspiel, bei dem man dem Gegner eine Figur opfert, um strategische Überlegenheit zu gewinnen. Ich selbst habe Rußland ganz am Anfang dieser Schachpartie eine verlockende Figur angeboten - die fette, appetitliche, schwache Türkei. Das Osmanische Reich wird sterben, aber Zar Alexander wird das Spiel nicht gewinnen. Im übrigen hat sich der Krieg so günstig gestaltet, daß vielleicht auch für die Türkei noch nicht alles verloren ist. Sie behält ja Midhat Pascha. Das ist ein vorzüglicher Mann, Mademoiselle Barbara, ich habe ihn absichtlich eine Zeitlang aus dem Spiel genommen, doch jetzt muß ich ihn wieder hereinnehmen. Wenn ich die Möglichkeit habe. Midhat Pascha kehrt unbefleckt nach Stambul zurück und nimmt die Macht in seine Hände. Vielleicht rückt die Türkei dann aus der Dunkelheit ins Licht.«
Vor der Tür die Stimme Misinows: »Herr Anwar, warum alles in die Länge ziehen? Das ist doch kleinmütig! Kommen Sie raus, ich verspreche Ihnen den Status des Kriegsgefangenen.«
»Und den Galgen wegen Kasansaki und Surow?« flüsterte Anwar.
Warja holte tief Luft, aber der Türke war auf der Hut - er holte den Knebel aus der Tasche und schüttelte ausdrucksvoll den Kopf.
»Ich muß nachdenken, Monsieur General!« rief er. »Um halb acht werde ich Ihnen antworten!«
Danach schwieg er lange. Er lief im Tresorraum auf und ab, sah mehrmals nach der Uhr.
»Wenn ich nur raus könnte!« murmelte der seltsame Mann endlich und schlug mit der Faust auf das eiserne Regal. »Ohne mich verschlingt Abd ul Hamid den edlen Midhat!«
Er blickte Warja mit seinen klaren hellblauen Augen schuldbewußt an und erklärte: »Verzeihen Sie, Mademoiselle Barbara, ich bin nervös. Mein Leben ist in dieser Partie nicht ganz ohne Bedeutung. Mein Leben ist auch eine Figur, aber ich schätze es höher als das Osmanische Reich. Sagen wir so: Das Reich ist ein Läufer, und ich bin die Dame. Doch um des Sieges willen kann man auch die Dame opfern. Jedenfalls habe ich die Partie nicht verloren, ein Remis ist mir sicher!« Er lachte aufgeregt. »Es ist mir gelungen, Ihre Armee bei Plewna bedeutend länger festzuhalten, als ich gehofft hatte. Sie haben Kraft und Zeit verschwendet. England hat sich auf die Konfrontation vorbereitet, Österreich die Feigheit abgeworfen. Selbst wenn es keine zweite Etappe des Krieges gibt, hat Rußland das Nachsehen. Zwanzig Jahre hat es gebraucht, sich vom Krimkrieg zu erholen, und zwanzig Jahre lang wird es seine Wunden aus dem gegenwärtigen Krieg lecken. Und das jetzt, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, wo jedes Jahr so viel bedeutet. In zwanzig Jahren wird Europa gewaltig vorankommen. Rußland ist künftig die Rolle einer zweitrangigen Macht zugewiesen. Es wird zerfressen vom Geschwür der Korruption und des Nihilismus und wird den Fortschritt nicht mehr bedrohen.«
Da riß Warja die Geduld.
»Wer sind Sie denn, daß Sie sich ein Urteil anmaßen, wer der Zivilisation das Heil bringt und wer den Untergang? Den Staatsmechanismus hat er studiert, unsere Führer kennengelernt! Und den Grafen Tolstoi, Fjodor Dostojewski haben Sie nicht kennengelernt? Haben Sie die russische Literatur gelesen? Was, keine Zeit gehabt? Zweimal zwei ist immer vier und dreimal drei neun, ja? Zwei parallele Geraden schneiden sich niemals, wie? Bei Ihrem Euklid vielleicht nicht, aber bei unserm Lobatschewski schneiden sie sich!«
»Ich verstehe Ihre Metapher nicht«, sagte Anwar achselzuckend. »Und die russische Literatur habe ich natürlich gelesen. Es ist eine gute Literatur, nicht schlechter als die englische oder französische. Aber Literatur ist ein Spielzeug und kann in einem normalen Land keine wichtige Bedeutung haben. Ich selbst bin ja auch eine Art Literat. Man soll sich einer Aufgabe widmen und nicht sentimentale Märchen schreiben. Die Schweiz zum Beispiel hat keine große Literatur, doch das Leben dort ist unvergleichlich würdiger als bei Ihnen in Rußland. Ich habe in der Schweiz meine ganze Kindheit und Jugend verbracht, und Sie können mir glauben ...«
Er sprach nicht zu Ende - aus der Ferne war das Knattern von Schüssen zu hören.
»Es geht los! Vorzeitig!«
Anwar legte das Ohr an die Tür, seine Augen glänzten fiebrig.
»Verdammt! Und der Raum hat kein einziges Fenster!«
Warja versuchte vergeblich, ihr wild pochendes Herz zu beruhigen. Das Krachen der Schüsse kam näher. Sie hörte, wie Sobolew irgendwelche Befehle gab, konnte aber nichts verstehen. Jemand rief »Allah!«, dann dröhnte eine Salve.
Anwar drehte die Trommel seines Revolvers und murmelte: »Ich könnte einen Ausfall machen, aber ich habe nur noch drei Patronen. Ich hasse Untätigkeit!«
Er fuhr zusammen - Schüsse knallten schon im Gebäude.
»Wenn Unsere siegen, schicke ich Sie nach Adrianopel«, sagte Anwar schnell. »Jetzt geht der Krieg wohl zu Ende. Eine zweite Etappe wird es nicht geben. Schade. Nicht alles kommt wie geplant. Vielleicht sehen wir beide uns wieder. Jetzt hassen Sie mich natürlich, aber wenn Zeit vergangen ist, werden Sie sehen, daß ich recht hatte.«
»Ich hege keinen Haß gegen Sie«, sagte Warja. »Es macht mich nur traurig, daß ein so talentierter Mensch wie Sie sich mit solchem Schmutz beschäftigt. Ich erinnere mich, wie Misinow die Geschichte Ihres Lebens vorlas ... «
»Wirklich?« sagte Anwar zerstreut, er horchte auf den Schußwechsel.
»Ja. So viele Intrigen, so viele Tote! Der Tscherkesse, der vor seiner Hinrichtung Arien sang, war doch Ihr Freund? Haben Sie den auch geopfert?«
»Ich denke nicht gern an diese Geschichte«, sagte er ernst. »Wissen Sie, was ich bin? Ein Geburtshelfer, ich helfe einem Säugling ans Licht der Welt, und meine Hände sind bis zum Ellbogen voller Blut und Schleim.«
Eine Salve krachte ganz in der Nähe.
»Ich werde jetzt die Tür öffnen«, sagte Anwar und spannte den Hahn, »und meinen Leuten helfen. Sie bleiben hier und stecken um Gottes willen nicht den Kopf heraus. Es ist bald zu Ende.«
Er griff nach dem Riegel und erstarrte plötzlich - in der Bank wurde nicht mehr geschossen. Es ertönten Stimmen, aber ob russische oder türkische war nicht auszumachen. Warja hielt den Atem an.
»Ich dreh dir die Visage nach hinten! Hier im Winkel sich rumdrücken, du Arsch-Arsch-Arsch!« bellte ein Unteroffiziersbaß, und die heimatliche Stimme ließ Warja erbeben.
Durchgehalten! Abgewehrt!
Das Schießen entfernte sich immer weiter, und sie hörten deutlich ein langgedehntes »Hurraa!«.
Anwar stand mit geschlossenen Augen da. Sein Gesicht war ruhig und traurig. Als die Schießerei
ganz aufhörte, zog er den Riegel zurück und öffnete ein wenig die Tür.
»Das war's, Mademoiselle Barbara. Ihre Einkerkerung ist beendet. Gehen Sie.«
»Und Sie?« flüsterte Warja.
»Die Dame wird ohne besonderen Vorteil geopfert. Schade. Ansonsten bleibt alles in Kraft. Gehen Sie. Ich wünsche Ihnen Glück.«
»Nein!« Sie wich seiner Hand aus. »Ich lasse Sie nicht hier. Ergeben Sie sich, ich werde vor Gericht zu Ihren Gunsten aussagen.«
»Damit die mir die Kehle zunähen und mich dann doch hängen?« sagte Anwar auflachend. »Nein, besten Dank. Ich kann vor allem zwei Dinge auf der Welt nicht ertragen - Demütigung und Kapitulation. Leben Sie wohl, ich muß allein sein.«
Er faßte Warja am Ärmel und schob sie mit einem sachten Stoß hinaus. Die Stahltür schloß sich gleich wieder.
Warja sah vor sich den bleichen Fandorin. Neben dem zerschlagenen Fenster stand General Misinow und schnauzte die Gendarmen an, die die Glasscherben zusammenfegten. Draußen tagte es.
»Wo ist Sobolew?« fragte Warja erschrocken. »Gefallen? Verwundet?«
»Lebendig und gesund«, antwortete Fandorin und musterte sie aufmerksam. »Er ist in seinem Element - verfolgt die Feinde. Der arme Perepjolkin ist wieder verwundet, ein Jatagan hat ihm das halbe Ohr abgeschnitten. Wahrscheinlich bekommt er wieder einen Orden. Und um den Fähnrich Gridnew brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, er ist auch am Leben.«
»Ich weiß«, sagte sie. Fandorin verengte ein wenig die Augen.
Misinow trat zu ihnen.
»Noch ein Loch im Mantel«, klagte er. »Das ist mir ein Tag. Er hat Sie rausgelassen? Ausgezeichnet! Jetzt können wir Dynamit nehmen.«
Er näherte sich vorsichtig der Tür zum Tresorraum und fuhr mit der Hand über den Stahl.
»Zwei Stangen müßten reichen. Oder ist das zuviel? Es wäre gut, den Halunken lebendig zu kriegen.«
Durch die Tür des Tresorraums klang sorgloses und höchst melodisches Pfeifen.
»Er pfeift!« rief Misinow entrüstet. »Wie finden Sie das? Na, du hast mir gleich ausgepfiffen. Nowgorodzew! Schicken Sie jemanden zu den Pionieren, Dynamit holen!«
»D-dynamit wird nicht gebraucht«, sagte Fandorin leise, er horchte auf das Pfeifen.
»Sie stottern ja wieder«, konstatierte Warja. »Heißt das, alles ist vorbei?«
Stiefelkrachend kam Sobolew herein, sein weißer Mantel mit den roten Aufschlägen stand offen.
»Sie sind zurückgewichen!« verkündete er mit heiserer Stimme. »Die Verluste sind entsetzlich hoch, aber macht nichts, bald kommt ein Zug mit Verstärkung. Aber wer pfeift da so schön? Das ist ja >Lucia di Lammermoor< von Donizetti, meine Lieblingsoper!« Der General fiel mit angenehmem, etwas heiserem Bariton ein:
Del siel clemente un riso,
la vita a noi sara!
Er sang gefühlvoll die letzte Strophe. Drinnen ertönte ein Schuß.