ZWÖLFTES KAPITEL, in welchem die Ereignisse eine unerwartete Wendung nehmen

»Petersburger Nachrichten«

vom 8. (20.) Januar 1878

DIE TÜRKEN BITTEN UM FRIEDEN!

»Nach der Kapitulation von Wessel Pascha, der Einnahme von Philippopel und der Übergabe des alten Adrianopel, das gestern den Kosaken des Weißen Generals die Tore öffnete, ist der Krieg endgültig entschieden, und heute früh traf der Zug mit den türkischen Parlamentären bei unseren ruhmreichen Truppen ein. Der Zug wurde in Adrianopel gestoppt, und die Paschas wurden in den Stab des Oberbefehlshabers gebracht, der in dem Ort Hermanli Quartier genommen hat. Als der Führer der türkischen Delegation, der 76jährige Namik Pascha, über die voraussichtlichen Friedensbedingungen unterrichtet wurde, rief er verzweifelt aus: >Votre armee est victorieuse, votre ambition es satisfaite et la Turkie est detruite!< (*(franz.) Ihre Armee hat gesiegt, Ihr Ehrgeiz ist befriedigt, und die Türkei ist zerstört.)«

Nun, fügen wir hinzu, schadet der Türkei gar nichts.«

Sie hatten sich nicht mal richtig verabschiedet. Auf der Vortreppe des »Feldpalastes« fing Sobolew Warja ab, verzauberte sie mit der Aura von Ruhm und Erfolg und entführte sie in seinen Stab zur Siegesfeier. Sie konnte Fandorin grade noch zunicken, und am nächsten Morgen war er nicht mehr im Lager. Der Bursche Trifon sagte: »Sind abgereist. Kommen Sie in einem Monat wieder.«

Aber der Monat ging ins Land, und der Titularrat war noch nicht wieder da. Es war wohl nicht so ganz einfach, MacLaughlin in England aufzuspüren.

Nicht daß Warja sich langweilte - im Gegenteil. Nachdem sie das Plewnaer Lager verlassen hatten, wurde das Leben spannend. Jeden Tag neue Städte, phantastische Berglandschaften, und fast täglich gab es Siegesfeiern. Der Stab des Oberbefehlshabers zog zunächst nach Kasanlik jenseits des Balkangebirges, dann noch weiter südlich nach Hermanli. Hier war kein Winter mehr. Die Bäume prangten im Grün, Schnee war nur noch auf den fernen Berggipfeln zu sehen.

Ohne Fandorin hatte Warja nichts zu tun. Sie gehörte nach wie vor zum Stab, bezog ein Gehalt für Dezember und Januar plus Reisespesen plus Weihnachtsgratifikation. Das Geld sammelte sich an, und sie konnte es nicht ausgeben. Einmal wollte sie in Sofia eine bezaubernde kupferne Öllampe kaufen (fast wie die Lampe des Aladin), aber daraus wurde nichts. D'Hevrais und Gridnew hätten sich fast darum geschlagen, wer Warja das Spielzeug überreichen durfte. Sie mußte verzichten.

Ja, Gridnew. Der achtzehnjährige Fähnrich war Warja von Sobolew zugeteilt worden. Der Weiße General war Tag und Nacht mit kriegerischen Dingen beschäftigt, doch darüber vergaß er Warja nicht. Wenn er sich mal losreißen und in den Stab kommen konnte, schaute er unbedingt bei ihr vorbei, er schickte ihr gigantische Blumensträuße, lud sie zu Festgelagen ein (Neujahr wurde zweimal begangen, nach westlichem und nach russischem Kalender). Aber das war dem hartnäckigen Sobolew nicht genug. Er kommandierte eine seiner Ordonnanzen zu ihrer Verfügung ab - »zur Hilfe auf Reisen und zum Schutz«. Der Fähnrich schmollte zunächst und betrachtete seinen berockten Vorgesetzten mit den Blicken eines Jungwolfs, wurde aber ziemlich schnell zahm und hegte wohl sogar romantische Gefühle. Das war komisch, doch auch schmeichelhaft. Gridnew war häßlich (einen Schönen würde der Stratege Sobolew ihr nicht zugewiesen haben), aber nett und hitzköpfig wie ein junger Hund. Neben ihm fühlte sich die zweiundzwanzigjährige Warja als erwachsene und erfahrene Frau.

Ihre Stellung war ziemlich sonderbar. Im Stab galt sie offenbar als Sobolews Geliebte. Und da alle von dem Weißen General begeistert waren und ihm alles verziehen, verurteilte sie niemand. Im Gegenteil, auf sie fiel ein Abglanz von Sobolews Ruhm. Viele der Offiziere würden sich sogar entrüstet haben, hätten sie gewußt, daß sie es wagte, den ruhmreichen Achilles abzuweisen und einem jämmerlichen Chiffrierer die Treue zu halten.

Mit Petja lief es, um ehrlich zu sein, nicht besonders gut. Nein, eifersüchtig war er nicht, er machte ihr auch keine Szenen. Aber seit seinem Selbstmordversuch war es mit ihm schwierig geworden. Erstens bekam sie ihn fast nie zu sehen - er »tilgte seine Schuld« durch Arbeit, da es in der Chiffrierabteilung unmöglich war, sie mit Blut zu tilgen. Er arbeitete zwei Schichten hintereinander, schlief an Ort und Stelle auf einem Klappbett, ging nicht in den Presseklub, nahm nicht an den kleinen Gelagen teil. Weihnachten mußte sie ohne ihn feiern. Wenn er sie sah, leuchtete sein Gesicht in stiller, zärtlicher Freude. Er sprach mit ihr wie mit der Ikone der Gottesmutter von Wladimir: Sie sei so licht, sie sei seine einzige Hoffnung, und ohne sie sei er gänzlich verloren.

Er tat ihr unsagbar leid. Zugleich aber stellte sie sich immer öfter die unangenehme Frage: Kann man einen Mann aus Mitleid heiraten? Wohl nicht. Aber noch unvorstellbarer war es, ihm zu sagen: »Weißt du, Petja, ich hab's mir anders überlegt und werde nicht deine Frau.« Das wäre so gewesen, als gäbe man einem angeschossenen Tier den Gnadenschuß. Eine rundherum verfahrene Geschichte.

In dem von Ort zu Ort ziehenden Presseklub traf sich noch immer eine zahlreiche Gesellschaft, aber es ging nicht mehr so hoch her wie in den unvergeßlichen Zeiten mit Surow. Die Kartenspiele liefen mit gemäßigten Einsätzen. Die Schachpartien hatten mit dem Verschwinden MacLaughlins aufgehört. Die Journalisten erwähnten den Iren nicht mehr, jedenfalls nicht in Gegenwart der Russen, aber die beiden übrigen britischen Korrespondenten wurden demonstrativ boykottiert und besuchten den Klub nicht mehr.

Es gab natürlich weiterhin Zechgelage und Skandale. Zweimal kam es beinahe zum Blutvergießen, und beide Male ausgerechnet wegen Warja.

Das erstemal, noch in Kasanlik, machte ein zugereister kleiner Adjutant, der über Warjas Status nicht Bescheid wußte, einen unpassenden Scherz, indem er sie »Herzogin Marlborough« nannte - eine deutliche Anspielung auf den »Herzog Marlborough« Sobolew. D'Hevrais verlangte von dem Frechling eine Entschuldigung, der war betrunken und sträubte sich, und sie gingen hinaus, um sich zu schießen. Warja war nicht im Zelt, sonst würde sie diesen albernen Konflikt natürlich unterbunden haben. Aber es ging glimpflich ab: Der Adjutant schoß fehl, und d'Hevrais' Gegenschuß riß ihm die Mütze vom Kopf, worauf der Beleidiger nüchtern wurde und sein Unrecht eingestand.

Das zweitemal war es der Franzose, der gefordert wurde, wieder wegen eines Scherzes, den Warja diesmal recht komisch fand. Sie wurde inzwischen ständig von dem jungen Gridnew begleitet. D'Hevrais bemerkte laut, »Mademoiselle Barbara« gleiche jetzt der Zarin Anna Ioannowna mit dem kleinen Mohren, worauf der Fähnrich, den der finstere Ruf des Korrespondenten nicht ängstigte, sofortige Satisfaktion verlangte. Da Warja zugegen war, kam es nicht zur Schießerei. Sie befahl Gridnew, den Mund zu halten, und d'Hevrais, seine Worte zurückzunehmen. Der Korrespondent bereute sogleich, gab zu, daß der Vergleich unangebracht sei und daß Monsieur le sous-lieutenant eher Herkules gleiche, nachdem der die cerynitische Hirschkuh gefangen hatte. Damit versöhnte man sich.

Warja gewann manchmal den Eindruck, daß d'Hevrais ihr eindeutige Blicke zuwarf, aber äußerlich benahm sich der Franzose wie ein echter Bayard. Wie die anderen Journalisten war er häufig ein paar Tage an der vordersten Linie, und sie sahen sich jetzt seltener als bei Plewna. Aber einmal kam es zwischen ihnen zu einem Gespräch unter vier Augen, das Warja später Wort für Wort im Gedächtnis rekonstruierte und in ihr Tagebuch schrieb (nach Fandorins Abreise hatte es sie gedrängt, Tagebuch zu führen, wahrscheinlich weil sie nichts zu tun hatte).

Sie saßen in einer Gebirgsschenke, wärmten sich am Feuer, tranken Glühwein, und der Journalist fühlte sich etwas mitgenommen von der Kälte.

»Ach, Mademoiselle Barbara, wenn ich, nicht ich wäre«, sagte d'Hevrais mit bitterem Auflachen, ohne zu wissen, daß er fast wörtlich den von Warja vergötterten Pierre Besuchow aus »Krieg und Frieden« zitierte, »wenn ich in einer anderen Situation wäre, einen anderen Charakter hätte, ein anderes Schicksal ...« Er blickte Warja so an, daß ihr Herz in der Brust zu hüpfen begann wie über ein Springseil. »Ich würde unbedingt in Rivalität zu dem glänzenden Sobolew treten. Wie ist es, hätte ich gegen ihn wenigstens eine Chance?«

»Natürlich, hätten Sie«, antwortete Warja ehrlich und stutzte - das klang ja wie eine Einladung zum

Flirt. »Ich will sagen, daß Sie, Charles, nicht weniger und nicht mehr Chancen hätten als Sobolew. Das heißt, keine. Fast keine.«

Das »fast« hatte sie doch hinzugefügt. O verhaßte, unausrottbare Weiblichkeit!

Da d'Hevrais empfindsam wirkte wie noch nie, stellte Warja ihm eine Frage, die sie schon lange interessierte: »Charles, haben Sie eigentlich Familie?«

Der Journalist schmunzelte. »In Wirklichkeit wollen Sie wissen, ob ich verheiratet bin.«

Warja war verlegen. »Na, nicht nur. Eltern, Geschwister.«

Warum eigentlich heucheln, wies sie sich zurecht, das ist eine ganz normale Frage. Und fügte entschlossen hinzu: »Ob Sie verheiratet sind, möchte ich natürlich auch wissen. Sobolew macht kein Hehl daraus, daß er es ist.«

»Nein, Mademoiselle Barbara. Ich habe keine Frau und keine Braut. Auch noch nie gehabt. Das ist eine andere Lebensweise. Ein paar Affären hatte ich natürlich - das sage ich Ihnen ohne Scheu, denn Sie sind eine moderne Frau ohne Prüderie.« (Warja lächelte geschmeichelt.) »Aber eine Familie ... Nur noch meinen Vater, den ich sehr liebe und nach dem ich mich sehr sehne. Er ist jetzt in Frankreich. Irgendwann erzähle ich Ihnen von ihm. Nach dem Krieg, gut? Das ist eine lange Geschichte.«

Sie war ihm also nicht gleichgültig, aber mit Sobolew zu rivalisieren wünschte er nicht. Wohl aus Stolz.

Aber dieser Umstand hinderte den Franzosen nicht, freundschaftliche Beziehungen zu Sobolew zu unterhalten. Wenn er davonritt, dann zur Abteilung des Weißen Generals, denn der befand sich ständig bei der Avantgarde der angreifenden Armee, und da war für Zeitungsleute was zu holen.

Am Mittag des 8. Januar schickte Sobolew eine erbeutete Kutsche mit einer Kosakeneskorte, um Warja in das soeben eingenommene Adrianopel einzuladen. Auf dem weichen Ledersitz lag ein Armvoll Treibhausrosen. Mitja Gridnew ordnete diese Vegetation zu einem Strauß, zerriß sich an den Dornen seine neuen Handschuhe und war sehr verdrossen. Warja tröstete ihn während der Fahrt und versprach ihm aus Übermut die ihrigen (der Fähnrich hatte kleine Hände wie ein Mädchen). Mitja runzelte die weißlichen Brauen, schniefte beleidigt und schmollte eine halbe Stunde lang, wobei er mit den langen dichten Wimpern klapperte. Diese Wimpern sind wohl das einzige, womit der schwächliche Junge Glück gehabt hat, dachte Warja. Sie sind wie die von Fandorin, nur hell. So wanderten ihre Gedanken ganz natürlich zu dem Mann, der sich irgendwo herumtrieb. Wenn er doch bald zurückkäme! Mit ihm war es ... Ruhiger? Interessanter? Das ließ sich nicht so genau sagen, aber besser war es bestimmt.

Als sie ankamen, dämmerte es bereits. Die Stadt war still geworden, in den Straßen zeigte sich keine Menschenseele, nur die Hufe der berittenen Patrouillen klackerten über das Pflaster, und auf der Chaussee wurde polternd Artillerie herangeführt.

Der Stab war provisorisch im Bahnhofsgebäude untergebracht. Schon von weitem hörte Warja bravouröse Musik - ein Blasorchester spielte »Ruhm dir«. Sämtliche Fenster des neuen, im europäischen Stil erbauten Gebäudes waren erleuchtet, auf dem Bahnhofsvorplatz brannten Lagerfeuer, die Schornsteine der Feldküchen qualmten. Am meisten beeindruckte Warja, daß am Bahnsteig ein ganz gewöhnlicher Personenzug hielt. Die Lokomotive stieß schnaufend Dampf aus, als gäbe es keinen Krieg.

Im Wartesaal wurde natürlich gefeiert. Rund um eine aus verschiedenen Tischen zusammengeschobene Tafel mit einfachen Speisen, aber vielen Flaschen tafelten die Offiziere. Als Warja und Gridnew hereinkamen, schmetterten eben alle mit erhobenen Gläsern ein »Hurra«, dem Tisch zugewandt, an dem der Kommandeur saß. Der berühmte weiße Uniformrock des Generals kontrastierte mit den schwarzen Monturen der Armee und den grauen der Kosaken. Neben Sobolew saßen am Ehrentisch die ranghöchsten Heerführer (Warja kannte lediglich Perepjolkin) und d'Hevrais. Alle hatten fröhliche, gerötete Gesichter, also wurde schon eine Weile gefeiert.

»Warwara Andrejewna!« rief Achilles aufspringend. »Ich bin glücklich, daß Sie es möglich gemacht haben! Ein >Hurra<, meine Herren, auf die einzige Dame!«

Alle standen auf und brüllten so ohrenbetäubend, daß Warja erschrak. Noch nie war sie so lautstark begrüßt worden. Hätte sie die Einladung lieber nicht annehmen sollen? Baronesse Wrejskaja, die Chefin des Feldlazaretts, hatte ihre Schäfchen gewarnt: »Mesdames, halten Sie sich von den Männern fern, wenn die erhitzt sind vom Kampf oder, schlimmer, vom Sieg. In ihnen erwacht dann atavistische Wildheit, jeder Mann, sei er selbst Absolvent des Pagenkorps, verwandelt sich zeitweilig in einen Barbaren. Am besten, die Männer bleiben unter sich. Wenn sie etwas abgekühlt sind, nehmen sie wieder zivilisierte Züge an und werden kontrollierbar.«

Aber außer übertriebener Galanterie und ungewöhnlich lauten Stimmen nahm Warja bei ihren Tischnachbarn nichts besonders Wildes wahr. Man hatte ihr den ehrenvollsten Platz zugewiesen, rechts von Sobolew. Auf der anderen Seite saß d'Hevrais.

Nachdem sie Champagner getrunken und sich etwas beruhigt hatte, fragte sie: »Michel, sagen Sie, was ist das da für ein Zug? Ich weiß schon gar nicht mehr, wann ich das letztemal eine Lokomotive auf den Gleisen stehen sah und nicht unterhalb der Böschung liegen.«

»Sie wissen es also noch nicht!« rief ein junger Oberst, der außen am Tisch saß. »Der Krieg ist zu Ende! Heute sind aus Konstantinopel Parlamentäre eingetroffen! Mit der Eisenbahn, wie im Frieden!«

»Und wie viele Parlamentäre sind es?« fragte Warja verwundert. »Ein ganzer Zug voll?«

»Nein, Warja«, erklärte Sobolew. »Nur zwei. Aber die Türken waren so verstört über den Fall von Adrianopel, daß sie, um keine Minute zu verlieren, den Stabswaggon einfach an einen Personenzug angekuppelt haben. Ohne Fahrgäste natürlich.«

»Und wo sind die Parlamentäre?«

»Ich habe sie mit Kutschen zum Großfürsten geschickt. Die Gleise sind ab hier gesprengt.«

»Ach, ich bin schon hundert Jahre nicht mit der Eisenbahn gefahren«, seufzte sie träumerisch.

»Sich in die Polster zurücklehnen, ein Buch aufschlagen, heißen Tee trinken. Draußen huschen die Telegraphenmasten vorbei, die Räder rattern ...«

»Ich würde gern eine Fahrt mit Ihnen machen«, sagte Sobolew, »aber leider ist die Strecke begrenzt. Von hier geht es nur nach Konstantinopel.«

»Meine Herren, meine Herren!« rief d'Hevrais. »Das ist eine großartige Idee! La guerre est en fait fini (*(franz.) Der Krieg ist zu Ende.), die Türken schießen nicht mehr! Die Lokomotive hat übrigens eine türkische Flagge! Da könnten wir doch nach San Stefano fahren und wieder zurück! Na, Michel?« Er fiel endgültig ins Französische und geriet immer mehr in Eifer. »Mademoiselle Barbara reist Polsterklasse, ich schreibe eine schicke Reportage, und mit uns fahren ein paar Stabsoffiziere und schauen sich im türkischen Hinterland um. Wirklich, Michel, das ist ein Kinderspiel! Bis San Stefano und zurück! Darauf kommen die nicht! Und wenn - zu schießen trauen sie sich nicht, die Parlamentäre sind ja in Ihrer Hand! Michel, in San Stefano sieht man die Lichter von Konstantinopel ganz aus der Nähe! Dort sind die Stadtrandvillen der türkischen Wesire! Welch eine Chance!«

»Unverantwortlich und abenteuerlich«, fiel ihm Perepjolkin ins Wort. »Ich hoffe, Michail Dmitrijewitsch, Sie haben genug Vernunft, sich nicht verlocken zu lassen.«

Ein unfreundlicher, unangenehmer Mensch ist dieser Perepjolkin, dachte Warja. Sie hatte in den letzten Monaten eine heftige Abneigung ihm gegenüber entwickelt, wickelt, mochte er als Sobolews Stabschef auch noch so gut sein. Er hatte ja auch allen Grund, sich ins Zeug zu legen - war er doch in weniger als einem halben Jahr vom Hauptmann zum Oberstleutnant aufgestiegen, hatte außerdem ein

Georgskreuz eingeheimst und einen Annensäbel für seine Kampfverletzung. Und alles dank Sobolew. Trotzdem guckte er wie ein Wolf, als hätte Warja ihm etwas gestohlen. Er war wohl eifersüchtig, wollte den General für sich allein haben. Wie mochte er es mit Kasansakis abnormer Veranlagung halten? Warja hatte sich einmal im Gespräch mit Sobolew eine giftige Anspielung auf dieses Thema erlaubt, da hatte dieser so lachen müssen, daß er sogar hustete.

Aber diesmal hatte der widerliche Perepjolkin absolut recht. Die »großartige Idee« von d'Hevrais kam ihr aberwitzig vor. Bei der Tafelrunde hingegen fand das übermütige Vorhaben volle Unterstützung, ein Kosakenoberst hieb dem Franzosen sogar auf den Rücken und nannte ihn »verwegenes Köpfchen«. Sobolew schmunzelte, sagte aber einstweilen nichts.

»Lassen Sie mich das machen, Michail Dmitrijewitsch«, bat der wackere General der Kavallerie Strukow. »Ich setze meine Kosaken in die Waggons, und wir fahren nach Herzenslust. Vielleicht nehmen wir noch einen Pascha gefangen. Das Recht haben wir! Der Befehl über die Einstellung der Kampfhandlungen ist noch nicht da.«

Sobolew warf einen Blick auf Warja, und sie bemerkte in seinen Augen einen besonderen Glanz.

»Nein, Strukow. Adrianopel muß Ihnen reichen.« Der General lächelte räuberisch und erhob die Stimme. »Meine Herren, hören Sie meinen Befehl!« Im Saal wurde es sofort still. »Ich verlege meine Befehlsstelle nach San Stefano! Das dritte Jägerbataillon steigt in die Waggons. Und wenn sie sich drängen müssen wie Heringe in der Tonne, daß mir alle bis auf den letzten mitfahren! Im Stabswaggon fahre ich selbst. Dann kehrt der Zug sofort nach Adrianopel zurück, um Verstärkung zu holen, und befährt diese Strecke regelmäßig. Morgen mittag habe ich dann ein ganzes Regiment bei mir. Sie haben die Aufgabe, Strukow, dort spätestens morgen abend mit der Kavallerie einzutreffen. Bis dahin genügt mir ein Bataillon. Laut Agentenmeldungen gibt es auf unserm Weg keine kampffähigen türkischen Truppen - nur die Garde des Sultans in Konstantinopel, und die muß Abd ul Hamid schützen.«

»Nicht die Türken haben wir zu fürchten, Euer Exzellenz«, sagte Perepjolkin mit knarrender Stimme. »Die Türken werden Sie kaum anrühren, dazu haben sie keine Kraft mehr. Aber der Oberbefehlshaber, der wird Ihnen nicht den Kopf tätscheln.«

»Das steht noch nicht fest, Jeremej Ionowitsch.« Der General kniff ein Auge ein. »Alle wissen, daß Sobolew ein Querkopf ist, darauf läßt sich vieles schieben. Außerdem könnte die Nachricht von der Einnahme der Konstantinopeler Vorstadt, wenn sie mitten in den Verhandlungen eintrifft, Seiner Kaiserlichen Hoheit sehr zupaß kommen. Man wird uns laut beschimpfen, im stillen aber danken. Es wäre nicht das erstemal. Und nun lassen Sie uns nicht mehr diskutieren, nachdem der Befehl ergangen ist.«

»Absolument!« D'Hevrais wiegte begeistert den Kopf. »Un tour de genie (*(franz.) Ein Geniestreich.), Michel! Meine Idee war also nicht die beste. Die Reportage wird besser, als ich dachte.«

Sobolew stand auf und bot Warja förmlich den Arm. »Wie wär's mit einem Blick auf die Lichter von Konstantinopel, Warwara Andrejewna?«

Der Zug brauste durch die Dunkelheit, Warja konnte kaum die Namen der Stationen lesen: Babaeski, Lüleburgaz, Corlu. Die Bahnhofsgebäude sahen so aus wie irgendwo im Tambowschen, nur nicht gelb, sondern weiß. Lichter, die schlanken Silhouetten der Zypressen, einmal blinkte durch das eiserne Gitterwerk einer Brücke der mondlichtbeschienene Streifen eines Flusses.

Der Waggon war bequem, hatte Plüschbänke und einen großen Tisch aus Mahagoni. Die Soldaten der Eskorte und Sobolews Schimmelstute Gulnora waren im Abteil für das Gefolge untergebracht. Von dort tönte immer wieder ein Wiehern - die Stute konnte sich nach der anstrengenden Prozedur

des Verladens nicht beruhigen. Im Salon saßen der General, Warja, d'Hevrais und ein paar Offiziere, auch Mitja Gridnew, der friedlich in einer Ecke schlief. Die Offiziere umdrängten rauchend Perepjolkin, der die Fahrt des Zugs auf der Karte verfolgte, der Korrespondent schrieb etwas in sein Notizbuch, Warja und Sobolew standen am Fenster und führten eine nicht ganz einfache Unterhaltung.

»Ich dachte, es wäre Liebe«, beichtete der General halblaut und blickte scheinbar in die Schwärze draußen, doch Warja wußte, daß er in Wirklichkeit ihr Spiegelbild im Fenster betrachtete. »Aber ich will Sie nicht belügen. Ich habe nie über die Liebe nachgedacht. Meine größte Leidenschaft ist der Ehrgeiz, alles andere kommt danach. So ist das bei mir. Aber Ehrgeiz ist keine Sünde, wenn er auf ein hohes Ziel gerichtet ist. Ich glaube an meinen Stern und mein Schicksal, Warwara Andrejewna. Ich habe einen hellen Stern und ein besonderes Schicksal. Das spüre ich mit dem Herzen. Schon als ich noch Offiziersschüler war ...«

»Sie wollten von Ihrer Frau erzählen«, erinnerte ihn Warja an das, was sie interessierte.

»Ach ja. Ich habe aus Ehrgeiz geheiratet, das gebe ich zu. Es war ein Fehler. Aus Ehrgeiz kann man sich einer Kugel aussetzen, doch auf keinen Fall heiraten. Wie ist es dazu gekommen? Ich war aus Turkestan zurück. Erste Strahlen des Ruhms, trotzdem Emporkömmling, ein Parvenu, nicht von Adel. Mein Großvater hatte sich von den untersten Rängen hochgedient. Und da war die Fürstin Titowa, stammt von Rurik ab. Aus der Garnison direkt in die höchste Gesellschaft. Wie sollte ich der Verlockung widerstehen?«

Sobolew sprach abgerissen, bitter und wohl aufrichtig. Warja schätzte Aufrichtigkeit. Und natürlich konnte sie sich denken, worauf das hinauslief. Sie hätte rechtzeitig bremsen, das Gespräch in andere Bahnen lenken können, aber das brachte sie nicht fertig. Welche Frau hätte das schon fertiggebracht?

»Sehr bald wurde mir klar, daß ich in der höchsten Gesellschaft nichts verloren hatte. Das Klima war nichts für mich. So lebten wir - ich auf Feldzügen, sie in der Hauptstadt. Wenn der Krieg zu Ende ist, lasse ich mich scheiden. Ich kann es mir leisten, ich habe mich verdient gemacht. Niemand wird mich verurteilen, immerhin bin ich ein Held.« Sobolew lächelte verschmitzt. »Was sagen Sie jetzt, Warja?«

»Wozu?« fragte sie mit Unschuldsmiene. Die verfluchte kokette Natur jubilierte nur so. Das Geständnis brachte nichts als Komplikationen, und doch war es ein Fest.

»Soll ich mich scheiden lassen oder nicht?«

»Das müssen Sie selbst wissen.« (Gleich, jetzt gleich sagt er die bewußten Worte!)

Sobolew seufzte schwer - und stürzte sich kopfüber ins Wasser.

»Ich habe längst ein Auge auf Sie geworfen. Sie sind klug, aufrichtig, haben Mut und Charakter. Eine solche Gefährtin brauche ich. Mit Ihnen wäre ich noch stärker. Sie würden es auch nicht bereuen, das schwöre ich. Also, Warwara Andrejewna, Sie können davon ausgehen, daß ich Ihnen einen offiziellen ...«

»Euer Exzellenz!« schrie Perepjolkin, in die Erde sollte er versinken. »San Stefano! Steigen wir aus?«

Die Operation verlief reibungslos. Sie entwaffneten die verwirrte Bahnhofswache (lächerlich - sechs verschlafene Soldaten) und verteilten sich in Trupps von Zugstärke im Städtchen.

Solange von der Straße her spärlicher Schußwechsel zu hören war, wartete Sobolew im Bahnhof. Nach einer halben Stunde war alles beendet. Verluste: ein leicht Verwundeter, und den mochten die Eigenen irrtümlich getroffen haben.

Der General besichtigte flüchtig das von Gaslaternen beleuchtete Zentrum - etwas weiter begann ein dunkles Labyrinth krummer Gassen, und dorthinein zu gehen hatte keinen Sinn. Als Residenz und

Verteidigungsbollwerk (für den Fall von Unannehmlichkeiten) wählte Sobolew das massive Gebäude der Osmano-Osmanischen Bank. Eine der Kompanien bezog Posten vor der Bank und im Innern, die zweite blieb auf dem Bahnhof, und die dritte bewachte die umliegenden Straßen. Der Zug fuhr sofort zurück, um Verstärkungen zu holen.

Eine telegraphische Meldung an den Stab des Oberbefehlshabers über die Einnahme von San Stefano kam nicht zustande - die Verbindung war tot. Das mochte den Türken zu danken sein.

»Das zweite Bataillon trifft nicht vor morgen mittag ein«, sagte Sobolew. »Einstweilen ist nichts Interessantes zu erwarten. Betrachten wir die Lichter von Zargrad und verkürzen wir uns die Zeit mit angenehmem Geplauder.«

Der provisorische Stab wurde in der zweiten Etage eingerichtet, im Kabinett des Direktors. Erstens waren von den Fenstern aus tatsächlich die fernen Lichter der türkischen Hauptstadt zu sehen, und zweitens führte vom Kabinett aus eine Stahltür direkt in den Tresorraum der Bank. Dort standen auf Eisengestellen in gleichmäßigen Reihen versiegelte Säcke. D'Hevrais las die arabische Aufschrift und sagte, jeder Sack enthalte hunderttausend Lire.

»Und dabei wird erzählt, daß die Türkei bankrott ist«, sagte Mitja Gridnew verwundert. »Hier sind ja Millionen!«

»Genau darum bleiben wir in dem Kabinett«, entschied Sobolew. »Das ist sicherer. Mir haben sie schon einmal nachgesagt, ich hätte den Schatz des Chans geraubt. Das reicht.«

Die Tür zum Tresorraum blieb angelehnt, und keiner sprach mehr von den Millionen. Von der Bahnstation wurde ein Telegraphenapparat in das Vorzimmer gebracht, die Leitung lief direkt über den Platz. Alle Viertelstunde versuchte Warja, eine Verbindung wenigstens nach Adrianopel zu bekommen, aber der Apparat gab kein Lebenszeichen.

Es erschien eine Abordnung der örtlichen Kaufmannschaft und der Geistlichkeit und bat, die Häuser nicht zu plündern und die Moscheen nicht zu zerstören, sondern lieber eine Kontribution zu verhängen - so um die fünfzigtausend, mehr könnten die armen Städter nicht aufbringen. Als der Führer der Abordnung, ein dicker hakennasiger Türke mit Fes und Gehrock, begriff, daß er den legendären Weißen General vor sich hatte, wurde die Summe der angebotenen Kontribution sogleich verdoppelt.

Sobolew beruhigte die Einheimischen, indem er erklärte, er sei nicht ermächtigt, eine Kontribution zu erheben. Der Hakennasige schielte durch die angelehnte Tür in den Tresorraum und rollte respektvoll die Augen.

»Verstehe, Effendi. Hunderttausend Lire sind für einen so großen Mann eine Bagatelle.«

Neuigkeiten machten hier schnell die Runde. Keine zwei Stunden nach dem Besuch der San Stefanoer Bittsteller traf bei Sobolew bereits eine Abordnung der griechischen Händler aus Konstantinopel ein. Sie boten keine Kontribution an, sondern brachten »den tapferen; christlichen Kriegern« Süßigkeiten und Wein. Sie sagten, in der Stadt lebten viele Orthodoxe, und baten, nicht mit Kanonen zu schießen, und wenn das doch notwendig sei, dann nicht auf Pera, denn dort seien die Läden und Warenlager, sondern auf Galata oder, noch besser, auf das armenische und das jüdische Viertel. Sie versuchten, Sobolew einen mit Edelsteinen besetzten goldenen Säbel zu überreichen, wurden jedoch hinauskomplimentiert und schienen sich beruhigt zu entfernen.

»Zargrad!« sagte Sobolew erregt und blickte durchs Fenster auf die lichterflimmernde große Stadt. »Der ewige unerfüllbare Traum der russischen Herrscher. Hier liegt die Wurzel unseres Glaubens und unserer Zivilisation. Es ist der Schlüssel zum Mittelmeer. Wie nahe! Streck die Hand aus und greif zu! Ob wir wirklich wieder mit leeren Händen abziehen?«

»Das darf nicht sein, Euer Exzellenz!« rief Gridnew. »Das läßt der Herrscher nicht zu!«

»Ach, Mitja, ich denke, die Etappenhengste, die Kortschakows und Gnatjews, die schachern schon und wedeln vor den Engländern mit dem Schwanz. Sie haben nicht genug Mumm, sich das zu nehmen, was Rußland nach altem Recht gehört, nein, haben sie nicht! 1829 blieb Diebitsch in Adrianopel stehen. Wir sind jetzt bis San Stefan gekommen. Der Ellbogen ist nahe, aber hineinbeißen können wir nicht. Ich habe eine Vision - ein großes, starkes Rußland, das die slawischen Länder von Archangelsk bis Zargrad und von Triest bis Wladiwostok umfaßt. Erst dann werden die Romanows ihre historische Mission erfüllen und endlich von den ewigen Kriegen zur friedlichen Gestaltung ihres leidgeprüften Reiches übergehen können. Weichen wir aber zurück, so werden unsere Söhne und Enkel wieder ihr Blut und das anderer vergießen müssen, um zu den Mauern von Zargrad vorzudringen. Das ist nun mal der Leidensweg, den Rußland zu gehen hat!«

»Ich male mir aus, was sich jetzt in Konstantinopel tut«, sagte d'Hevrais zerstreut auf französisch und blickte ebenfalls zum Fenster hinaus. »General Sobolew in San Stefan! Der Palast in Panik, der Harem wird evakuiert, die Eunuchen hasten herum, ihre fetten Ärsche zittern. Ob Abd ul Hamid sich schon auf das asiatische Ufer zurückgezogen hat? Und niemand ahnt, daß Sie, Michel, nur mit einem Bataillon hierhergekommen sind. Wenn dies eine Pokerpartie wäre, könnte man das einen fabelhaften Bluff nennen, mit voller Garantie, daß der Gegner die Karten hinwirft und paßt.«

»Von Stunde zu Stunde wird's schwerer!« rief Perepjolkin beunruhigt. »Michail Dmitrijewitsch, Euer Exzellenz, hören Sie nicht auf ihn! Sie richten sich zugrunde! Auch so schon sind wir dem Wolf in den Rachen gekrochen! Was geht uns Abd ul Hamid an!«

Sobolew und der Korrespondent sahen einander in die Augen.

»Was habe ich eigentlich zu verlieren?« Der General ballte fingerknackend die Faust. »Na, wenn die Garde des Sultans mich tapfer mit Feuer empfängt, gehe ich eben zurück, und fertig. Charles, ist Abd ul Hamids Garde stark?«

»Die Garde ist gut, aber Abd ul Hamid läßt sie um keinen Preis von sich weg.«

»Also wird sie uns nicht verfolgen. Wir ziehen in Marschkolonne in die Stadt ein, mit wehender Fahne und Trommelschlag, und ich vornweg auf Gulnora.« Sobolew ging im Kabinett auf und ab und kam immer mehr in Fahrt. »Vor Tagesanbruch, damit nicht zu sehen ist, wie wenige wir sind. Und gleich zum Palast. Ohne einen einzigen Schuß! Wird man mir die Stadtschlüssel von Konstantinopel übergeben?«

»Ganz bestimmt!« rief d'Hevrais feurig. »Und das ist die vollständige Kapitulation!«

»Die Engländer vor vollendete Tatsachen stellen!« Der General hieb mit der Hand durch die Luft. »Ehe sie sich besinnen, ist die Stadt russisch, und die Türken haben kapituliert. Lassen wir's drauf ankommen! San Stefano einzunehmen hat mir auch niemand erlaubt.«

»Ein beispielloses Finale! Und ich bin unmittelbarer Zeuge!« sagte der Journalist aufgeregt.

»Nicht Zeuge, sondern Teilnehmer!« Sobolew klopfte ihm auf die Schulter.

»Ich lasse es nicht zu!« Perepjolkin baute sich vor der Tür auf. Er sah verzweifelt aus, seine braunen Augen quollen aus den Höhlen, auf der Stirn standen Schweißtropfen. »Als Stabschef lege ich Protest ein! Besinnen Sie sich, Euer Exzellenz! Sie sind doch General der Suite Seiner Majestät und kein Baschi-Bosuk! Ich beschwöre Sie!«

»Weg da, Perepjolkin, ich habe genug von Ihnen!« schnauzte der Olympier den Verstandesmenschen an. »Als Osman Pascha aus Plewna ausbrechen wollte, haben Sie mich auch >beschworen<, nicht ohne Befehl vorzugehen. Auf die Knie sind Sie geplumpst! Und wer hatte recht? Na bitte! Sie werden sehen, man übergibt mir die Stadtschlüssel von Zargrad!«

»Toll!« rief Mitja. »Großartig, nicht wahr, Warwara Andrejewna?«

Warja sagte nichts, denn sie wußte nicht, ob das großartig war oder nicht. Von Sobolews Verwegenheit schwindelte ihr der Kopf. Außerdem erhob sich die Frage: Was sollte sie tun? Unter Trommelschlag im Jägerbataillon mitmarschieren und sich am Steigbügel von Gulnora festhalten?

Oder mitten in der Nacht in der feindlichen Stadt allein zurückbleiben?

»Gridnew, ich lasse dir meine Eskorte hier, du wirst die Bank bewachen. Sonst wird sie von den Einwohnern ausgeplündert, und Sobolew kriegt die Schuld«, sagte der General.

»Euer Exzellenz, Michail Dmitrijewitsch!« heulte der Fähnrich. »Ich will mit nach Konstantinopel!«

»Und wer beschützt Warwara Andrejewna?« fragte d'Hevrais vorwurfsvoll.

Sobolew zog eine goldene Uhr aus der Tasche und ließ den Deckel aufspringen.

»Halb sechs. In zwei bis zweieinhalb Stunden wird es hell. He, Gukmassow!«

Ein imposanter Kosakenleutnant kam hereingesaust.

»Zu Befehl, Euer Exzellenz!«

»Das Bataillon tritt in Marschordnung an! Fahne und Trommler an die Spitze! Auch die Sänger! Es soll ein schöner Marsch werden! Gulnora satteln! Tempo! Punkt sechs rücken wir ab!«

Der Ordonnanzoffizier rannte hinaus. Sobolew streckte sich wohlig und sagte: »Nun, Warwara Andrejewna, ich werde entweder ein Held, größer als Napoleon, oder es kostet mich meinen dummen Kopf.«

»Es wird ihn nicht kosten«, antwortete sie und sah den General mit aufrichtiger Begeisterung an, so schön war er jetzt, ein wahrer Achilles.

»Toi-toi-toi«, sagte Sobolew abergläubisch.

»Es ist noch nicht zu spät, sich zu besinnen!« rief Perepjolkin. »Wenn Sie erlauben, Michail Dmitrijewitsch, hole ich Gukmassow zurück!«

Er ging einen Schritt zur Tür, doch da ...

Aus dem Treppenhaus tönte das Poltern vieler Stiefeltritte, die Tür wurde aufgerissen, und herein kamen Lawrenti Misinow und Erast Fandorin.

»Erast Petrowitsch!« schrie Warja und wäre ihm beinahe um den Hals gefallen, besann sich aber noch rechtzeitig.

»Aha, er ist hier! Ausgezeichnet!« knurrte Misinow.

»Euer Exzellenz?« Sobolew runzelte die Stirn, als er hinter den Eingetretenen blaue Gendarmenmonturen sah. »Wie kommen Sie hierher? Ich habe natürlich eigenmächtig gehandelt, aber mich zu verhaften, das geht doch wohl zu weit.«

»Sie verhaften?« fragte Misinow verwundert. »Wieso denn? Ich bin mit meiner halben Kompanie Gendarmen nur mühsam auf Draisinen zu Ihnen durchgekommen. Der Telegraph funktioniert nicht, die Straße ist abgeschnitten. Ich bin dreimal beschossen worden, habe sieben Mann verloren. Mein Mantel hat eine Kugel abgekriegt.« Er zeigte das Loch im Ärmel.

Fandorin trat vor. Er hatte sich während seiner Abwesenheit überhaupt nicht verändert, nur war er zivil und stutzerhaft gekleidet: Zylinder, Pelerine, gestärkter Kragen.

»Guten Tag, Warwara Andrejewna«, sagte er freundlich. »Ihre H-haare sind ja nachgewachsen. Das sieht wohl doch besser aus.«

Er machte Sobolew eine leichte Verbeugung.

»Gratuliere zum Degen mit B-brillanten, Euer Exzellenz. Eine hohe Ehre.«

Perepjolkin nickte er einfach zu, und zu guter Letzt wandte er sich an den Korrespondenten:

»Salam aleikum, Anwar Effendi.«

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