X. Stimmen aus dem zweiten Jahrtausend

Er könne alles haben, sagte der Fellache, sogar eine komplette Mumie, aber die habe natürlich ihren Preis.


Ob er der Chef des Unternehmens sei, wollte Brugsch wissen, und wie viele Mitwisser es gäbe. Der Araber winkte ab, nein, da brauche er sich keine Gedanken zu machen - er, Achmed, sei der Chef des Unternehmens, und nur noch drei Leute wüßten von dem Fund. Emil Brugsch war auf der richtigen Fährte.

»Dieses Land«, sagte Gaston Maspero, während er an der Reling stand und die Landschaft Oberägyptens an sich vorüberziehen ließ, »kann man nur lieben oder hassen. Eine Zwischenlösung gibt es nicht.« Gemächlich tuckerte der alte Raddampfer nilaufwärts, weiße Ibisvögel hingen wie Lampions über dem Flußschiff. Der Mann zu seiner Rechten hielt geblendet von der schrägstehenden Sonne die flache Hand vor die Augen und fragte, den Blick zum Ufer gewandt, zurück: »Sie meinen wegen der politischen Verhältnisse? Sonst sehe ich keinen Grund, dieses Land zu hassen?« - Maspero schwieg.

Nicht nur äußerlich waren die beiden Männer grundverschieden: Gaston Maspero klein, aber kräftig, unscheinbar, jungenhaft; daß er Professor für Ägyptologie war, sah man dem 34jährigen Spitzbart nicht an. Der andere, Charles Edwin Wilbour, ein paar Jahre älter, Amerikaner, ein Hüne von

Gestalt, mit buschigem Bart, eine auffällige Erscheinung, verwegen. Die beiden kannten sich seit sieben Jahren. Wil-bour hatte bei Maspero in Paris studiert, der Ältere beim Jüngeren; aber dafür hatte Wilbour auch schon eine Karriere als Journalist und Geschäftsmann hinter sich, als er, ein respektables Vermögen im Hintergrund, beschloß, ein neues Leben anzufangen. Sein Aufstieg vom kleinen Gerichtsreporter zum Verleger wurde mit der New Yorker Unterwelt in Verbindung gebracht; die Wahrheit kam jedoch nie ans Tageslicht.

Wie nicht anders zu erwarten, hatte Gaston Maspero die Nachfolge von Auguste Mariette angetreten, kein leichtes Erbe, denn die Mittel waren knapp, überall im Land herrschte Aufruhr. Nur der Optimismus seiner Jugend ließ Maspero nicht verzweifeln.

Sein Assistent, Emil Brugsch, trat hinzu und kündigte den beiden Herren an, man befinde sich wenige Meilen vor Lu-xor und werde in etwa einer Stunde anlegen. Maspero liebte die Deutschen nicht sonderlich, schließlich hatten sie seinen Landsleuten bei Sedan die größte Schmach angetan und ausgerechnet in Versailles Wilhelm I. zum deutschen Kaiser proklamiert. Unter diesen Umständen mußte man schon auf einen Deutschen angewiesen sein, um ihn zu schätzen. Und genauso war es.

Emil Brugsch, dessen Bruder Heinrich, seit Mariettes Tod die graue Eminenz der Ägyptologie, sich indigniert nach Berlin zurückgezogen hatte, galt inzwischen als erfahrener Altertumsforscher. Der Hilfskurator des Kairoer Museums war bei den Ausgräbern, die seiner Kontrolle unterstanden, ebenso angesehen wie bei manchen Hehlern, für die er schon einmal ein Auge zudrückte, wenn es sich nicht gerade um kapitale Funde handelte. Er selbst besserte aber auch bisweilen sein Gehalt durch die Veräußerung von Ausstellungsstücken aus dem Museum auf.

»Wir werden das Schiff nicht verlassen«, meinte Maspero an Wilbour gewandt, »die Leute sollen keinen Verdacht schöpfen. Brugsch schafft das ganz allein.« Der Deutsche nickte.

»Wie lange geht das nun schon mit den rätselhaften Funden?« fragte Wilbour, und Maspero meinte, genau könne er das auch nicht sagen, sicher sei nur, daß ihm ein englischer General schon Vorjahren einen Königs-Papyrus aus der 21. Dynastie gezeigt habe, den dieser in Luxor für hundert Pfund erworben hatte. Ein Jahr später sei dann eine zweite Schriftrolle aus dieser Zeit aufgetaucht, und Mariette habe über Mittelsmänner zwei weitere Königspapyri erworben -dabei habe man bisher kein einziges Pharaonengrab aus dieser Zeit entdeckt.

»Und wie wollen Sie dieses Geheimnis lüften, Mister Brugsch?« fragte Charles Wilbour skeptisch. »Brugsch ist der einzige Mann, der mir helfen kann«, sagte Maspero. »Er muß herausfinden, wer hinter diesem Antiquitätenschwindel steckt!«

»Sie glauben doch nicht etwa, daß ich selbst etwas mit der Sache zu tun habe«, erwiderte der Deutsche abwehrend. »Der kleine Brugsch«, wie man ihn zur Unterscheidung von seinem Bruder Heinrich nannte, war tatsächlich nicht in diesen Fall verwickelt. Das aber erleichterte ihm seine Aufgabe keineswegs. Er war eher verärgert darüber, daß er am Coup nicht mitverdiente.

Bisher hatte es Emil Brugsch immer verstanden, im Hintergrund zu bleiben, wenn es um Antiquitätenhehlerei ging. Dies erwies sich jetzt als Vorteil; denn als er in Luxor ankam und sich im gleichnamigen Hotel einquartierte, brauchte er nicht einmal einen falschen Namen anzugeben, da ihn kein Mensch hier kannte.

Das Hotel, ein alter Kasten im morbiden Zuckerbäckerbarock des 19. Jahrhunderts, galt als Edelabsteige für Adelige und Abenteurer, gehobene Gauner und wohlsituierte Globetrotter. Doch die Hoffnung, man würde dem kleinen Brugsch gleich ein ganzes Pharaonengrab zum Kauf anbie -ten, trog. In den ersten zwei Wochen passierte gar nichts. Also mußte Brugsch die Initiative ergreifen. Er trieb sich in den Kaffeehäusern des Basars herum, trank mit den Einheimischen Tee und bezahlte dabei stets demonstrativ mit großen Scheinen. Gelegentlich ließ er durchblicken, daß er sich für Antiquitäten interessiere. Die Stücke, die ihm jedoch angeboten wurden, gab Brugsch nach eingehender Betrachtung lächelnd zurück: »Nein, danke!«

Er erkannte die von den Bewohnern von Luxor damals wie heute mit Geschick fabrizierten Imitationen auf Anhieb. Das imponierte den Dealern durchaus, die ungewöhnliche Sachkenntnis des Fremden sprach sich herum. Eines Tages wurde der kleine Brugsch im Basar am Ärmel gezupft: »Look, Mister!« Ein alter Fellache, der einen ziemlich heruntergekommenen Eindruck machte, hielt eine kleine Figur in der Hand. Figürchen dieser Art, sogenannte Dienerfiguren, wurden den Königen zu Hunderten mit ins Grab gegeben; sie sollten dem verstorbenen Herrscher im Jenseits bestimmte Arbeiten abnehmen. Brugsch betrachtete das Fundobjekt mit Interesse, vermied es jedoch, irgendeine Reaktion zu zeigen. Keine Frage, das Stück war echt und stammte aus einem Königsgrab. Was er dafür haben wolle, fragte Brugsch. »Fünf Pfund«, antwortete der Alte. »Ich gebe dir zwei«, sagte Brugsch. Der andere winkte ab. Er müsse erst bei seinem Auftraggeber rückfragen.

Ob er mehrere solcher Stücke habe, wollte Brugsch wissen.

Der Alte nickte.

Brugsch zog ein paar Geldscheine aus der Tasche und hielt sie dem Fellachen vor das Gesicht; er sei bereit, auch mehr zu bezahlen, wenn es gute Stücke seien. Für den Abend vereinbarten beide ein Treffen am selben Ort. Die Methode des jungen Deutschen blieb nicht ohne Wir-kung. Als Brugsch zum vereinbarten Zeitpunkt im Basar erschien, berührte ihn erneut jemand an der Schulter. Er hatte den Mann nie gesehen; der aber lächelte und radebrechte auf englisch, er könne herbeischaffen, was immer der Fremde wünsche. Und zum Beweis zog er mehrere kleine Gegenstände aus den Falten seines Gewandes, Figürchen, Amulette und kleine Gefäße.

Das Gezeigte verschlug Brugsch diesmal die Sprache. Was der Ägypter da aus seinen Taschen fingerte, war ein Vermögen wert. Noch erregender aber erschien, daß jedes Stück den Namensring eines anderen Pharaos trug, daß also offensichtlich nicht ein Königsgrab, sondern eine ganze Galerie von Pharaonengräbern entdeckt worden war. Ob er noch mehr wolle, fragte der Araber. Brugsch mühte sich, ein möglichst gelangweiltes Gesicht zu machen: Ja, wenn er noch bessere Stücke anzubieten habe. Er könne alles haben, sagte der Fellache, sogar eine komplette Mumie, aber die habe natürlich ihren Preis. Ob er der Chef des Unternehmens sei, wollte Brugsch nun wissen, und wie viele Mitwisser es gebe. Der Araber winkte ab, nein, da brauche er sich keine Gedanken zu machen - er, Achmed, sei der Chef des Unternehmens, und nur noch drei Leute wüßten von dem Fund. Emil Brugsch war auf der richtigen Fährte. Er wagte nicht, den Fellachen noch mehr auszuhorchen, er versprach vielmehr, am nächsten Tag zur gleichen Stunde am selben Ort zu sein. Bis dahin solle Achmed klären, was eine Königsmumie koste, man wolle weiterverhandeln. Und damit schnappte die Falle zu.

Denn als Emil Brugsch tags darauf mit Achmed zusammentraf, tauchten aus dem Basar zwei Polizisten auf und nahmen den Fellachen fest. Der gelobte zwar beim Leben seiner drei feisten Frauen, er wisse nichts über die Herkunft der Funde, ein Unbekannter habe sie ihm für wenig Geld angeboten und jedermann in el-Kurna könne seine Ehrlichkeit bezeugen.

Aber obwohl ihm nichts nachgewiesen werden konnte, wurde Achmed Abd er-Rassul in Untersuchungshaft genommen. Brugsch stellte inzwischen in dem Grabräuberdorf el-Kurna Nachforschungen an. Doch eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus: Alle Befragten stellten Achmed das beste Leumundszeugnis aus, er sei ein redlicher, gottesfürchti-ger Mann und vor allem ehrlich. Brugschs Nachforschungen brachten jedoch einen zweiten Namen ins Spiel: Mustafa Aga Ayat. Von ihm seien schon des öfteren für sündhaft teures Geld besondere Fundstücke angeboten worden. Natürlich wies der Aga die Anschuldigungen weit von sich. Er, ein ehrenwerter Mann, als Antiquitätenhehler? Da der Konsul diplomatische Immunität genoß, konnte er nicht belangt werden. Und auch Achmed gab sein Geheimnis nicht preis, selbst, als man ihn nach zweimonatiger Haft mit Stockschlägen malträtierte.

Schließlich kam es vor dem Provinzgericht in Kena zu einer Gerichtsverhandlung gegen Achmed er-Rassul aus el-Kurna. Der Richter Daud Pascha, der seine Vernehmungen bisweilen auch in der Badewanne vornahm, bot eine Reihe von Zeugen auf, doch anstatt ihn zu belasten, priesen sie alle die Vorzüge des Beschuldigten. Achmed wurde mangels Beweisen freigesprochen. Brugsch war enttäuscht, doch gab er nicht auf.

Verbissen verfolgte er die Brüder Abd er-Rassul auf Schritt und Tritt, um sie nervös zu machen. Und tatsächlich fühlten sich die drei bald verunsichert. Achmed wagte sich nicht mehr in die Nähe des Pharaonenverstecks. Als die letzten Ersparnisse zur Neige gingen, kam es zum offenen Streit. Achmed forderte, sie müßten durchhalten, schließlich könne die Altertümerverwaltung sie nicht bis an ihr Lebensende beschatten. Mohammed hingegen plädierte dafür, ihr Geheimnis freiwillig preiszugeben, was - wie Richter Daud versprochen hatte - sich strafmildernd auswirken würde.

Tags darauf, es war genau vier Wochen nach dem Ende des Prozesses, kam Soliman Abd er-Rassul zum Richter Daud gerannt: »Mudir, ich gestehe alles!« »Was gestehst du?« fragte der Richter. »Ich war es, und Achmed und Mohammed!« Erst jetzt wurde dem Richter klar, worum es sich bei diesem Geständnis handelte.

Mit viel Geduld versuchte Daud Pascha aus Soliman herauszuholen, was eigentlich geschehen war; denn der sprudelte in seiner Aufregung nur zusammenhanglose Satzfetzen heraus: »Vor zehn Jahren, Achmed . .. ein Grab .. . aber nicht nur eine Königsmumie, gleich drei Dutzend . . . Konsul Mustafa Aga Ayat hat alles verkauft.. . seit zehn Jahren ...« Richter Daud, dessen Unbestechlichkeit in der ganzen Provinz gefürchtet war, schmunzelte bei der Beichte des jungen Soliman - er glaubte wohl nicht so recht an das ganze Ausmaß der Entdeckung. In der Aufregung schien der junge Abd er-Rassul wohl zu übertreiben. Schließlich ließ er Emil Brugsch rufen, der sich noch immer in Luxor aufhielt. Auch Achmed wurde herbeizitiert, und nun legte auch er ein Geständnis ab: Ja, seit genau zehn Jahren sei er, immer wenn das Geld zur Neige ging, in den Schacht eingestiegen, habe Kostbarkeiten nach oben gebracht und dem Aga Ayat zum Verkauf übergeben. Nur der Aga und sie, die drei Brüder, hätten von der Sache gewußt.

Brugsch konnte seine Aufregung kaum verbergen. Gleichzeitig befielen den Museumskonservator aber auch Zweifel. Ein derartiger Fund wäre einmalig. Am 5. Juli 1881, zehn Jahre nach seiner großen Entdek-kung, führte Achmed Abd er-Rassul den kleinen Brugsch hinauf auf die Klippen von Der el-Bahari zu jenem Felsvorsprung, wo ein tiefes Loch im Boden klaffte. Zuerst seilte Achmed sich ab, dann Brugsch. Unten angelangt, entzündete Achmed eine Kerze und kroch in dem niedrigen Gang voraus, Brugsch hinterher. Die Luft war zum Ersticken. Angst befiel den Deutschen. Da, ein plötzliches Rauschen in der bedrückenden Stille. Die Kerze verlosch. Brugsch spürte einen klatschenden Schlag im Gesicht. »Eine Fledermaus, Mister!« flüsterte Achmed und zündete die Kerze wieder an.

Der Gang nahm kein Ende. Brugsch stolperte über Steine und Geröll, das von der Decke gefallen war. Der Schweiß trat ihm aus allen Poren. Auf einmal lösten sich Schemen aus der Dunkelheit. Mumien waren an die Wand gelehnt, dahinter Sarkophage mit geöffnetem Deckel, alles Könige des Neuen Reiches. Ahmose lag da, der Begründer der 18. Dynastie, der erste Amenophis, Thutmosis III., der große Eroberer, Ramses II., der Gewaltige, insgesamt 40 Mumien, die präparierten Leichen der mächtigsten Herrscher des alten Ägypten.

Brugsch wankte, stemmte sich gegen die Felswand, seine Beine knickten ein, nach Luft ringend setzte er sich in den zentimeterdicken Staub, schlug die Hände vor das Gesicht, schüttelte sich, als wolle er einen Alptraum loswerden; es dauerte Minuten, bis er die Beherrschung wiedergefunden hatte. Am ganzen Körper zitternd, machte er sich mit Achmed an den Aufstieg.

Doch Emil Brugsch wäre nicht der kleine Brugsch gewesen, hätte er nicht schnell seine Fassung wiedergewonnen. Schon am nächsten Morgen rückte er mit einer Truppe von 16 Mann an und begann, die Mumien zu bergen. Aus Kairo forderte er ein Schiff an.

Aber nun geschah etwas Unerwartetes: Als der Dampfer mit den toten Königen in Luxor ablegte, begannen am Ufer die Weiber zu kreischen, die Männer schössen mit ihren Gewehren Salut - wie ein Lauffeuer hatte sich die Entdeckung herumgesprochen. Achmed Abd er-Rassul wurde wie ein Held gefeiert, die Grabräuber von el-Kurna hatten einen ungekrönten König.

Achmed Abd er-Rassul wurde nie vor Gericht gestellt. Im Gegenteil, Gaston Maspero machte ihn in Anerkennung für seine Verdienste um die Entdeckung der Mumienhöhle zum Aufseher der Totenstadt. Der Direktor der Altertümerverwaltung dachte, es sei besser, einen solchen Mann in seinen eigenen Diensten zu beschäftigen, und so verdiente Achmed seinen Lebensunterhalt fortan, indem er Grabräubereien im Tal der Könige zu verhindern suchte. Jedenfalls glaubte Maspero dies.

»Sechs Piaster, Sir!« forderte der kleine Eseltreiber im Hafen von Alexandria.

Der feiste maltesische Kaufmann stieg umständlich von dem Grautier, das ihn befördert hatte, kramte m der Tasche nach einem Geldstück, warf dem Jungen eine Fünf-PiasterMünze zu, drehte sich um und wollte gehen. »No, no, Sir!« rannte der Eseltreiber dem Malteser hinterher. »Sechs Piaster!« Er zeigte mit dem Daumen der rechten und mit den Fingern seiner linken Hand: sechs! »Hundesohn!« brüllte der Dicke den Jungen an. »Verschwinde, oder ich werde dir Beine machen.« Der Junge ließ nicht locker, zog seinen Esel hinter sich her und wich nicht von der Seite des Mannes. »Sechs Piaster!« Der dicke Kaufmann ging schneller, der kleine Eseltreiber folgte ihm auf den Fersen. »Sechs Piaster, Sir!« Der Malteser suchte auf der Hafenpromenade dem schreienden Jungen mit dem Esel zu entkommen. Schon wurden einige Passanten aufmerksam. Der Eseltreiber ergriff den Ausländer an einem Zipfel seines Gewandes. Da plötzlich drehte sich der Malteser wütend um, in seiner Rechten blitzte ein Messer. Gebannt starrte der Junge auf die Waffe, der Schreck hinderte ihn, den Mann loszulassen und wegzulaufen. Der Alte stieß zu. Ein kleiner, zaghafter Schrei, und der Eseltreiber sank zu Boden. Aus seiner Seite quoll helles Blut. Im Staub der Straße wurde eine rote Lache sichtbar.

Von allen Seiten eilten nun die Menschen herbei, bildeten einen Kreis um das sterbende Häufchen Elend. Es war, als warteten sie auf den Tod. Ein junger Araber beugte sich zu dem Jungen hinab, schob einen Arm unter seinen Kopf und strich ihm mit der anderen Hand die wuscheligen Haare aus der Stirne. Da klappte der Kopf des kleinen Eseltreibers zur Seite - er war tot.

Schreien, Rufen, wilde Gesten in die Richtung, in die der Christenhund geflohen sei. Auf einmal hatten alle irgendeine Waffe in der Hand, Messer, Knüppel, Stangen, eisernes Werkzeug. »Dorthin ist er gelaufen!« - »Wie sah er aus?« -»Dick!« - »Nein, dünn.« - »Aufjeden Fall ein Europäer!« -»Ein Europäer. Schlagt die Europäer tot. Schlagt alle Europäer tot!«

Dem planlos durch die Straßen hastenden Mob schlössen sich immer neue Trupps von haßerfüllten Ägyptern an. Fensterscheiben gingen zu Bruch, Kaufläden wurden geplündert, Menschen niedergetrampelt, erstochen, erschlagen. Die Hauptstadt Alexandria befand sich im Aufruhr. Es wurde Abend, bis die ersten Ordnungskräfte eingriffen; doch bis dahin waren bereits 5 3 Menschen, meist Europäer, verblutet. Als sich die Nacht über Alexandria senkte, machte sich eine gespenstische Ruhe breit, eine Ruhe, von der ein jeder wußte, daß sie trog. Die Lunte glimmte an einem Pulverfaß. Die Tumulte am 11. Juni 1882 waren in der Tat nur der Auftakt zu einem düsteren Kapitel der neueren Geschichte Ägyptens. Eng damit verbunden ist der Name des aus Zaga-zig im östlichen Nildelta stammenden Fellachensohnes Achmed Arabi. Der Offizier in der ägyptischen Armee war zum Führer einer nationalen Bewegung und schließlich zum übermächtigen Kriegsminister geworden. Hochaufgeschossen, aber schwerfällig und mit langsamen Bewegungen zog der zum Pascha avancierte Achmed Arabi sowohl gegen die türkische Oberhoheit als auch gegen die anglo-französische Bevormundung Ägyptens zu Felde. »Wir sind keine Sklaven!« polemisierte er gegen jeden fremden Einfluß. »Und wir wollen auch nicht als solche behandelt werden.« Besorgt um ihre finanziellen Investitionen beobachteten die europäischen Mächte argwöhnisch das Treiben Arabi Paschas. Der Nationalistenführer verstand es jedoch geschickt, seine Anhänger zu mobilisieren. Die Lage spitzte sich immer mehr zu. Kaum ein Tag verging ohne neue Ausschreitungen. Der britische Konsul in Alexandria wurde bei Straßenkämpfen in der Hauptstadt verletzt. Während Frankreich sich aus dem Konflikt zurückzog, stellten die Briten Arabi Pascha ein Ultimatum: Wenn er sich nicht innerhalb von 24 Stunden aus der Zitadelle über dem Hafen zurückziehe, würden sie das Feuer eröffnen.

Mit der Spannung wuchs die Angst der Bevölkerung. Wenn Arabi Pascha nachgab, würde man die nationale Bewegung zerschlagen, ehe sie etwas für Ägypten erreicht hatte. Das Ultimatum verstrich unbeachtet. Alle Schiffe hatten den Hafen verlassen. Die Nacht war gespenstisch still, der Morgen graute, als ein schwerer Donnerschlag die Stadt erschütterte. Die britische Flotte lag drohend im Dunst vor der Küste, die Kanonen auf Alexandria gerichtet. Ein Geschütz nach dem anderen feuerte seine todbringende Ladung in die Stadt. Mannshohe Löcher wurden in die Hauswände gerissen, ein großes Gebäude stand sofort in Flammen, das Feuer griff auf weitere Häuser über. Die ausgedörrten Palmen auf der Hafenpromenade loderten wie riesige Fackeln; dazwischen schreiende, flüchtende Menschen, schwerbeladene Handkarren, vereinzelte Schüsse. Die ägyptische Armee kämpfte erbittert und verzweifelt. Am Ende des ersten Kriegstages waren 2000 Ägypter gefallen und alle Befestigungsanlagen in Schutt und Asche gelegt. Arabi zog sich mit seiner Armee in die Wüste bei Kafs el Dawar zurück und schlug in einem Zelt des Khediven sein neues Hauptquartier auf. Einen nachfolgenden britischen Angriff wehrte er erfolgreich ab.



Militärische Berater bestürmten Arabi Pascha, den Suezkanal zu blockieren, da die Engländer vermutlich von See her angreifen würden. Doch Ferdinand de Lesseps hatte dem Nationalistenführer versichert, die Kanalgesellschaft sei und bleibe neutral. Arabi Pascha glaubte ihm. In der Nacht zum 13. September drang der englische General Wolseley dann jedoch mit seiner Flotte durch den Suezkanal vor, ging mit seinen Truppen unbemerkt an Land und stieß bei Tell el-Kebir auf die ägyptische Armee. Die Schlacht dauerte 3$ Minuten, Arabi Paschas Soldaten flohen in alle Himmelsrichtungen, er selbst wurde gefangengenommen und nach Ceylon in die Verbannung geschickt, Ägypten von britischen Truppen besetzt. Offiziell wurde Ägypten ein britisch-ägyptisches Kondominium. Taufik Pascha blieb zwar weiterhin ägyptischer Vizekönig, und auch das Kabinett behielt seine Funktion, aber der eigentliche Herrscher Ägyptens war der britische General-konsul Lord Cromer. Er reorganisierte zwar das hoffnungslos verfilzte Beamtentum und führte eine effektive Verwaltung ein; die Art, wie er die britischen Interessen vertrat, blieb jedoch fragwürdig.

Hatten bisher Franzosen und Deutsche das alte Ägypten und seine Erforschung als ihre Domäne betrachtet, so schien nun ein neues Zeitalter anzubrechen, und auch im Niltal sprach man auf einmal englisch und amerikanisch. Der Winter-Trip nach Ägypten wurde nun zur gesellschaftlichen Verpflichtung für einen britischen Lord. Man logierte im Shepard's an der Nilpromenade, einer Mischarchitektur aus Cote d'Azur-Hotel und Pharaonen-Palast, ließ sich zum Fünfuhrtee auf der Hotelterrasse sehen und tat der Bildung genüge, indem man einen Dampfer von Thomas Cook & Söhne bestieg und zu den Klängen der Bordkapelle nilaufwärts schipperte, um das Tal der Könige zu besichtigen, in dem immer neue, aufregendere Entdeckungen gemacht wurden.

London. Die langen Gänge im Britischen Museum wirkten bei Nacht noch unheimlicher als bei Tageslicht. Im Lampenschein, der lange, tanzende Schatten verbreitete, schien die riesige Ramses-Statue, die einst Belzoni nach England gebracht hatte, zu leben, den lächelnden Mund zu öffnen und zu sprechen. Die Figuren der Reliefs lösten sich von ihrem steinernen Untergrund und begannen zu wandern. Nur die Mumien, die pietätlos herumlagen, dämmerten vor sich hin. In diesen geheimnisumwitterten Hallen trafen sich an einem kühlen März-Abend zwei Dutzend ehrwürdige Herren und eine etwa 50jährige Dame. Ihr Name: Amelia Edwards. Die erfolgreiche Schriftstellerin, der die Verleger die Manuskripte aus den Händen rissen, trug das blonde Haar streng zurückgekämmt im Nacken gebunden. Ihr Ledermantel mit breitem Pelzkragen entsprach dem letzten Chic der Mode. Die Ärzte, Bankiers und Ägyptologen der hier versammelten Männergesellschaft begegneten ihr mit erkennbarem Respekt.

Schwaden von Zigarrenqualm zogen durch den diffus beleuchteten Konferenzraum, als Miß Edwards sich mit einem kraftvollen »Meine Herren!« Ruhe verschaffte. »Der Zweck unserer Zusammenkunft ist bekannt, und ich brauche, glaube ich, nicht viele Worte zu machen. Die Kultur des alten Ägypten ist für uns alle zu bedeutungsvoll, als daß wir sie Grabräubern, Dilettanten und der Zerstörung überlassen sollten!«

Die Männer in der Runde, unter ihnen alle namhaften Altertumsforscher Englands, nickten zustimmend. Einer der jüdischen Bankiers gab zu bedenken, ob man nicht mit der von den Franzosen in Beschlag genommenen Altertümerverwaltung in Konflikt gerate, wenn nun auf einmal Engländer sich um die Kunstschätze kümmerten. »Wir wollen weder Monsieur Maspero und seiner Altertümerverwaltung noch den Ägyptern irgend etwas wegnehmen!« warf Sir Erasmus Wilson ein. »Masperos Mittel sind äußerst beschränkt, und im übrigen ist ihm die Unterstützung durch eine englische Stiftung höchst willkommen.« Sir Erasmus war ein prominenter Chirurg und Universitätsprofessor. Mit 72 Jahren hatte er im Jahr zuvor zum erstenmal geheiratet. Seiner jungen Frau und dem alten Ägypten gehörte die ganze Leidenschaft seines Alters. So hatte er die für damalige Verhältnisse ungeheure Summe von 10000 Pfund aufgebracht und einen ägyptischen Obelisken zu Schiff nach London bringen lassen. Für die Stiftung hatte er eine größere Summe in Aussicht gestellt.

Auch die jüdischen Bankiers zeigten sich bereitwillig, machten ihre Zahlungen jedoch von der Erforschung biblischer Stätten in Ägypten abhängig. Reginald Stuard Poole, Archäologe und Leiter der Münzenabteilung im Britischen Museum, sah darin eine willkommene Gelegenheit, endlich auch das Nildelta wissenschaftlich zu erforschen. In diesem von Mücken verseuchten Gebiet hatten bisher nur einige wenige Grabungen unter Mariette und Lepsius stattgefunden. Wallis Budge, ein Museumsassistent, meldete sich freiwillig, wurde aber zurückgewiesen, weil man ihm eine Aufgabe in Mesopotamien übertragen wollte. Budge war damit einverstanden. Auch Flinders Petrie, ein junger Forscher aus Charlton, erklärte sich spontan bereit, im Delta nach der biblischen Stadt Ramses zu graben. Er sei unverheiratet und könne, wenn es gewünscht werde, sich schon morgen auf den Weg machen. Die alten Herren quittierten den Tatendrang des 29Jährigen beifällig.

Doch sie hatten einen anderen Mann im Auge, den Bibelwissenschaftler und Ägyptologen Edouard Naville. Dieser war eigentlich Schweizer, er stammte aus Genf, hatte aber bei Lepsius in Berlin studiert und sich am King's College vor allem mit der Entschlüsselung alter Texte in London einen Namen gemacht. Schließlich einigte man sich, Petrie und Naville loszuschicken und sie an verschiedenen Orten des Deltas graben zu lassen.

Jetzt brauchte das Unternehmen nur noch einen Namen, aber der war schnell gefunden: Egypt Exploration Fund -Stiftung zur Erforschung Ägyptens. Sir Erasmus Wilson übernahm die Präsidentschaft, als Sekretäre des Unternehmens fungierten Amelia Edwards und Reginald Poole. »In Zukunft«, sagte Pool zu Miß Edwards, während die Pferdedroschke durch das nächtliche London rumpelte, »in Zukunft werden die großen Entdeckungen stets mit dem Namen Englands verbunden sein!« Miß Edwards lachte: »Mein lieber Reginald, nehmen Sie lieber den Mund nicht zu voll. Bis jetzt ist England auf dem Gebiet der ägyptischen Altertumswissenschaft noch immer ein unterentwickeltes Land. Die Universitäten unseres Weltreichs haben noch nicht einmal einen Lehrstuhl für dieses Fach!« Pool nickte: »Das ist leider wahr.« Amelia Edwards wischte mit der Hand über die beschlage-nen Scheiben: »Aber ich glaube, ich habe da jemanden im Auge . .. «

Am Nachmittag, gegen 17 Uhr, wenn die Eisenbahn aus Oberägypten einlief, glich der Bahnhof von Kairo einem Hexenkessel. Kofferträger, Eseltreiber, Zeitungs- und Nüsseverkäufer stritten mit bunt uniformierten Bahnbeamten und verschleierten Frauen um einen der vorderen Plätze am Bahnsteig. Wurde dann endlich der Rauch der Lokomotive sichtbar, war die tausendköpfige Menge nicht mehr zu halten, sie rannte dem feurigen Ungetüm entgegen und gab der quietschenden, ächzenden Eisenbahn auf den letzten hundert Metern das Geleit. Obwohl sich dieser Vorgang tagtäglich wiederholte, war er jeden Tag wieder von besonderem Reiz.

Kaum hatte der Zug angehalten, da stürzten die Wartenden zu den Coupes erster Klasse, gleich hinter der Lokomotive, denen festlich gekleidete Menschen entstiegen, Damen in breitkrempigen Hüten, Herren im Gehrock, Geschäftsleute und ausländische Touristen. Sie brachten Geld in die Stadt. Wer aus den hinteren Wagen der dritten und vierten Klasse kletterte, genoß nicht die geringste Aufmerksamkeit, und so fiel der Mann in weißer Kalabija mit rotem Fez auf dem Kopf nicht weiter auf, als er dem Ausgang zustrebte, ein Fellache aus der Provinz.

Als er jedoch in Höhe der Lokomotive das Ende des Bahnsteigs erreicht hatte, prallte er mit einem Kofferträger zusammen, der es besonders eilig hatte. Der Fellache stolperte, rappelte sich wieder hoch, aber dabei rutschte aus den Falten seines weiten Gewandes ein tönerner Gegenstand, so groß wie ein Dachziegel, und zerschellte auf den schwarz-weißen Steinfliesen der Bahnhofshalle. Sofort bildete sich ein Kreis neugierig gaffender Menschen um den angstvoll dreinblickenden Fellachen, der verle -gen auf die Scherben zu seinen Füßen starrte. Das größte der graubraunen Bruchstücke trug unkenntliche Schriftzeichen, und auf einmal rief eine Stimme aus der Menge: »Kadim! Das ist ja antik!«

Der Mann aus der Provinz fühlte sich ertappt, in die Enge getrieben, er stieß einen alten Mann um, hetzte davon und tauchte irgendwo in der Menge unter. Zwei Ordnungshüter sperrten den Fundort ab, beschlagnahmten die Scherben und erstellten ein Protokoll. Eine Lawine kam ins Rollen.

Klein, gedrungen, mit listigen Äuglein hinter der schmalen Nickelbrille, saß er in der Halle des Hotels Luxor, musterte jeden Vorbeikommenden kritisch, lächelte den Damen freundlich zu und blies den Rauch seiner Zigarre genußvoll in die Luft. Wallis Budge galt, zumindest bei den einfachen Leuten, als der beliebteste Altertumsforscher in ganz Ägypten. Bei den Behörden dagegen genoß er einen fragwürdigen Ruf, und jedesmal, wenn der Museumsassistent aus London in Alexandria an Land ging, schlugen die Zollbehörden Alarm, sehr zum Vergnügen des Forschers aus Cornwall. Budges Beliebtheit bei den Ägyptern kam daher, daß er nie Fragen stellte, wenn man ihm irgendwelche Ausgrabungsgegenstände oder Papyri anbot. Außerdem zahlte er faire Preise. Das hatte sich herumgesprochen. Doch diesmal, das merkte der clevere Engländer sofort, stimmte etwas nicht. Mit gespielter Teilnahmslosigkeit musterte er die Gäste in der turbulenten Hotelhalle, die nicht nur als Rezeption und Aufenthaltsraum, sondern auch als Reisebüro für ausländische Touristen diente. Zwei Männer paßten nicht in das Ambiente dieses Hotels, zwei Ägypter in europäischer Kleidung, die sich halb hinter den Säulen versteckt hielten. Der eine tarnte sich zusätzlich mit einer englischen Zeitung, der andere blickte unaufhörlich in eine der Spiegeltüren und ließ Budge nicht aus den Augen. Wallis Budge überlegte: Sollten sie ihn heute nacht beobachtet haben, als er im Boot über den Nil setzte und auf einem Esel zum Tal der Könige geritten war? Das war unmöglich !

Budge hatte in der Nacht einen zwanzig Meter langen Papyrus von einem unbekannten Mann erworben. Soweit er beim Kerzenschein in dem Höhlenversteck erkennen konnte, enthielt er für einen königlichen Schreiber namens Ani Gebete und Hinweise für den Weg ins Jenseits, das sogenannte Totenbuch.

Der Kupferschmied! Budge überlegte. Bei einem Kupferschmied im Basar von Luxor hatte er eine Blechbüchse in Auftrag gegeben und im voraus bezahlt. Hatte sich der Mann Gedanken gemacht, was er wohl in dieser großen Büchse transportieren wolle? - Nervös sprang er auf, ging in der Hotelhalle auf und ab, da stieß ihn ein Araber in schwarzer Kalabija an. »Mister!« sagte er, während er sich beiseite drehte. »Das Haus von Bey Mohammed wird beobachtet, er kann nicht kommen. Aber wenn Sie wollen, sollen Sie ihn nach Einbruch der Dunkelheit aufsuchen und den Hintereingang benutzen.« Der Araber verschwand grußlos, und der Engländer zog sich auf sein Zimmer zurück. Ein Blick aus dem Fenster bestätigte Wallis Budge, daß er sich nicht getäuscht hatte: Die beiden Männer, die zuvor betont teilnahmslos in der Hotelhalle gewartet hatten, hielten nun sein erleuchtetes Zimmerfenster im Auge. Budge stellte den Docht seiner Lampe noch einmal besonders hoch, schlich dann die Treppe hinab und verließ das Hotel Luxor durch einen Hinterausgang.

Mohammed Muhassib begrüßte den Engländer wie einen langjährigen guten Freund - dabei sahen sich die beiden zum allererstenmal. Mohammed, einst als Hausdiener bei Lady Duff Gordon, galt nun als beste Adresse unter den Antiquitätenhehlern. Sein Konkurrent Mustafa Aga Ayat war alt und gebrechlich geworden.

Der Hausherr klatschte in die Hände, ein Diener trug Me-lokhia auf, das ägyptische Nationalgericht. Mohammed schlürfte die Suppe mit hörbarem Genuß. Wallis Budge unterbrach das schmatzende Geräusch und erkundigte sich nach den Gründen für die ungewöhnlich strengen Bewachungsmaßnahmen.

Mohammed lächelte: »Wenn Sie glauben, daß das alles nur wegen Ihnen stattfindet, dann muß ich Sie leider enttäuschen, Sir. Die Altertümerverwaltung macht beinahe jede Woche irgendwo eine Razzia auf vermeintliche Antiquitätenhändler, läßt Leute verhaften und muß sie meist am nächsten Tag wieder freilassen, weil man ihnen nichts nachweisen kann. Diese Woche sind eben wir dran. Das soll Sie nicht weiter stören, Sir.«

Mohammed schien noch kaltblütiger zu sein als er selbst. Budge ließ sich das mit Reis und Melokhia-Blättern gekochte Gänsefleisch schmecken, als ein ausgemergelter Fellache unangemeldet den Raum betrat. Er wechselte mit Mohammed ein paar Sätze auf Arabisch, und der Hausherr erzählte ihm, der Alte komme mit ein paar Fundstücken, die er gerne begutachten lassen, eventuell auch verkaufen würde. »Aber wie ist er denn überhaupt hereingekommen?« fragte der Engländer verwundert.

Da verzog sich Mohammeds breites Gesicht zu einem Grinsen. Er hielt die geöffneten Handflächen vor die Brust und sagte: »Allah hat gemacht Melokhia nicht nur für dich und mich, Allah hat gemacht Melokhia für alle. Aufpasser essen Melokhia in der Küche.«

Budge unterbrach jäh sein Gelächter, als ihm der Fellache ein Tontäfelchen unter die Nase hielt. »Kadim?« fragte der Alte. »Ist das antik? Oder jadid - neu?« Der britische Gelehrte, der eine Reise nach Mesopotamien nur aufgrund eines Tips in Ägypten unterbrochen hatte, erkannte sofort, daß es sich um babylonische Keilschrift handelte. Aussehen, Form, Farbe und Struktur waren durchaus mit bekannten Stücken zu vergleichen - und das sprach für die Echtheit des Täfelchens - was dagegen sprach, war ei-gentlich nur die Tatsache, daß sich Budge am Ufer des Nils befand und nicht irgendwo zwischen Euphrat und Tigris. Kopfschüttelnd versuchte er sich in die Keilschriftzeichen einzulesen, da zeigte ihm der Besucher noch ein zweites und drittes Täfelchen, insgesamt waren es schließlich sechs an der Zahl. Budge staunte. Also entsprach die Nachricht, die man ihm bei dem Zwischenaufenthalt in Alexandria zugespielt hatte, der Wahrheit. Ein kleiner Junge hatte ihm beim Verlassen des Schiffes einen Brief in die Hand gedrückt, der in fehlerhaftem Englisch die Aufforderung enthielt, nach Lu-xor zu reisen. Dort würde ihn eine bedeutsame Entdeckung erwarten. Wallis Budge, der Museumsbeamte aus London, war für derlei geheimnisvolle Botschaften durchaus empfänglich. Auf diese Art und Weise hatte er für sein Museum bereits Schätze von höchstem Rang erworben. Je mehr Budge die Täfelchen in seinen Händen herumdrehte, verglich und betrachtete, je mehr er dabei zu der Überzeugung kam, daß er dreitausendjährige KeilschriftDokumente vor sich hatte, desto gleichgültiger und gelassener gab er sich nach außen hin.

»Willst du etwa behaupten, du habest das Zeug im Tal der Könige ausgegraben?« Budge klopfte mit dem Knöchel seines rechten Zeigefingers auf eine der Tafeln. Der fremde Besucher schüttelte den Kopf. »Er kommt aus El-Hagg Quandil«, mischte Mohammed sich in das Gespräch, »einem Dorf in der Mitte zwischen Kairo und Luxor.«

Budge schwieg in der Hoffnung, der Fremde würde weitere Erklärungen abgeben; aber der dachte genauso und wartete noch immer auf eine Antwort. »Du weißt natürlich, daß das keine Hieroglyphen sind«, sagte Budge ohne aufzusehen. Der Fremde nickte und meinte, deshalb sei er ja gekommen, schließlich gelte der Engländer als Schriftenexperte.

Als er merkte, daß er so nicht weiterkam, tat Budge etwas, wozu er sich sonst nie hinreißen ließ, er stellte die Frage: »Woher hast du das Zeug?«

Der Fellache machte keine Anstalten, zu antworten. Erst als Mohammed ein paar ermunternde Worte auf arabisch an ihn richtete, erzählte er: Eine Bäuerin aus El-Hagg Quandil habe nach Sebach gegraben, dem fruchtbringenden Düngemergel, der um das Dorf herum reichlich vorkomme. Dabei sei sie auf ein Versteck mit über 300 solchen Tontafeln gestoßen. Sie habe zunächst eine große Entdeckung vermutet, bis man ihr sagte, daß es sich dabei nicht einmal um ägyptische Schriftzeichen handle. Also gab sie den Kram an einen Dorfbewohner weiter. Der zahlte zehn Piaster - damit konnte man zwei Laib Brot kaufen. Doch dieser Halsabschneider, Allah sei seiner üblen Seele gnädig, habe sie für zehn ägyptische Pfund an einen des Weges kommenden Antiquitätenhändler verschachert. Dem aber bereitete der Weiterverkauf große Schwierigkeiten, nachdem irgendein Altertumsforscher behauptet hatte, es handle sich um Keilschriftzeichen, und Keilschrift-Aufzeichnungen seien noch nie in Ägypten gefunden worden. Deshalb habe er die Tafeln für einen Bak-schisch weitergegeben. »Alle?«

Der Fremde nickte. Er selbst habe nur noch diese sechs; aber sein Freund Hassan nenne weitere 77 sein eigen, das heißt, jetzt seien es nur noch 76. Die größte Tafel sei diesem Dummkopf auf dem Bahnhof in Kairo aus der Kalabija gerutscht und zersprungen. Seither werde er im ganzen Land steckbrieflich gesucht. »Das ist doch ein Zeichen dafür, daß die Tafeln von Wert sind!« rief der Fellache. »Das kommt darauf an«, meinte Wallis Budge - »vorausgesetzt, sie sind echt!«

Wo denn sein Freund Hassan sei. - »Unten in der Küche, dieser Freßsack!« Er esse mit den Polizisten. Mohammed ging zur Tür, rief etwas Unverständliches, und im nächsten Augenblick erschien Hassan mit zwei Bün-dein unter dem Arm. Er legte sie vor dem Engländer auf den Boden und wischte sich mit dem Ärmel verlegen über den Mund. Budge öffnete eines der Stoffbündel und wickelte die sorgsam verschnürten Tontafeln aus. Während er eine um die andere in die Hand nahm und begutachtete, sagte Budge mit gespielter Ruhe: »Echt oder nicht echt, das ist eine sehr schwierige Frage. Dies festzustellen, kann Wochen dauern, und die Wahrscheinlichkeit, in Ägypten ein Keilschrift-Original zu finden, spricht eigentlich gegen diesen Fund . ..« Budge unterbrach sich. Gleich die erste Tafel aus dem einen Packen, den Hassan vor ihn hingelegt hatte, trug, deutlich erkennbar, die Schriftzeichen »A-na Ni-ib-mu-a-ri-ja« - an Nibmuarija. Wer war dieser Nibmuarija? Und da: »Ihar matu Mi-is-ri« - König des Landes Ägypten.

Doch plötzlich begriff Budge den Zusammenhang. Diese unscheinbaren Tontäfelchen waren Briefe an einen ägyptischen König und damit von größter historischer Bedeutung. »Wie immer die Prüfung ausgehen wird«, wiederholte der Engländer, »ich werde Euch die Tafeln zu einem fairen Preis abkaufen.«

Die beiden Ägypter sahen ihn argwöhnisch an. »Oder habt Ihr schon einmal etwas Gegenteiliges gehört?« fragte Budge. »Dann nehmt das Zeug wieder mit, zerreibt es zu Sebach, damit Eure Felder besser gedeihen!« Bei diesen Worten legte er die Tontafeln auf das Bündel zurück. Aber nein! Die Fellachen wehrten das Ansinnen des Engländers ab. Sie vertrauten ihm voll und ganz, er möge die Täfelchen behalten und auf ihre Echtheit prüfen. »Effendi! Effendi!« Mohammeds Diener stürzte atemlos in den Raum. »Die Polizei hat das Schatzhaus umstellt und den Zugang versiegelt!«

»Das Schatzhaus?« Mohammed machte ein kummervolles Gesicht. Mitten im Dorf, an der Rückfront des Hotels Luxor, gab es eine alte, halbverfallene Scheune, von der nie-mand wußte, was darin aufbewahrt wurde und wem sie überhaupt gehörte. In diesem heruntergekommenen Bauwerk, das keine Fenster, aber meterdicke Mauern hatte, bewahrten Antikenhändler ihre Schätze auf, jeder für sich. Hier verschwand keine einzige Perle, das war Ehrensache! »Jemand muß uns verpfiffen haben!« sagte Mohammed zornig. »Aber warum haben sie das Tor versiegelt?« »Die Polizei hat den Befehl, auf die Ankunft des Dampfers der Altertümerverwaltung zu warten«, sagte der Diener. Jetzt wurde auch Budge unruhig. In dem Lagerhaus, das über und über mit Schätzen aus zahllosen Raubgrabungen angefüllt war, bewahrte auch der Engländer seine neuesten Erwerbungen auf, Papyrusrollen, mehrere Kisten mit kleineren Kostbarkeiten, Jahrtausende alte Totenschädel, die er für einen englischen Anatomie-Professor erworben hatte, und eine Mumie samt Sarkophag.

Mohammed gab seinem Diener Order, mit einer Flasche Cognac zum Schatzhaus zu gehen und die Polizisten zu einem Gläschen einzuladen. Doch der Lakai kam erfolglos zurück, die Wächter hätten ihm Prügel angedroht und den Cognac nicht einmal angerührt. Die Lage sei brenzlig, sie erforderte einen höheren Aufwand. Budge verließ das Haus Mohammeds durch den Hintereingang und eilte in sein Hotel, wobei er ebenfalls wieder den rückwärtigen Zugang wählte. In einem kurzen Gespräch schilderte er dem Hotelmanager seine prekäre Situation und die der Hehler von Luxor, dann weihte er ihn in seine Pläne ein. Es mußte schnell gehen. Vor dem Hotel Luxor nahm eine lärmende Folkloregruppe Aufstellung. Bildhübsche Bauchtänzerinnen warfen ihre breiten Hüften, Flötenspieler entlockten ihren Instrumenten schrille Töne, und Trommler schlugen ihre Felle, daß auch die letzten Hotelgäste aus dem Schlaf gerissen wurden, auf die Straße eilten und mitklatschten. Zur gleichen Zeit meißelte ein gut eingespieltes Team von Grabräubern im Hotel-Park die Rückseite des Schatzhauses auf. Während die Musiker und Tänzerinnen die Straße auf und ab zogen, lösten die Männer in der Dunkelheit Stein um Stein lautlos aus dem Mauerwerk. Sie waren diese Art von Arbeit von zahllosen Raubzügen gewöhnt. Nacheinander wurden die kostbaren Ausgrabungsgegenstände nun durch das enge Mauerloch gehoben und verschwanden irgendwo im Dunkeln. Wallis Budge stapelte seine Schätze im Schrank seines Hotelzimmers, den Sarkophag mit der Mumie mußte er zurücklassen. Er war der Ansicht, eine geringe Beute müsse den Kontrolleuren der Altertümerverwaltung in die Hände fallen, sonst würden sie weitersuchen. Außerdem versprachen die Hehler, umgehend eine neue, bessere Mumie nachzuliefern. Budge zahlte für die Tafeln hundert Pfund, und der Fella -che war es zufrieden. Der englische Forscher aber schloß sich in sein Hotelzimmer ein und versuchte mühsam, die Jahrtausende alten Dokumente zu entschlüsseln. Doch je mehr er sich in die tönernen Briefe vertiefte, hier und dort einen Namen, ein Wort, eine Zahl, einen Begriff entschlüsselte, desto bedeutungsvoller erschien ihm der Fund. Da feilschten Könige um Frauen und Mitgift, warben um Freundschaft und drohten sich Krieg an. Nur - wer hier an wen schrieb, das blieb Budge noch verborgen. Eines aber war gewiß: Diese unscheinbaren, abgestoßenen Stimmen aus dem zweiten Jahrtausend würden in nicht allzuferner Zeit große weiße Flecken in der Geschichte Ägyptens auffüllen. Der Brite machte sich nun auf die Suche nach den übrigen Tontafeln, brachte in Kairo drei Händler in Erfahrung und erlebte eine bittere Enttäuschung. Der erste hatte ein gutes Dutzend an unbekannte Privatsammler weiterveräußert, vom zweiten waren siebzehn Tafeln dem Museum zur Begutachtung vorgelegt und sofort beschlagnahmt worden -und Ali Abd el-Haj, der dritte, hatte über hundert Tafeln an einen Wiener Teppichhändler verkauft. Der aber wurde mit dem Kauf auch nicht gerade glücklich und gab den Schatz, mit Gewinn, versteht sich, an einen Ankäufer des Ägyptischen Museums in Berlin weiter. Dort wuchs inzwischen eine neue Generation von Altertumsforschern heran. Lepsius war tot, Adolf Erman hatte sein Erbe als Museumsdirektor übernommen. Und die Deutschen zeigten sich nicht bereit, das ägyptische Altertum nur den Engländern und Franzosen zu überlassen.

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