II. Ein Mann und 5000 Jahre Vergangenheit

Der flackernde Schein einer Kerze warf tanzende Schatten auf die gegenüberliegende Wand und brachte die erhabenen Reliefs scheinbar zum Leben. Ein trächtiges Nilpferd mit aufgesperrtem Rachen tauchte vor ihm auf, da drüben wieder, hier noch einmal. Trug es nicht Krone und Zepter? - Ipet! schoß es Brugsch durch den Kopf. Er lag im Heiligtum der Göttin Ipet.


An der Stelle, wo schon vor mehr als dreitausend Jahren Gott Amun auf eine Nilbarke verfrachtet worden war, um in das jenseitige Theben, das Reich der Toten, gerudert zu werden, stand Dr. Heinrich Brugsch hilflos um sich blickend neben zwei Holzkisten mit Reisegepäck. Eseltreiber, Marktschreier und Bettler um ihn herum rempelten ihn an, und jeder versuchte, ihn in eine andere Richtung zu ziehen. Das sollte die Königin der Städte, das hunderttorige Theben sein? Für Brugsch war es zunächst einmal eine Enttäuschung. Luxor, das geschäftige Dorf in Oberägypten, hatte die Tempelanlagen regelrecht verzehrt, mit Häusern, Hütten und Viehställen überwuchert, und nur manchmal konnte man hinter Häuserwänden und unter hohen Fundamenten Reste alter Bauten erkennen.

Ein Fremder kam zu dieser Zeit nicht jede Woche nach Luxor und erregte deshalb unter den Einheimischen stets Interesse. »Francois?« fragte ein besonders Aufgeweckter.

»Non«, sagte Brugsch, »Prussien!« »Ah - Prussien.« Der Fellache bedeutete mit beiden Händen, Brugsch möge hier warten, dann rannte er davon. Bald kehrte er mit einem weißbärtigen alten Mann zurück, der dem Preußen schon von weitem zurief: »Eila mit Weila!« Brugsch war verblüfft. In einer Mischung aus Deutsch, Französisch und Arabisch erklärte der Alte, er sei Auad aus dem Dorf Scheich abd el-Kurna auf der jenseitigen Seite des Nils und habe vor zehn Jahren dem Preußen Richard Lepsius als Führer gedient. Ob er denn schon eine Unterkunft habe? Brugsch verneinte. »Ah, gutt«, sagte Auad, forderte ein paar tatenlos herumstehende Halbwüchsige auf, sich um das Gepäck des Effendi zu kümmern, und zog den Fremden hinter sich her.

Ob er eine gute Reise gehabt habe, fragte er, sich freundlich umblickend. Ja.

Und Lepsius, ob er ihn gekannt habe? Ja.

Ob er auch Forscher sei, wie Lepsius? Ja-

»Gutt!«

Brugschs Einsilbigkeit hatte ihren Grund: Vor ihm schälte sich das Bild eines gewaltigen Tempels aus der Häuserflut, Zum Teil bis zu den Querbalken der Säulen verschüttet, diente er als Fundament für verschiedene Häuser und eine Moschee. Sollte dies der Tempel des Amun von Theben sein? Über Berge von Trümmern und zwischen aus dem Schutt, ragenden Säulen hindurch führte Auad den Fremden zu eier aus Nilschlammziegeln errichteten Treppe mitten im Tempel. Brugsch blickte nach oben. Dort thronte in luftiger Höhe auf den Kapitellen der Säulen ein skurril geformtes Spukschloß. »La maison de France«, sagte Auad andächtig und bat seinen Begleiter, ihm über die steile Treppe zu folgen.

Oben angelangt, tat sich hinter einem Torbogen eine weiträumige Terrasse auf. Für einen Augenblick glaubte Brugsch zu träumen: Ein dunkelhäutiger Diener schlug mit einer Axt auf einen prachtvoll bemalten Holzsarkophag ein. Der Preuße sprang hinzu und hielt die Rechte des Dieners mit dem Beil fest.



»Frag ihn, was er da macht!« schrie er Auad in höchster Erregung an. Der wechselte mit ihm ein paar Worte. - »Holz für die Küche«, kam die Antwort. Brugsch nahm ihm die Axt| weg; doch dann spürte er, daß jemand hinter ihm stand. »Ge- -ben Sie das Beil her«, sagte eine Stimme. Als sich Brugsch umdrehte, sah er einen stattlichen Mann mit dunklen Haaren und sorgsam gezwirbeltem Bart vor sich. »Entschuldigen Sie, Monsieur«, stammelte Brugsch, »aber Ihr Diener war gerade dabei, diesen Sarkophag zu zerhak-ken!«

Der Hausherr lachte: »Ich habe ihm den Befehl gegeben. Meine Frau ist es leid, mit Kamelmist zu kochen. Es stinkt bestialisch. Sie wollen Antiquitäten erwerben?« »Mein Name ist Dr. Brugsch aus Berlin. Ich bin Forscher.« »Bienvenu, Monsieur, ich heiße Maunier und handle mit Antiquitäten, Reiseandenken - Sie verstehen. Daneben mache ich auf Wunsch auch fotografische Aufnahmen. Sie kennen doch die Daguerreotypien?« »Ich habe davon gehört«, sagte Brugsch, »phantastische Erfindung. Nein, gesehen habe ich solche fotografische Aufnahmen noch nicht.«

Da tauchte im Türrahmen eine schwarzhaarige Frau auf. »Ein Forscher aus Berlin«, sagte Maunier und - »meine Frau.«

Auad verabschiedete sich, als die beiden den Preußen ins Haus baten. Der kahle fensterlose Wohnraum war spärlich mit arabischem Mobiliar eingerichtet, quoll jedoch über von wertvollen Ausgrabungsfunden. Ob Maunier überhaupt wußte, welche Schätze er da aufbewahrte? »Sind Sie mit der >Serapis< angekommen?« erkundigte sich der Franzose. Brugsch nickte. »Und Sie wollen hier Forschungen betreiben? Haben Sie denn schon eine Unterkunft? Wir vermieten Zimmer an Fremde, zweitausend Piaster im Monat, wenn Sie wollen ...«

»Das ist sehr freundlich«, bedankte sich Brugsch, »aber mein Etat erlaubt derartige Ausgaben nicht. Sie müssen wissen, ich bin seit beinahe einem Jahr unterwegs und mein Salär von 1500 Thalern ist aufgebraucht. 1860 Piaster hat die Schiffspassage hierher verschlungen. Ich habe schon ein Bittgesuch nach Berlin gesandt.«

»Kein Problem«, meinte der geschäftstüchtige Franzose, »ich verleihe auch Geld. Die Karawanen aus Dongola und Kordofan machen alle bei mir halt. Meine Zinsen sind nicht niedrig, aber immer noch reell.«

Heinrich Brugsch hatte alle Mühe, die verschiedenen Anerbieten abzuwehren. Schließlich ließ er sich überreden, eine Nacht zu bleiben, am nächsten Morgen wollte er weitersehen.

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde vom Eintreffen des deutschen Forschers. Timsah, ein angesehener Fellache, der nie ohne Turban ging, betrachtete es als seine Pflicht, dem Fremden Theben zu zeigen - schließlich habe er schon den großen Champollion durch die Tempelstätten geführt. Timsah, wörtlich »Krokodil«, genoß in Luxor einen Sonderstatus. Zum Dank für seine treuen Dienste hatte ihm die französische Regierung das Bürgerrecht verliehen, und als Franzose genoß das Krokodil Immunität, konnte von den einheimischen Behörden nicht belangt werden und mußte auch keine Steuern zahlen - was Timsah freilich ohnehin noch nie getan hatte. Der Alte parlierte leidenschaftlich französisch, zumindest fügte er jedem Satz ein abschließendes »bon« hinzu.

»Wenn du nicht Angst vor Pharaonen, dann Timsah wissen Haus für Fremden.« Die vorsichtige Frage, was es denn koste, wischte er mit einer unwilligen Handbewegung beiseite: »Rien, nichts! Bon.« Und so schaukelten Timsah, Brugsch und zwei Gepäckträger mit sechs Kamelen die Straße nach Karnak hinaus, durch grüne Maisfelder, die der Ernte entgegenreiften. Zur Rechten leuchtete eine bläuliche Hügelkette, die das Tal von Theben im Osten begrenzt, linkerhand, »jenseits des Meeres« - wie die antiken Bewohner alles bezeichnen, was am anderen Nilufer lag - schimmerte gelb und rötlich die Bergkette von el-Kurna. Dahinter lag das Tal der Könige.

Vor der Karawane tauchten zwischen hochragenden Palmen die Pylone, Obelisken und Säulen von Karnak auf, eine unüberschaubare Ansammlung verschütteter Tempelbauten. Offenbarung und Alptraum zugleich. Kein Wunder, über tausend Jahre hatten hier Ägyptens Könige im Gigantismus gewetteifert. Nun versunken, verschüttet, vergessen, fiel es selbst einem Mann wie Heinrich Brugsch schwer, sich ihrer Bedeutung bewußt zu werden. Inmitten einer Allee riesiger, meist kopfloser Sphingen kam sich Brugsch samt seinem Kamel sehr klein vor. Durch den ersten Pylon reitend, erkannte der Forscher die großen runden Löcher der Türangeln. Auf dem turmhohen Dach des Torbogens klebten arabische Häuser. Brugsch stand im Tempel des thebanischen Mondgottes Chons. Sein Begleiter bog nach links ab und forderte ihn auf zu folgen. Hinter einem schmalen Durchgang tat sich ein kleines Heiligtum auf, das bis vor kurzem noch als Eselstall gedient hatte. »Haus von Monsieur Champollion«, sagte Timsah und deutete auf die Stallung, »bon.« Ihr Führer nötigte die brüllenden Kamele, sich niederzuknien, damit die Männer absteigen und die Gepäckstücke entladen werden konnten. Hunde kläfften, bettelnde Kinder jammerten um Bakschisch, Timsah verjagte sie mit Steinen. Im ersten Raum, einer von zwei Säulen gestützten Vorhalle, richtete Brugsch die Küche ein, der darunterliegende zweite Raum mit zwei Seitenkammern wurde zum Speise-und Empfangssaal, das hinterste, kleine Zimmer, einst das Sanktuarium, diente als Schlaf- und Arbeitszimmer. Die Reisekisten und ein paar Decken ersetzten das Bett. Mit dem Gewehr neben sich - eine Haustüre gab es nicht - legte Heinrich Brugsch sich nieder.

Der flackernde Schein einer Kerze warf tanzende Schatten auf die gegenüberliegende Wand und brachte die erhabenen

Reliefs scheinbar zum Leben. Ein trächtiges Nilpferd mit aufgesperrtem Rachen tauchte vor ihm auf, da drüben wie -der, hier noch einmal. Trug es nicht Krone und Zepter? -Ipet! schoß es Brugsch durch den Kopf. Er lag im Heiligtum der Göttin Ipet. Ihr Name war gleichlautend mit der hieroglyphischen Bezeichnung Theben, also konnte es sich nur um eine Schutzgöttin dieser Stadt handeln. Während die Augen des Forschers über die Reliefs der Wände wanderten, erfüllte luftiges, geisterhaftes Rauschen, unterbrochen von leisen schrillen Pfiffen, den Raum. Fledermäuse, die sich bei Tag in den Spalten des Gesteins verborgen hatten, gingen auf Nachtflug. Aber der neue Hausherr ließ sich nicht stören, er nahm fasziniert die Bilder an den Wänden in sich auf, biß sich an den Hieroglyphen fest, taxierte den Stil der Darstellungen und war sich seiner Sache sicher: Dies alles mußte aus der Ptolemäerepoche stammen, einer Zeit, in der in Ägypten zwar noch Pharaonen regierten, aber es waren keine Ägypter mehr, sondern Griechen. Die umlaufenden Schriftenbänder ließen Brugsch keine Ruhe. Immer wieder versuchte er einen neuen Ansatz. Seine Augen fielen vor Müdigkeit zu, er riß sie auf, blieb an den Namensringen hängen, murmelte unzusammenhängende Laute, blickte entsetzt auf ein Schriftzeichen, das sich bewegte. Träge kroch ein Skorpion darüber hinweg. Brugsch war hellwach, sprang auf und zerquetschte das gefährliche Tier mit dem Gewehrkolben. Dann legte er sich wieder hin, begann von neuem und las langsam und stockend: »König Ptolemaios Euergetes II. und seiner Schwester Kleopatra und seinem Weibe Kleopatra, der Göttin Ipet, der großen Mutter der Götter, der Herrin des Himmels, der Gebieterin der Erde, der Verehrten im thebanischen Landstrich.« Dann schlief er ein.

Heulende Klagelaute rissen ihn aus dem Schlaf. Hatte er geträumt? Am Horizont ging gerade die Sonne auf. Schlaftrunken erhob sich Brugsch und stapfte durch die fensterlo-sen Räume nach draußen. Da - da war es wieder: die Töne kamen aus dem Innern. Brugsch entzündete eine Kerze und| ging zurück in seine Behausung. Da wieder! Er hatte es jetzt ganz deutlich gehört, das Klagen kam aus einem der Seitenräume. Brugsch steckte die Kerze durch die Türöffnung: Nichts. Ein leerer, kahler Raum. Er ging hinein, leuchtete jeden Winkel ab. Als er sich umdrehte, stand ein Mann im Türrahmen - Timsah: »Gut geschlafen?« Brugsch legte den Zeigefinger an den Mund: »Hör doch, Timsah, hörst du nichts?«

Timsah lachte. »Effendi nicht müssen Angst haben, wenn weinen Wände.« Brugsch sah den Fellachen fragend an. »Leute von Karnak sagen >Kammer der Totenuhr<. Ist Grund, warum nicht bewohnt. Dafür du hast kostenlos Wohnung. Leute von Karnak haben Angst vor weinenden Wänden. Aber Effendi ist Europäer, wir Europäer nicht müssen fürchten.«

Brugsch schmunzelte. Ihm kamen die Memnonkolosse jenseits des Nils in den Sinn, die angeblich morgens, wenn die Sonne aufging, ebenfalls klagende Laute von sich gaben. »Ich will hinüber zum Tal der Könige«, sagte Brugsch zu Timsah, »begleitest du mich?« Der wehrte mit wilden Handbewegungen ab und erklärte, für das Tal sei einzig und allein der alte Auad zuständig, er erwarte Brugsch am Ufer des Nils.

Der Antiquitätenhändler und Daguerreotypist Maunier rannte aufgeregt zum Haus des Konsuls Mustafa Aga Ayat Das Konsulat stand nur wenige Schritte von der Behausung des Franzosen entfernt, ebenfalls auf den Säulen des Luxor-Tempels, und diente England, Rußland und Belgien als diplomatische Vertretung. Es war ein offenes Geheimnis, daß Mustafa Aga unter dem Deckmantel der Immunität einen schwunghaften Handel mit Antiquitäten betrieb; der schwarzbärtige Scheich galt als größte Kapazität seines Fa-ches in Oberägypten. Man sah ihm das nicht an, denn Exzellenz machten stets einen gepflegten Eindruck und sprachen außer arabisch fließend englisch, französisch und italienisch. »Aga«, rief Maunier aufgeregt, »mit dem Postdampfer kam soeben die Nachricht, Pascha Abbas ist ermordet worden.«

Der Konsul schwieg. Er gehörte zu den wenigen, die diese Nachricht betroffen machte. »Wer war es?« fragte er schließlich.

»Zwei Mamelukken haben ihn mit einer Drahtschlinge erwürgt, während er in der Badewanne saß. Abbas nächtigte im Palast von Benha, er war auf dem Weg von Kairo nach Ale -xandria.«

»Allah sei ihm gnädig. Wer wird nun Khedive, Said oder Ismail?«

»Said.«

»Said? - Dann wird sich einiges im Lande ändern.« »Das glaube ich auch«, sagte Maunier, »vor allem für uns Europäer.«

»Vor allem für Euch Franzosen«, warf Mustafa Aga ein. »Er schätzt Euch und Euere Kultur über alles. Auch als noch Mohammed Ali regierte - Allah sei ihm gnädig - war ein Franzose sein bester Freund, der französische Konsul.« »Ferdinand de Lesseps!«

»Ich denke, das war sein Name. Man hat nie mehr etwas von ihm gehört.«

»Er soll seine Diplomatenlaufbahn aufgegeben haben«, meinte Maunier, »wie ich hörte, bewirtschaftet er das Landgut seiner Schwiegermutter. Er hat reich geheiratet.« »Sei ihm gegönnt«, sagte Mustafa Aga. Maunier betrachtete die zahlreichen Ausgrabungsfunde, die in der düsteren, teppichbelegten Halle ausgestellt waren, und fragte: »Wie gehen die Geschäfte, Aga?« »Sie sehen ja«, antwortete der Gefragte, »das Angebot ist größer als die Nachfrage, das drückt auf die Preise.« »Seid Ihr schon dem Preußen begegnet, der sich seit kurzem hier aufhält?« fragte Maunier. »Ein Preuße?« Mustafas Augen leuchteten auf. »Tourist? Ich meine, hat er Geld?«

»Er behauptet, Forscher zu sein, und angeblich ist er mittellos, aber er leistet sich zwei Führer, einen auf dieser, den anderen auf jener Seite des Nils. Und jedermann weiß, daß sie keinen Schritt umsonst tun.« »Timsah und Auad?«

»Timsah und Auad. - Neulich fragte mich der Preuße sogar nach einem Sprachlehrer . . .« »Wo logiert er, bei Ihnen?«

»Er sagt, er könne die Miete nicht bezahlen. Jetzt wohnt er abwechselnd in einem Eselstall in Karnak und in einer Höhle in el-Kurna und übersetzt alle erreichbaren Inschriften. Er ist ein gelehrter Mann und kann die Hieroglyphen lesen. Ich glaube, er würde sogar Grabungen machen, wenn er Geld hätte, um Arbeiter anzuwerben. Aber er erwartet eine größere Summe aus Berlin.«

Mustafa Aga Ayat trat ganz nahe an den Franzosen heran and sagte leise: »Ich will ihn hier nicht haben, diesen Preussen. Er versteht zu viel von den Dingen. Das ist nicht gut fürs Geschäft. Hat er schon irgendwelche Dinge ausgegraben?«

Maunier hob die Schultern: »Das kann ich nicht sagen. Er ist nicht sehr gesprächig. Aber man kann erwarten, daß er bald große Entdeckungen machen wird. Erinnern Sie sich doch nur an diesen Lepsius, das war auch so ein Preuße. Diese Leute überlassen nichts dem Zufall. Wenn sie an einer Stelle graben, dann deshalb, weil es konkrete Hinweise auf irgendwelche Funde gibt. Sie haben nämlich uns und den meisten anderen Ausgräbern etwas voraus: Sie können alle Inschriften lesen. Und ein Mann, der dies sogar vorzüglich kann, ist dieser Brugsch.« »Er muß weg!« sagte Mustafa, »er muß weg!«

Maunier sah den Scheich fragend an: »Was wollen Sie tun?«

»Lassen Sie mich nur machen«, antwortete dieser, »wo ist dieser Brugsch zur Zeit?« »Im Tal der Könige.«

»Im Tal?« rief Mustafa und ging unruhig auf und ab. »Was wollen Sie tun?«

»Ich?« fragte der Scheich entrüstet, »ich werde nichts tun. Aber man muß diesem Preußen eine Warnung zukommen lassen, er hat hier nichts zu suchen, er ist ein Eindringling. Und wenn er nicht verschwindet, dann wird es ihm so ergehen wie diesem Konsul Reitz, der eine von den heiligen Hyänen erlegt hat. Erinnern Sie sich?« »Sie meinen diesen Österreicher? Ja, ja, er verfiel kurz darauf dem Wahnsinn und ging elend zugrunde. Wahrscheinlich Gift!«

Mustafa drehte die Handflächen nach außen, machte eine entschuldigende Handbewegung und seufzte: »Maschallah! - Was doch Allah alles geschehen läßt!«

Nach tagelangen Streifzügen im Tal der Könige diente Brugsch das ehemalige Grab eines thebanischen Edelmannes auf einem Felsvorsprung oberhalb des Dorfes Schech abd el-Kurna als provisorische Unterkunft. Das war keineswegs ungewöhnlich, da die meisten der in den Fels gemeißelten, mit Reliefs, Inschriften und Bildern versehenen Gräber bewohnt wurden. Sie waren kühl und leicht sauberzuhalten. Zur Abendstunde quollen Schwaden fettigen Rauchs aus den Türöffnungen, und Düfte von gebratenem Fisch hingen über den Felswänden des Tales. Dann steckte sich Brugsch jedesmal eine Wäscheklammer auf die Nase, mit der er für gewöhnlich seine Zeichnungen und Skizzen festzuhalten pflegte, damit ihn der Hunger nicht allzusehr quälte. Seit Wochen ernährte er sich nur von Linsen, Bohnen, Zwiebeln und Durrabrot. Sein Reisegeld war aufgebraucht, und Brugsch überlegte ernsthaft, ob er nicht Maunier um einen einen Kredit angehen sollte.

An solchen Abenden, allein in seiner Grabwohnung, überkamen ihn mitunter Zweifel, ob er sich sein Leben wirklich so vorgestellt hatte und er nicht besser eine Schreibstube in einem Berliner Ministerium bezogen und seine Abende mit Pauline verbracht hätte. Brugsch war jetzt 27 Jahre alt, genau in jenem Alter, in dem sich ein Mann zum erstenmal fragt, wo der Idealismus endet und die Dummheit beginnt. Doch wenn er dann aus seiner Höhle trat und sein Blick, geblendet von der Sonne, die glutrot hinter den Bergen unterging, über all die Zeugnisse versunkenen Lebens zu seinen Füßen schweifte - über die Säulen des Memnoniums, die verschütteten Mauern des Hatschepsut-Tempels, die riesigen Mem-nonkolosse und fern im gelbweißen Dunst die Ruinenstätte von Karnak -, dann erschienen ihm alle seine Probleme angesichts dieser großartigen versunkenen Welt auf einmal völlig bedeutungslos.

Eines dieser Probleme bestand darin, daß er nicht wußte, wie er Scheich Achmed bezahlen sollte, der ihm seit kurzem die arabische Sprache beibrachte. Der Sechzigjährige, auf einem Auge blind, auf dem anderen auch nicht gerade mit besonderer Sehkraft ausgestattet, war geschwätzig wie eine Drossel und eitel wie ein Pfau. Er ließ keine Gelegenheit aus, sich mit allerlei Höchstleistungen zu brüsten. Nachdem er einmal sechzehn Glaslampen verzehrt hatte, ohne an Leib und Leben Schaden zu nehmen, sahen die Fellachen von el-Kurna in ihm einen Heiligen, die Oberen des Derwischordens, dem er als Mitglied angehörte, verstießen ihn jedoch -wegen Lampenverschwendung. Er behauptete voll Stolz, im Laufe seiner 60 Jahre 70 Frauen geehelicht zu haben - was immer er darunter verstand. Doch da ihm Nachkommenschaft bisher versagt geblieben war, hatte er gerade die 71. Frau ins Auge gefaßt, eine 15jährige Jungfrau.

An diesem Abend diktierte Scheich Achmed seinem Schüler einen arabischen Brief in die Feder. Dann führte er das von Brugsch beschriebene Blatt dicht an sein halbblindes Auge, las und lobte ihn wegen der fehlerfreien Arbeit. Brugsch stutzte. Da er sich bei einigen der nur nach dem Gehör geschriebenen Wörter keineswegs sicher gewesen war, neigte er sich zu dem Alten hinüber, um ihn zu fragen, ob diese Wörter tatsächlich so geschrieben wurden, und registrierte dabei, daß Scheich Achmed das Blatt verkehrt unter seinem Auge hielt.

»Ich glaube, Scheich, du kannst nicht einmal lesen?« rief Brugsch.

»O mein Sohn«, jammerte Achmed, »du hast recht, ich kann weder lesen noch schreiben. Aber Allah ist barmherzig und wird mir weiterhelfen.«

Unter diesen Voraussetzungen, meinte Brugsch, sei an eine Auszahlung des vereinbarten Honorars natürlich nicht zu denken. Achmed sah das ein und verabschiedete sich mit tiefen Bücklingen.

Früh am ändern Morgen wollte Auad kommen. Sie hatten sich vorgenommen, diesmal den steilen, steinigen Pfad über den Felsenkamm ins Tal zu nehmen. Dort oben, behaupteten die Fellachen von el-Kurna, sei ein Trichter zu erkennen, der durchaus Zugang zu einem Grab sein könnte. Die Wahrscheinlichkeit, ausgerechnet an dieser unzugänglichen Stelle ein Grab zu finden, war zwar gering - wie sollte man einen tonnenschweren Sarkophag und sperrige Grabbeigaben dort hinauf transportieren? -, doch das Grab des dritten Ameno-phis hatte man auch abseits auf dem gegenüberliegenden Bergrücken gefunden. Man durfte nichts unversucht lassen. »Effendi!« Auad kletterte schnaufend den schmalen Steig zur Behausung des Forschers empor. Schon von weitem schwenkte er einen Brief über dem Kopf. »Effendi, Post aus Berlin!«

Brugsch riß Auad den Brief aus der Hand und öffnete ihn zitternd. »Der gute alte Alexander von Humboldt«, murmelte er ohne aufzusehen, und dann las er halblaut die enggeschriebenen Zeilen:

»Mein teurer Brugsch! Ich habe mir bittere Vorwürfe zu machen, daß ich Ihnen nicht öfter und früher Zeichen des Lebens, der innigsten Freundschaft und des Dankes für so überaus wichtige und liebevolle Briefe gegeben habe. Aber der Gedanke, daß Sie auch nur einen Augenblick an meiner innigen Anhänglichkeit, an meiner immer zunehmenden Achtung für Ihr schönes Talent und Ihre beispiellose und doch so geregelte Tätigkeit zweifeln könnten, kann mir nicht in den Sinn kommen. Fast jeder Ihrer Briefe, auch die an mich gerichteten, ist dem König vorgelegt und von Ihm mit dem Wohlwollen, das Er Ihnen so unabänderlich schenkt, angehört worden.

Ob diese Zeilen sicher in Ihre Hände kommen, mein teurer Doktor, scheint mir sehr ungewiß. Ihr Hauptzweck ist der, Ihnen die frohe Nachricht zu geben, daß es mir leicht gewesen ist, vom König für Sie wieder auf ein ganzes Jahr 1500 Thaler zu erlangen. Ich bin mit Geh.Kab.-Rat Illaire, der Ihnen sehr gewogen ist, übereingekommen, daß Ihnen bei Herrn Kammerherrn und Generalkonsul Baron von Pentz ein Kredit von 1500 Thalern auf die Legationskasse eröffnet werde.

Meine Gesundheit ist im ganzen dieselbe, nur in der letzten Zeit habe ich die gewöhnlichen Leiden, Verstopfung wie Schnupfen und Husten mehr gehabt. Empfangen Sie, teuerster Brugsch, die erneuerte Versicherung meiner unverbrüchlichen Anhänglichkeit. Ihr Alexander von Humboldt.«

Auad sah den Effendi fragend an. Der strahlte über das ganze Gesicht und sagte: »Auad, heute wird nicht gegraben, heute wird gefeiert!«

»Ist es nicht famos? Sag, ist es nicht famos?« rief Said Pascha immer wieder und puffte seinem Gegenüber in die Seite. Der lachte schallend und blickte von seinem plüschbezogenen Sessel auf die öde Nildelta-Landschaft, die an ihnen vorüberflog. Die Szene spielte in einem roten Salonwagen der Dampfeisenbahnlinie Alexandria-Kairo. Ein offenes Loko-mobil mit einem drei Meter hohen Schornsteinrohr stieß qualmende Rauchwolken aus und zog Kohlenwagen und zwei Anhänger durch die Landschaft. Said Pascha, der neue Vizekönig von Ägypten, freute sich wie ein Kind, qualmte mit der Lokomotive um die Wette und stieß in Abständen Pfeiftöne aus. Fellachen zu beiden Seiten des neuen Bahndammes verneigten sich und fielen auf die Knie, wenn das Stampfende Dampfroß mit dem buntgeschmückten Wagen des Paschas an ihnen vorüberdonnerte. Maschallah! Said war einer der vier Söhne Mohammed Alis, die ihren Vater überlebt hatten - die übrigen achtzig waren bereits tot. Seine Leibesfülle erforderte den dreifachen Stoffaufwand für die Gehröcke, die er mit Vorliebe trug. Ein rötlichblonder Vollbart umrahmte das heitere Gesicht, in dem zwei winzige Äuglein zwinkerten. Der Mann im Fauteuil gegenüber war das ganze Gegenteil, hager, ernst, aber nicht ohne Liebenswürdigkeit. Sein Name: Ferdinand de Lesseps, französischer Ex-Diplomat.

Siebzehn Jahre hatten sich die beiden nicht gesehen; damals waren sie als die besten Freunde auseinandergegangen. Said verdankte Ferdinand einen guten Teil seines Leibesum-fangs; denn er war es gewesen, der dem pummeligen Prinzen, welcher unter dem gestrengen Auge seines Vaters meist nur Bohnen und Salat zum Essen bekam, im nahe gelegenen Konsulat Riesenportionen Pommes frites zukommen ließ. Zuhause in Frankreich hatte er von der Ernennung Saids zum Vizekönig gehört, er hatte ihm eine Glückwunschadresse übersandt und war vom neuen Khediven postwendend nach Kairo eingeladen worden. »Eines muß man diesen Engländern lassen«, sagte Lesseps, der von einem livrierten Diener gerade eine Tasse Tee in Empfang nahm, »sie sind Meister im Bau von Dampfeisenbahnen.«

»Es war die einzige vernünftige Tat von Abbas Pascha, diesen Stephenson ins Land zu holen«, sinnierte Said. »Jetzt ist die Entfernung von Alexandria nach Kairo auf eine einzige Tagesreise zusammengeschrumpft. Zu Schiff durch das Delta waren wir eine ganze Woche unterwegs.« Er rückte näher an den Franzosen heran: »Im Vertrauen gesagt, ich will eine zweite Dampfeisenbahnlinie von Kairo nach Suez bauen lassen. Dann sind Mittelmeer und Rotes Meer auf dem Schienenweg verbunden.« Ferdinand wiegte den Kopf hin und her. »Dir gefällt meine Idee wohl nicht, he?« fragte Said und wedelte mit der Hand die Rauch- und Staubwolken vom Gesicht, die der Fahrtwind durch die offenen Fenster trieb.Les-seps erhob sich, stellte sich breitbeinig vor das Fenster und blickte auf die eintönige Deltalandschaft. »Das wäre gewiß ein Fortschritt«, meinte er, »und der Fortschritt läßt sich auch in deinem Land nicht aufhalten, aber volkswirtschaftlich klug ist es nicht. . .« Der Pascha sah seinen Freund an, er verstand ihn nicht »Nun ja«, begann Lesseps von neuem, »deine Dampfeisenbahn wird sicher mehr Europäer ins Land locken, Europäer, die bisher nur die Hafenstadt Alexandria kannten, weil ihnen die Reise durch das Delta zu beschwerlich war. Immerhin dauerte sie länger als die Überfahrt von Italien. Aber ob deine Dampfeisenbahn ein bedeutender Wirtschaftsfaktor für dein Land werden wird, das will ich bezweifeln. Wenn Ägypten die industrielle Revolution nicht an sich vorüberzie -hen lassen will, dann mußt du andere Projekte angehen. Ich denke da speziell an ein Projekt, es würde die Bedeutung deines Landes für ganz Europa in unvorstellbarem Maße steigern, Ägypten könnte zur Weltmacht werden.« Said Pascha lachte. »Du meinst den Kanal zum Roten Meer. Seit Napoleon läßt euch Franzosen diese Idee keine Ruhe. Aber war es nicht auch eine französische IngenieurKommission, die vor fünfzig Jahren zu dem Ergebnis kam, daß der Wasserspiegel des Roten Meeres um zehn Meter höher liege?«

»Diese Berechnungen sind längst korrigiert, seit einem Jahr steht absolut fest, daß beide Meeresspiegel bei ungünstigsten Flutverhältnissen nur um 94 Zentimeter differieren.« »Ja, ja, ich weiß. Schon mein Vater Mohammed trug sich mit dem Gedanken. Ich war damals noch ein kleiner Junge, als Ingenieure, Landwirte, Schriftsteller und Handwerker aus Frankreich kamen und meinen Vater von der Notwendigkeit dieses Projektes zu überzeugen versuchten. Sonderbare Leute waren das, alles Idealisten, sie wollten gar keinen Gewinn machen, sie behaupteten, im Interesse der Menschheit zu handeln. Aber damals herrschten unruhige Zeiten, und deine Landsleute fuhren unverrichteter Dinge nach Hause.«

»Weißt du«, begann Lesseps, »ich habe die letzten Monate viel Zeit gehabt und mir so meine Gedanken gemacht...« : Die Verbindung zwischen Mittelmeer und Rotem Meer war ein uralter Menschheitstraum. Schon 2000 Jahre vor der Zeitenwende soll ein Kanal bestanden haben, unter Ramses II. wurde eine zweite Verbindung geschaffen, und der Pharao Necho begann um 600 v. Chr. einen dritten Durchstich, den der Perserkönig Darius dann vollendete. Alle drei Projekte verbanden die beiden Meere nicht direkt, sondern das Rote Meer mit dem Nil, und alle drei Projekte hatten das gleiche Schicksal, sie versandeten. Der letzte Kanal verfiel im 8. Jahrhundert.

Um 1500 wurde der Seeweg nach Indien um das Kap der Guten Hoffnung entdeckt. Zeit spielte keine Rolle, man nahm die 4500 Seemeilen Umweg in Kauf, und die Verbindung der Meere geriet völlig in Vergessenheit. Doch als dann im 19. Jahrhundert Zeit auf einmal Geld wurde und die indu-strielle Revolution allerorten ihren Tribut forderte, rückte auch das Kanalprojekt wieder ins Bewußtsein. Seit 1847 gab es eine Planungsgesellschaft für das Kanalprojekt, die sich aus französischen, deutsch-österreichischen und englischen Ingenieuren zusammensetzte. Ihr Sitz: Rue de la Victoire 34, Paris. Auch Ferdinand de Lesseps war Mitglied dieser Gesellschaft; aber nun unternahm er einen Alleingang. Lesseps verstand es, seinen Freund für das Jahrhundertprojekt zu interessieren. Wenige Tage nach der Ankunft in Kairo überreichte der Franzose dem Vizekönig bereits detaillierte Pläne zum Bau des Suezkanals. Said Pascha unterzeichnete die Dokumente am 13. November 1854, ohne sie gelesen zu haben, und erteilte Lesseps die Konzession zur Gründung einer internationalen Baugesellschaft, der Com-pagnie Universelle du Canal Maritime de Suez. Der Kommentar, den Lesseps dazu abgab, sparte nicht mit Superlativen: »Die Namen der ägyptischen Herrscher, welche die Pyramiden errichteten, diese Denkmäler menschlicher Eitelkeit, bleiben unbekannt. Der Name des Fürsten, der den großen Kanal zwischen den Meeren eröffnet, wird von Jahrhundert zu Jahrhundert gepriesen werden bis in alle Ewigkeit.«

Ägypten, ein Land, das seit Napoleons ägyptischem Abenteuer die Weltmächte nur am Rande interessierte, geriet auf einmal in den Strudel europäischer Interessenpolitik. Abenteurer, Spione, Techniker, Diplomaten und Leute, die hofften, das große Glück zu machen, überschwemmten das Land, in dem, wie es schien, die Neuzeit ausbrach. Und die Archäologen und Forscher, die an den Brennpunkten der frühen Kultur meist mittellos und verbissen arbeiteten, sie wurden nun belächelt - als gingen sie in die falsche Richtung.

Zwei Dinge hinderten Heinrich Brugsch, eigene Grabungen durchzuführen. Zum einen war es das Geld. Gräber, die nahe an der Oberfläche lagen, waren von Grabräubern und den

Bewohnern von el-Kurna längst gefunden worden. Und Gräber, die vermutlich tief im Boden lagen, zugeschüttet, verweht oder in den Fels getrieben, erforderten einen zu hohen Arbeitsaufwand, den Brugsch einfach nicht zu bezahlen in der Lage war. Ohne Konzession hätte der Preuße außerdem sowohl auch das Mißtrauen des Provinzgouverneurs, des Mu-dirs von Kena, erregt. Zum anderen aber führte Auad seinen Herrn zu so vielen geöffneten Gräbern, die allesamt einer historischen Untersuchung bedurften, daß an neuerliche Grabungen zumindest vorläufig überhaupt nicht zu denken war. Auf steinigem Pfad wanderten Brugsch und Auad das Tal von el-Kurna in westlicher Richtung entlang, vorbei an Felseninschriften und Weiheinschriften, die an die Götter Thebens und des Totenreiches gerichtet waren, zum Biban el-Harim, dem Tal der Königinnen.

»Wie viel Gräber hast du im Biban el-Harim aufgezeichnet, Effendi?« fragte Auad, während sie sich bei brennende Nachmittagshitze durch das öde, aller Vegetation beraubte Tal quälten.

»Nach meinen Unterlagen sind es neunzehn«, sagte Brugsch, »neunzehn mehr oder minder zerstörte Gräber von Königinnen und Prinzessinnen der 18. bis 20. Dynastie.« Stolz meinte Auad: »Dann werden wir heute das zwanzigste aufsuchen.«

Es lag am westlichen Ende des Tales. »Hier«, sagte Auad und deutete auf einen Trichter im Geröll. Mit bloßen Händen räumte er den Schutt beiseite, der jedoch immer wieder nachfiel; endlich klaffte ein Loch im Boden, gerade so groß, daß ein Mann sich hindurchzwängen konnte. Brugsch zündete eine Kerze an, nahm das Licht in die linke, sein Kopienbuch in die rechte Hand, mit dem Bleistift im Mund kroch er auf allen vieren in das Innere.

Nach ein paar Metern öffnete sich der Kriechgang zu einem hohen Korridor, der es erlaubte, aufrecht zu gehen. Die Luft war stickig, von süßlichem Mumienduft erfüllt, den der Forscher von anderen Grüften her kannte. Meterlange Spinnweben hingen von der Decke, sie schienen schwer und undurchdringbar. Aber wenn Brugsch seine Kerze darunterhielt, prasselten sie für Sekunden wie ein Feuerwerk und lösten sich in nichts auf. Die kurzen Augenblicke der Helligkeit benutzte der Forscher, um sich zu orientieren. Fledermäuse flatterten, vom Licht geblendet, auf, und die Kerze drohte jeden Augenblick durch ihren Flügelschlag zu verlöschen. Es war das bisher besterhaltene Grab. Bunte Reliefs und Schriften bedeckten den langen, in den Kalkfelsen gegrabenen Korridor. Schleifspuren im Staub verrieten, daß sie nicht die ersten Eindringlinge waren: Die vermauerte Tür am Ende des Ganges war aufgebrochen. Heinrich Brugsch gab Auad die Kerze in die Hand, damit er sie hochhielt. Im Kerzenschein erkannte Brugsch am Eingang die Hieroglyphe der Mat, der Wahrheit, an der gegenüberliegenden Wand stand eine Königin vor Ptah, dem Schöpfergott, vor Amset und Isis. Darüber eine Inschrift. Stockend, immer wieder von neuem beginnend, las Brugsch das 3000 Jahre alte Totengebet für eine Königin: »Möge Amun-Ra die Königstochter des Totengottes Osiris, die Schwester eines Königs, die Mutter eines Königs, die große Königin und Herrin beider Länder, Ti-ti, die gestorben ist, . mit seiner Liebe beschenken . . .« Mit geschickten Strichen kritzelte der Forscher die Hie -roglyphen in sein Kopienbuch. Darin waren bereits Inschriften aus 13 anderen Gräbern aufgezeichnet'. Sechs der untersuchten Gräber trugen keine Inschriften, sie waren möglicherweise abgesplittert oder zerstört. Zwei waren unvollendet und hatten wohl nie als Begräbnisstätte gedient. Im Grab Nr. 2 fand Brugsch einen zerschlagenen Sarkophag der »großen königlichen Mutter und Herrin beider Länder Isis« - wie sich später herausstellte, gehörte er der Mutter Ram-ses' VI. In Grab Nr. 4 hatte man laut Inschriften den fünften Sohn Ramses' III. beerdigt. Die Gräber 7,11 und 13 dienten verschiedenen Prinzessinnen als letzte Ruhestätte. Brugsch identifizierte das Grab der Prinzessin Bentanta, einer Tochter des großen Ramses, die dieser, weil sie so schön war, kaum 16jährig zur Frau genommen hatte. Rätselhaft blieb für den Forscher das Grab der Königin Tentopet. Alle Hieroglyphen zwischen dem Titel »Königin« und ihrem Namen waren regelmäßig ausgemeißelt, in der Seitenkammer fehlten sogar der Name und die Bezeichnung Königin und in der untersten Kammer des Grabes war auch der Name Tentopet übertüncht und ihr Königstitel verändert. »Wer war die Arme«, hatte Brugsch in sein Kopienbuch notiert, »deren Andenken in dieser Weise und so absichtlich verlöscht werden sollte, und was hatte sie begangen, um diesen Schimpf zu verdienen?«

Drei Stunden hielten sie sich nun schon im zwanzigsten Grab auf. Sie sprachen kaum ein Wort; denn jeder Satz forderte Sauerstoff, und der war knapp. Brugsch lag und kopierte, und Auad war in der Hauptsache damit beschäftigt, Hunderte von Fledermäusen abzuwehren. Er vertrug die stickige Hitze im Grab besser als der Deutsche. Brugsch klebten die Kleider am Leib, er wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß vom Gesicht. »Nur diese eine Inschrift noch!« sagte er zu Auad. Der nickte.

Die tief stehende Sonne traf sie schmerzend, als sie erschöpft ans Tageslicht krochen. Dunst stieg vom Nil wie heiles Gewölk auf, schwarze Büffel-, Schaf- und Ziegenherden kehrten von den Flußweiden heim, Kamele trabten den Häusern zu, Esel erklommen mit schwerer Last die Pfade zu den Gräberwohnungen, aus denen der Rauch zum Himmel stieg. »Effendi«, sagte Auad, »bist du zufrieden mit dem heutigen Tag?«

»Ja«, erwiderte der Doktor und schmunzelte, »ich bin mit jedem Tag zufrieden; denn jeder Tag ist für mich ein kleines Mosaiksteinchen in einem riesengroßen Bild.« »Wer war Ti-ti«, fragte Auad.

»So genau kann ich das nicht sagen«, meinte Brugsch. »Sie war eine Königin, die Gemahlin irgendeines Ramses.« »Irgendeines?«

»Ja. Es gab vermutlich ein ganzes Dutzend Pharaonen, die diesen Namen trugen. Aber das ist vorläufig nur eine Vermutung.«

»Und wann wirst du es genau wissen?« Heinrich Brugsch lachte schallend. Er zeigte mit ausgestrecktem Arm auf die Felsenwände von Der el-Bahari: »Dahinter - im Tal der Könige, liegt das Geheimnis begraben. Es würde mich wundern, wenn man in diesem Tal nicht alle Ra-messiden bestattet hätte.« »Ein ganzes Dutzend?« »Ein ganzes Dutzend.«

»Aber alle Gräber sind gefunden, Effendi. Die Männer von el-Kurna suchen seit 50 Jahren. Sogar die Felsenwände haben sie abgeklopft.«

Während sich die beiden unterhielten, gesellte sich ein etwa vierzehnjähriger Junge zu ihnen. Obwohl er von der Unterhaltung nichts verstand, begriff er schnell, daß ihr Gespräch um das Tal der Könige ging. Jeder hier im Tal kannte inzwischen den Doktor, und ihr anfängliches Mißtrauen hatte sich längst in wortreiche Sympathie gewandelt. Für hundert Piaster erbot sich der Junge, Brugsch zu einer Stelle im Tal der Könige zu führen, unter der ein Pharaonengrab zu vermuten sei. Aber dieses Ansinnen ging gegen Auads Ehre, schließlich sei er der Führer des Effendi, er jagte den Halbwüchsigen davon.

Ob er den Jungen gekannt habe, erkundigte sich Brugsch. Und ob er ihn kenne! Er heiße Achmed Abd er-Rassul und Stamme aus einer alten Grabräuber-Familie, der schlimmsten von ganz el-Kurna. Der Vater, der Großvater, sogar der Urgroßvater sei schon Grabräuber gewesen. Heute seien die Abd er-Rassuls die reichste Familie des Dorfes. Reichtum wurde in Kamelen oder in Pferden gemessen.

Mit fünf bis zehn Kamelen zählte eine Familie noch zu den Armen, 30 bis 40 zeichneten den gehobenen Mittelstand aus. Wer mehr als 60 Tiere sein eigen nannte, galt als reich. Ein Scheich besaß ein paar hundert Kamele. Nach außen hin sah man kaum einen Unterschied zwischen einem armen Fellachen und einem reichen Scheich. Jeder trug das gleiche schlichte lange Gewand, aß nicht mehr und nicht besser als der andere; kam aber ein Fremder und nahm die Gastfreund Schaft in Anspruch, so wurden Standesunterschiede schnell deutlich. Dann warfen sich Ehefrauen und Töchter des Scheichs in kostbar bestickte Kleider, und gespeicherte Vorrate brachten die niedrigen Tische fast zum Biegen. Düfte von ungesäuertem Fladenbrot, über einer Glut aus Kameldüng gebacken und mit triefender Butter bestrichen, zogen durch das Haus. Den Gast erwartete ein am offenen Feuer gegrilltes Lamm, dessen Innereien separat in Kamelmilch gedünstet und in einer sauer geronnenen Soße serviert wurden, in die man Brocken des Fladenbrotes eintauchte. Als besonders vornehm galt es, statt Fladenbrot Reis zu reichen, der im möglichst viel zerlassener Butter schwamm. Butter war im Gegensatz zu Fleisch keineswegs Luxus. Die Frauen stellten sie täglich frisch her, indem sie die Schaf- oder Ziegenmilch frühmorgens nach dem Melken in Schläuche aus Ziegenleder gössen und zwei Stunden in der Luft herumwirbelten, Auch Auads Frau tat dies.

Er spuckte auf den Boden. Nein, mit den Abd er-Rassuls wolle er, Auad, nichts zu tun haben. Brugsch nickte verständnisvoll, trotzdem notierte er in sein Kopienbuch den Namen Achmed Abd er-Rassul. Vielleicht, dachte er, sollte man diesem Abd er-Rassul doch einmal hundert Piaster zukommen lassen. Er konnte sich tausehen, aber manchmal wurde er den Verdacht nicht los, die Fellachen verrichteten gegen den üblichen Lohn zwar alle Arbeiten, die man ihnen auftrug, sie buddelten und wühlten den lieben langen Tag. Aber mitunter kam es ihm so vor, als wühlten sie zielsicher an interessanten Dingen vorbei. Später wurden dann »zufällig« Grabeingänge oder Schätze an den Stellen gefunden, die Brugsch bereits untersucht hatte. War es Zufall, daß sich in letzter Zeit solche Funde häuften, die Aga Ayat den Fellachen für gutes Geld abkaufte?

Das Geschrei des alten Auad klang aufgeregt und beinahe wie eine Kriegsmeldung: »Effendi, die Engländer kommen!« Heinrich Brugsch trat vor die Tür, wo Auad nach Luft rang und mit beiden Armen ins Tal deutete. Zwei Männer in Knik-kerbockern mit Tropenhelm auf dem Kopf, gefolgt von einem Trupp Fellachen mit Grabungswerkzeugen, marschierten geradewegs auf el-Kurna zu. »Wer ist das?« erkundigte sich Brugsch. »Engländer, Effendi! Sie haben beinahe hundert Arbeiter angeworben, sie zahlen gut. Aber Auad bleibt dir treu, Ef-fendi.«

Brugsch verfolgte von seinem erhöhten Standort, wie die beiden Engländer ihren Ausgräbertrupp in fünf Gruppen aufteilten. Sie gestikulierten wild und zeigten in alle vier Himmelsrichtungen, schließlich setzte sich eine Gruppe in Richtung Assasif in Bewegung, eine zweite westlich nach Kurnet Murai, eine dritte marschierte nach Dra abu el-Naga und die vierte schien über die Felsen ins Tal der Könige zu wollen, während der verbleibende Rest mit dem Anführer an der Spitze geradewegs auf el-Kurna und Brugschs Behausung zuging.

»Komm«, sagte Brugsch, setzte seinen Sonnenhut auf den Kopf und zog Auad mit sich den steilen Trampelpfad hinab. Am Ortseingang von el-Kurna, dort, wo der felsige Hügel in eine flache Landschaft übergeht, trafen sie aufeinander: Heinrich Brugsch und Alexander Rhind. Brugsch war erregt. Erfragte den Fremden, mit welchem Recht er das ganze Tal in Beschlag nehme. Doch der Brite konfrontierte ihn gelassen mit einem Firman des Kairoer Außenministeriums - eine Grabungslizenz für ganz Ägypten. Er sei Alexander Rhind, kein Engländer, sondern Schotte, Rechtsanwalt, eigentlich aus Gesundheitsgründen hier, die Lunge, Sie verstehen, aber warum solle man nicht das Notwendige mit dem Interessanten verbinden. »Und was hat Sie hierher verschlagen?« Brugsch, dem sein Auftritt peinlich war, wurde verlegen. Er erklärte, er sei ein preußischer Forscher und beschäftige sich schon seit ein paar Jahren mit der Übersetzung von Inschriften, besitze aber keine Grabungslizenz, er habe auch kein Geld, so viele Arbeitskräfte zu bezahlen. Der Schotte, gerade zwanzigjährig, zeigte sich begeistert, einen Schriftgelehrten in seiner Nähe zu wissen, man würde sich sicher gut verstehen. Er stellte Mr. Wenham vor, seinen Assistenten, und Ali, seinen Diener, und erzählte, daß er so lange auf seinem Schiff wohnen wolle, bis sein Quartier errichtet sei, das Haus, in dem schon Sir Gardiner Wilkinson und Henry Salt gewohnt hätten, ob er es kenne. Natürlich kenne er es, erwiderte Brugsch und zeigte auf einen aus rötlichen Nilschlammziegeln errichteten, mit einer hohen Mauer umgebenen Komplex. Richard Lepsius habe während der preußischen Expedition vor zehn Jahren ebenfalls dort logiert. Es gehöre der Regierung. »Man hat es mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt«, sagte der Schotte.

Heinrich Brugsch saß an diesem Abend allein in seinem Grab vor einer Kerze und brütete über Hieroglyphen und demotischen Abschriften; aber so recht konzentrieren konnte er sich nicht; er fühlte sich allein gelassen. Wie sollte er, Dr. Heinrich Brugsch aus Berlin, mit 1500 Thalern Jahressalär, von dem auch noch eine Frau in der Heimat leben mußte, die Geschichte des Pharaonenreiches wiederentdek-ken?

Argwöhnisch verfolgte er täglich die Bemühungen des Schotten, und er war nicht gerade traurig, daß sie trotz des großen Aufwandes erfolglos zu verlaufen schienen - sieben Wochen lang jedenfalls. Dann aber kam Bewegung in die Grabungen am Fuße des Dorfes. Spuren künstlicher Bearbeitung im Felsengestein hatten Alexander Rhind zu einem vermauerten unterirdischen Steinportal geführt, das mit dem Namensring Amenophis' III. versiegelt war. Rhinds Assistent stemmte ein meterdickes Loch in das Ge-maüer. Kerzen wurden gebracht. Rhind schickte Wenham voraus, reichte zwei brennende Lichter durch die Öffnung, dann schwang er sich selbst durch das Loch. Ein langer finsterer mannshoher Korridor tat sich auf, schmucklos, ohne Reliefs oder Malereien an den Wänden, aber mitten im Gang Stand ein vielbeiniger Totenbaldachin aus Holz, eine Art Tisch mit aufstülpbarem Gehäuse - offenbar zur Aufbewahrung von Toten. Der Tisch war leer, und Rhind und Wen-ham drückten sich daran vorbei, an die Wand gelehnt entdeckten sie zwei meterhohe Krüge und dazwischen eine kleine Figurengruppe, ein knieendes Paar. Über Knochen, Steinbrocken und allerlei Gerumpel arbeiteten sich die beiden 20 Meter weiter vor, bis ihnen eine schwere Holztüre den Weg versperrte. Rhind warf sich erfolglos dagegen. Und da es bereits Abend geworden war, beschlossen beide, ihre Untersuchung erst am nächsten Tag fortzusetzen.

Als Rhind und Wenham aus dem Mauerloch hervorkrochen, wurden sie mit Jubel begrüßt. Rhind versuchte, die Fellachen zu beschwichtigen, man wisse überhaupt noch nicht, ob größere Schätze zu erwarten seien. Aber die Leute waren nicht so schnell zu beruhigen. Von Mißtrauen geplagt, ließ Rhind die nubischen Matrosen von seinem Boot kommen und teilte eine Nachtschicht ein. Er selbst fand in dieser Nacht keinen Schlaf und kontrollierte zweimal die Wachmannschaften.

Kurz nach Sonnenaufgang stiegen Alexander Rhind und sein Assistent erneut in das Grab. Das Aufbrechen der Tür bereitete keine Schwierigkeiten, dahinter führte der Gang steil nach unten. Hinter einer Seitenkammer, die ein Bild der Verwüstung bot, wurden die beiden von einem senkrechten Schacht aufgehalten. Rhind versuchte, mit einer Kerze hinabzuleuchten, doch er konnte nichts erkennen; deshalb forderte er von draußen einen Balken und ein Seil an. Damit sollte Wenham sich abseilen. Das Manöver gelang: Sieben Meter tief landete der Assistent im zentimetertiefen Staub. »Was sehen Sie, Wenham?« rief Rhind von oben und lauschte in die Tiefe. »Vier Gänge, nach allen vier Seiten!« »Wo führen sie hin?«

»Ich weiß nicht. Da steht etwas . .. Und da ...«

»Wenham! Was ist los? - Wenham!«

Der Schotte lauschte in die Tiefe - nichts. »Wenham, um

Gottes willen, was ist passiert?« Sekunden verharrte Rhind wie versteinert, befürchtete, sein Assistent sei abgestürzt dann aber hörte er Schritte, die sich näherten: »Weeen-haaam!«

»Chef!« hörte er die Stimme seines Assistenten, er war atemlos. »Hier unten stehen lauter Sarkophage mit Mumien.« »Wie viele?«

»Ich weiß nicht, Chef. Es sind mehrere Kammern.«

»Sind die Sarkophage aufgebrochen?«

»Soweit ich es erkennen kann, nicht!«

Da hielt es den jungen Schotten nicht mehr, er riß sich die

Kleider vom Leib und nackt seilte er sich in den Schacht ab.

Man sprach französisch, denn zwei von ihnen waren ohnehin Franzosen und der dritte zumindest ein halber: Ferdinand de Lesseps, Auguste Mariette und Said Pascha. Der orientalische Aufwand des neuen Khedivenpalastes am Nil war weit weniger pompös als der des Vorgängers. Der neue Herrscher war mehr Soldat. Man schrieb November 1857, und das Problem war ein diplomatisches.

Warum ich Sie hierher gebeten habe«, der Pascha ging mit auf dem Rücken verschränkten Armen im Audienzsaal auf und ab, »Seine Hoheit Prinz Napoleon, ein Vetter seiner kaiserlichen Hoheit Napoleons III., hat den Wunsch geäußert, mein Land zu besuchen. Mir und meinem Volk ist das eine große Ehre. Prinz Napoleon ist, wie man hört, ein Bewunderer unserer frühen Kultur und . . .« »... ich glaube«, fuhr Lesseps fort, »wir könnten uns keinen würdigeren und kenntnisreicheren Führer vorstellen als Sie, Mariette. Sie hatten die Freundlichkeit, mich durch den unterirdischen Serapis-Tempel zu führen, und ich muß sagen, ich war begeistert.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, sagte der Pascha: »Ich habe mir vorgestellt, Sie beginnen sofort damit, neue unbekannte Denkmäler freizulegen, die bis zum Eintreffen seiner Hoheit niemand zu Gesicht bekommt. Ich erwarte, daß Sie Wertvolle Funde bereithalten, die dem Prinzen als Andenken an seine ägyptische Reise zugedacht werden können. Sehen Sie irgendwelche Schwierigkeiten?« Mariette war überrascht. Da hatte er nun sieben Jahre unter größten Schwierigkeiten und stets ein wenig am Rande der Legalität gearbeitet, er hatte die Behörden mit allen nur erdenkbaren Tricks an der Nase herumgeführt, geheuchelt, gelogen und betrogen, und nun, auf einmal, sollte das alles auf allerhöchsten Befehl im Einklang mit den Gesetzen vonstatten gehen? Und nur weil Prinz Plonplon, so nannte man Napoleon, seinen Besuch angekündigt hatte? Mariette verstand die Welt nicht mehr.

»Sehen Sie irgendwelche Schwierigkeiten?« wiederholte der Pascha seine Frage.

»Schwierigkeiten? Nein, keine Schwierigkeiten. Das ist alles nur eine Frage des Geldes. Der Boden Ihres Landes hält noch immer mehr Schätze verborgen, als bisher freigelegt wurden. Mit den nötigen Mitteln, den erforderlichen Arbeitskräften und den entsprechenden Vollmachten wühle ich

Ihnen die gesamte frühe Kultur Ihres Landes an die Oberfläche.«

»Wo wollen Sie denn beginnen?« erkundigte sich der Pascha, »ich meine, wo versprechen Sie sich die meisten Erfolge?«

»Ach, Hoheit«, seufzte Mariette, »dieses Land ist so mit Schätzen gesegnet, daß es kaum eine Stelle gibt, an der nicht mit Zeugnissen aus der Vergangenheit gerechnet werden kann. Freilich, nicht überall stoßen wir auf die Hinterlassenschaft eines Königs.«

Ein König, meinte der Pascha, wäre für den Prinzen natürlich angemessener als irgendein anderer Fund. Ob er nicht vielleicht in der Lage sei, einen zu finden? Lesseps nickte zustimmend. Mariette lachte, sagte, am vielversprechendsten seien vielleicht Grabungen im Tal der Könige, sein Freund Heinrich Brugsch, ein Preuße, sei überzeugt, daß dort noch weitere Pharaonen begraben lägen. Ihm hätten jedoch bisher die Mittel sowie eine Konzession gefehlt, größere Suchgrabungen in Angriff zu nehmen.

»Dann holen Sie sich doch diesen Brugsch!« sagte Said Pascha, »ich übernehme alle Kosten des Unternehmens, außerdem steht Ihnen der Dampfer >Samanoud< aus meiner Flotte zur Verfügung, und wir werden für die Sicherheit der Monumente garantieren. Sie werden die Mudirs aller Provinzen davon in Kenntnis setzen, daß ich ihnen verbiete, auch nur einen Stein aus dem Altertum anzurühren. Sie werden jeden Fellachen verhaften, der einen Tempel betritt.« Said klatschte in die Hände. Der Schreiber erschien und zeichnete einen entsprechenden Firman auf, und Lesseps beglückwünschte seinen Landsmann. Langsam, ganz allmählich, rückte die gesamte Tragweite dieses Beschlusses in dessen Bewußtsein: Das ganze alte Ägypten lag Mariette zu Füßen.

Die beiden Franzosen verabschiedeten sich gemeinsam. »Ich hoffe nur«, sagte Lesseps auf dem Weg zum Portal, »Sie geraten nicht ebenso wie ich zwischen die politischen Machtblöcke,«

»Monsieur«, entrüstete sich der Ausgräber, »ich grabe nicht für Frankreich, schon gar nicht für England oder Preußen: Mein Interesse gilt der jahrtausendealten Kultur dieses Landes!«

Ferdinand de Lesseps blieb stehen. »Das glaube ich Ihnen, mein Freund, ich habe mein Kanalprojekt anfangs auch als eine internationale Angelegenheit betrachtet, und jetzt schlagen sich Engländer und Franzosen darum. Dabei würden die Engländer von dem Kanal am meisten profitieren. 2719 englische Schiffe fuhren in einem einzigen Jahr um das Kap der Guten Hoffnung, und wissen Sie, wie viele Schiffe unter der Flagge Frankreichs das Kap umrundeten? - 444! Trotzdem versucht Premierminister Palmerston alles, um den Kanalbau zu verhindern. Er setzt den türkischen Sultan unter Druck, und der wiederum pfeift Said Pascha zurück.« »Ich hörte, die Bauarbeiten hätten bereits begonnen?« Lesseps machte eine resignierende Handbewegung. »Wir sind eben erst dabei, von Zagazig am östlichen Nilarm einen Süßwasserkanal zum Timsah-See auszuschachten, nur einen bis eineinhalb Meter tief, aber hundert Kilometer lang; damit wir Trinkwasser für die Arbeiter in der Wüste gewinnen.«

»Mit wieviel Arbeitskräften rechnen Sie?« .»Said Pascha stellt 25000 leibeigene Fellachen zur Verfügung.«

»Seit dem Bau der Pyramiden gab es kein solches Bauprojekt mehr«, staunte Mariette.

Lesseps lachte: »Wenn Sie etwas erreichen wollen, dann müssen Sie mit hohem Einsatz arbeiten!« Die Worte klangen in Mariettes Ohren wie eine Aufforderung: Wollte er etwas erreichen, dann mußte auch er mit größtmöglichem Aufwand arbeiten. Er mußte an verschiedenen Stellen graben, viele hundert Arbeitskräfte anwerben, moderne technische Geräte einsetzen, vielleicht den Dampfpflug, den man soeben in England erfunden hatte. Natürlich war das alles eine Kostenfrage; aber nun, mit der Vollmacht des Paschas, war die Gelegenheit günstig wie nie zuvor. Ich werde es schaffen, schoß es durch sein Gehirn, ich werde die ägyptische Kultur wieder ans Tageslicht holen!

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