XI. Das Geheimnis von Tell el-Amarna

»Ach, Ihr habt wohl schon gedacht, der alte Brugsch hat die Schaufel aus der Hand gelegt«, sagte der Berliner pfiffig. »Nee, nee, nicht ohne noch ein letztes Mal meine zweite Heimat bereist zu haben. Ich habe hier ein Vierteljahrhundert in den verschiedensten Lebenslagen gelebt, das kann man nicht so einfach vergessen . . .«


Die Wüstenebene von Teil el-Amarna, 250 Kilometer südlich von Kairo, war schon immer so steinig, staubig und abstoßend unwohnlich, daß selbst die Altertumsforscher einen weiten Bogen um sie machten. Und das, obwohl Felsengräber am Rand der Ebene und gelegentliche Funde auf eine ruhmreiche Vergangenheit hinwiesen. Aber die Gräber wurden schon vor Jahrhunderten ausgeraubt, und Skarabäen und Statuetten kamen auch an weniger abweisenden Orten nahe der Zivilisation ans Tageslicht. Doch dann geschah eines Tages für die Einwohner der Stadt Der Mauas das Unglaubliche: Der Zug von Kairo hielt in dem kleinen verkommenen Bahnhof, und Engländer luden Blechkoffer, Reisekisten, Werkzeuge und Lebensmittel aus und charterten ein Schiff zum Ostufer des Nils. Unterwegs warben sie Arbeitskräfte an, und die Fellachen rissen sich um einen Arbeitsplatz; denn der englische Anführer, Flinders Petrie, zahlte zehn Piaster am Tag - die meisten hätten sich auch für zwei Piaster verdingt.

Petrie, der seinen ersten Grabungsauftrag im Nildelta ausgeführt hatte, wurde nun vom Egypt Exploration Fund mit zwei Assistenten nach Teil el-Amarna geschickt, um zu erforschen, welche Geheimnisse dieser Hügel berge. Genaugenommen verdankte er diesen Auftrag Wallis Budge. Budge hatte seine 82 Tontafeln mit nach Mesopotamien genommen, sie von dort im Gepäck eines indischen Fürsten auf ein englisches Schiff geschmuggelt und schließlich wohlbehalten nach England gebracht, wo sie dem Britischen Museum zu hohem Ansehen verhalfen; denn in Berlin, wo sogar 200 Tafeln angelangt waren, hatten die Schriftgelehrten inzwischen die Keilschrift-Texte übersetzt und eine erstaunliche Entdeckung gemacht: Bei den Täfelchen handelte es sich um die außenpolitische Korrespondenz der Pharaonen mit den Königen Vorderasiens. Mit einemmal galt die Wüstenebene, in der die Bäuerin jene Tafeln ausgegraben hatte, als vielversprechendes Grabungsgebiet.

Die ersten Tage verbrachten Petrie und seine Ausgräber damit, Steine und Ziegel zusammenzutragen, aus denen sie primitive Hütten bauten, die sie mit Nilschilf abdeckten. »Effendi! Effendi, look!« Der Vorarbeiter hielt Petrie eine aus Gips gepreßte Totenmaske unter die Nase. »Ich habe Lehmziegel aufgehoben«, berichtete er voll Stolz, »und da lag sie im Sand.«

Flinders Petrie begutachtete den Fund von allen Seiten. Das Gesicht kam ihm bekannt vor. War es nicht jener rätselhafte Pharao Echnaton, der vielerorts in Ägypten seine Spuren hinterlassen hatte, dessen ausgeraubtes Grab man am Randgebirge entdeckt zu haben glaubte und über den man doch so wenig, fast gar nichts wußte. »Wo hast du das gefunden? Zeig mir die Stelle!« sagte Petrie. Der Vorarbeiter führte den Forscher zu einer langen Mauer, fraglos die Begrenzung einer größeren Palastanlage. Nur einen Steinwurf entfernt waren die Keilschrift-Tafeln ans Tageslicht gekommen.

»Hier fangen wir an!« sagte Petrie und setzte einen Fuß besitzergreifend auf die Mauer. »Aber vorsichtig, das alles sind nur ungebrannte Nilschlammziegel, die keiner Spitzhacke standhalten!«

Was so erfolgreich begonnen hatte, erwies sich in den folgenden Tagen dann doch als Fehlanzeige. Petrie predigte seinen Arbeitern, sie sollten alle Scherben, jede Kleinigkeit, aufheben und in Körben sammeln. Die Fellachen befolgten es widerwillig, weil sie den Sinn dieser Arbeit nicht einsahen. Schließlich war Petrie der erste, der so vorging. Weder Franzosen, noch Deutsche hatten bei ihren Ausgrabungen bisher auf Tonscherben Wert gelegt. Inschriften und Bruchstücke von Skulpturen - ja, aber keine Tonscherben. Davon gab es im Niltal ohnehin viel zuviele.

Petries Überlegungen gingen dahin, daß Scherben Relikte einer Kulturepoche sind und daß ein und dieselbe Stelle oft von mehreren Kulturschichten überlagert ist. Scherben, die vom Material wie von der Bearbeitung gewisse stilistische Eigenarten aufwiesen, lieferten also bei entsprechender Sortierung interessante Hinweise. Allein die Menge der verschie -denen Tonscherben ließ Schlüsse zu: Eine größere Anzahl deutete auf eine längere Epoche hin, gab es nur wenig Scherben, so dauerte dieser Zeitabschnitt vermutlich nicht so lange.

Nach einer Woche Grabungsarbeit hatte Flinders Petrie in Teil el-Amarna nur Scherben gefunden, Scherben, auf denen er beim Sortieren jedoch zahlreiche Jahresangaben entdeckte. »Im fünften Jahr der Regierung des Pharao«, hieß es da zum Beispiel. Dabei handelte es sich offensichtlich um zu Bruch gegangene Vorratskrüge. Eines fiel sofort auf: Die Zahlenangaben bewegten sich allesamt zwischen eins und siebzehn. Es schien, als hätte dieser rätselhafte Pharao nur siebzehn Jahre regiert.

Mitten in der Arbeit hörte Flinders Petrie die jugendliche Stimme eines Engländers hinter sich: »Entschuldigen Sie, Sir!« Als sich Petrie umdrehte, stand vor ihm ein hochaufgeschossener junger Mann, der in der linken Hand ein Bündel mit Habseligkeiten, in der rechten ein paar Zeichenblöcke trug. »Ich komme auf Empfehlung von Lord Tyssen-Am-herst und möchte mich bei den Ausgrabungen des Egypt Exploration Fund nützlich machen.«

Petrie wischte sich den Staub von den Händen, ging einen Schritt auf den Jungen zu und sagte: »Erst mal willkommen in Amarna. Ich bin Flinders Petrie.« »Howard Carter!« stammelte der andere und machte den linkischen Versuch einer Verbeugung.

»So, so, Tyssen-Amherst schickt dich, ein großer Förderer unserer Kunst. Du kennst ihn?«

»Flüchtig«, antwortete Howard. »Daß ich hier vor Ihnen stehe, verdanke ich eigentlich seiner Frau. Ich begegnete Lady Amherst in Didlington. Dort habe ich gemalt. Sie meinte, ich könne mich beim Abzeichnen von Reliefs und Schriften nützlich machen.«

Petrie knurrte irgend etwas von Unverständnis und dummem Weibergeschwätz. Der Junge beeilte sich hinzuzufügen, daß der Lord ihn mit einer achtbaren Apanage ausgestattet habe, er werde dem Team also gewiß nicht auf der Tasche liegen.

»Und die Bedingungen?« fragte Petrie. »Seine Lordschaft knüpft an dieses Unternehmen doch gewisse Erwartungen.« Carter nickte und rückte nur zaghaft mit der Sprache heraus: »Ich soll für ihn graben . . .« »Ach, so ist das!« meinte Petrie, und aus seinen Worten klang nicht gerade Begeisterung. »Na ja, dann mach es dir mal bei uns bequem.« Er zeigte auf die zwei Ausgräberhäuser. Es ärgerte ihn, daß der Lord ihm einen Konkurrenten geschickt hatte, deshalb wies er Carter als erste Aufgabe ein Grabungsareal an der Außenmauer zu, dessen Erde er mit seinen Leuten bereits ohne großen Erfolg durchsiebt hatte. Der junge Howard Carter war zurückhaltend, schüchtern und redete nur, wenn er gefragt wurde. Mutterseelenallein schaufelte er an der ihm zugewiesenen Stelle. Petrie schämte sich vor seinen beiden Assistenten Haworth und Kennard, die das unfaire Spiel durchschauten. Seine Hoffnung, noch weitere Keilschrifttafeln zu finden, erfüllte sich nicht; denn die Bewohner von El-Hagg Quandil hatten längst das gesamt Areal umgegraben. Es gab keine weiteren Tafeln. Dafür stieß Petrie, der das Gelände des Palastes mit Suchgräben durchzogen hatte, auf einen prachtvollen Fußboden. Wasservögel, auf geglätteten Gips gemalt, huschten durch das Nilschilf, stelzten zwischen exotischen

Blumen, farbenfroh wie am ersten Tag. »Kennard«, sagte Petrie und verschränkte zufrieden die Arme über der Brust, »holen Sie mir den jungen Carter!« Als Carter kam, hielt er dem Forscher eine kleine Plastik entgegen. Und als der Junge den fragenden Blick des Meisters sah, zeigte er zu der Palastmauer, dort habe er die Statue gefunden, keinen halben Meter unter der Oberfläche. »Eine Königin«, murmelte Petrie und tippte auf die Königinnenhaube der weiblichen Figur. »Kommt so mir nichts dir nichts daher und gräbt eine Königinnenstatue aus.« »Es gibt noch mehr davon«, sagte Howard, »aber alles nur Bruchstücke. Leider.«

Als sie an diesem Abend um den rauhgezimmerten Tisch in der Hütte saßen, begrub Petrie seine persönlichen Aversionen; denn er wußte, daß er in Howard einen begabten, vor allem aber verbissenen Ausgräber vor sich hatte. Und Carter bewunderte seinen Lehrmeister vorbehaltlos. Gemeinsam gruben sie eine Wintersaison. Petries Bemühungen galten vor allem der Architektur des Ortes. Für konkrete Grabungen war das Gelände einfach zu weiträumig, deshalb beschränkte er sich darauf, mit Hilfe von Suchgräben Umfang und Größe der einzelnen Bauwerke festzustellen. Carter zeichnete Grundrisse und vermaß die Gegend, wobei er oft 50 Kilometer am Tag zurücklegte. Nach wochenlanger Arbeit präsentierte Howard Carter voll Stolz den ersten Stadtplan von Teil el-Amarna, das vor dreitausend Jahren Achetaton hieß.

»Phantastisch!« rief Petrie aus. »Damit machst du deinem Namen alle Ehre. Du solltest die Pläne der Altertümerverwaltung nach Kairo schicken.« Ein Bote brachte die Mappe nach Der Mauas zur Post, aber Carter wartete vergeblich auf ein Anerkennungsschreiben. Da traf ein Brief aus London ein: Petrie und seine Mannschaft wurden vom Egypt Exploration Fund abberufen. Seine Anwesenheit sei in Luxor dringend erforderlich. Im Tal der Könige sei der Teufel los. Der

Ausgräber tobte wegen der unsinnigen Anordnung, die an irgendeinem Londoner Schreibtisch ausgeheckt worden war. Carter sah Flinders Petrie ratlos an. Der klopfte ihm auf die Schulter: »Howard, du kommst mit. Du gehörst doch zu uns.«

Während die beiden den Weg zu ihrer Behausung antraten, meinte Petrie: »Keine Angst, wir kommen hierher zurück. Ich lasse nicht eher locker, bis ich hinter das Geheimnis dieses Ortes gekommen bin.« »Geheimnis?« fragte Carter neugierig. »Ja. Dieser Ort birgt ein Geheimnis, das spüre ich. Wenn ich alle Ausgrabungen und Funde der letzten Wochen betrachte, dann kommt es mir vor, als hätten wir eine ganz eigenständige Kultur vor uns. Sie paßt so gar nicht in das Bild des alten Ägypten. Jedenfalls glaube ich nicht, daß der vierte Pharao mit dem Namen Amenophis nur fünf Jahre regierte und von diesem Echnaton abgelöst wurde.« »Aber die Scherbenfunde nennen doch alle dieses Datum!«

Petrie seufzte: »Gewiß. Aber könnte es nicht sein, daß Amenophis und Echnaton ein und dieselbe Person sind? Wäre es nicht denkbar, daß dieser Pharao aus einem ganz bestimmten Grund seinen Namen änderte?« »Und welchen Grund sollte er dafür gehabt haben?« »Das könnten zum Beispiel religiöse Gründe gewesen sein. Die römischen Päpste erhalten auch einen neuen Namen, wenn sie gewählt sind.« Carter nickte, und Petrie fuhr fort: »Amenophis bedeutet soviel wie: Amun ist gnädig. Echnaton hingegen läßt sich etwa so übersetzen: Der dem Aton wohlgefällig ist. Beide Gottheiten aber schließen einander aus. Amun war das Oberhaupt eines Vielgötterhimmels, Aton galt als der einzige Gott.. .«

»Sie meinen«, unterbrach Howard, »dieser Pharao hat den alten Götterglauben aufgegeben und sich einer neuen Religion zugewandt?«

Petrie zog die Schultern hoch. »Vorläufig ist das meine Theorie; aber die Altertumswissenschaft lebt von Theorien -jedenfalls vorläufig.«

An der Nillände in Luxor drängten sich die Schiffe, vornehme Yachten mit Sonnendeck und Badekabinen und malerische Dahabijas, Nilschiffe mit spitzen dreieckigen Segeln, die von dem britischen Reiseagenten Thomas Cook für 60 bis 100 Pfund pro Monat verchartert wurden. Wer es sich irgendwie leisten konnte, Forscher oder reisefreudige Millionäre - manche waren beides -, der kaufte sich einen solchen Nilsegler und ließ ihn zu einem komfortablen Hausboot umbauen, das nahe der Ausgrabungs- oder Vergnügungsstätte dümpelte.

Das schönste Hausboot, weiß und mit hohen Seitenfenstern, gehörte Henry Sayce. Im verglasten Heck war eine Fachbibliothek mit mehr als 2000 Bänden untergebracht. Auch Charles Wilbour wurde, beeindruckt von der Bequemlichkeit des britischen Kollegen, zum Schiffseigner. Jacques Jean de Morgan verfügte über einen Schnelldampfer mit Konferenz- und Arbeitsraum. Kapitän Canaque konnte den neuen Chef der ägyptischen Altertümer in drei Tagen von Unter- nach Oberägypten befördern. Die übrigen Dahabijas gehörten ausnahmslos Amerikanern. Inzwischen schien es, als habe Amerika Ägypten entdeckt. Den Anstoß dazu hatte eine Vortragsreise der unermüdlichen Amelia Edwards in den Vereinigten Staaten gegeben. Bei dieser Gelegenheit hatte die Lady auch eine amerikanische Sektion des Egypt Exploration Fund gegründet und ebenso einflußreiche, wie zahlungskräftige Mitglieder geworben.

Der Post-Steamer stieß dumpfe Heultöne aus, es gelang ihm nur mit Mühe, an der übervölkerten Anlegestelle festzumachen, wo Morgan bereits wartete. Verwirrt von soviel Hektik und Trubel, blickten Flinders Petrie und seine Begleiter hilfesuchend von der Reling.

Petrie stellte dem Chef seine beiden Assistenten Haworth und Kennard vor, und zuletzt Howard Carter. »Ein begabter junger Mann«, bemerkte Petrie, »er hat die Stadtpläne von Amarna gezeichnet. Sie haben sie doch erhalten?« Morgan verneinte, er wisse nichts von Amarna-Plänen. Jedenfalls seien diese Pläne nicht in Kairo eingetroffen. Petrie sah Carter an: »Entweder du hast einen Feind, der dir deine Leistungen neidet, oder Grabräuber sind auf unseren Spuren. Wenn die Pläne in die Hände von Grabräubern gelangen, dann ist die Stadt des vierten Amenophis für uns verloren!«

»Verloren? - Wieso verloren?« erkundigte sich Jacques de Morgan.

»Monsieur«, meinte Petrie mit einem spöttischen Unterton, »Mister Carter ist ein sehr gewissenhafter junger Mann. Er hat Achetaton nicht nur exakt vermessen, er hat in seine Pläne auch alle Gebäudeteile, die wir bisher geortet haben, und alle Fundstellen eingezeichnet. Die Gangster brauchen nur noch hinzugehen und zu graben.« Morgan überlegte kurz, dann sagte er: »Sie haben recht, Petrie, das Verschwinden der Pläne ist kein Zufall. Ich werde sofort nach Minia telegrafieren. Man muß eine Polizeistreife nach Amarna schicken. Diesen Gangstern werden wir die Suppe versalzen!« Im Gehen rief er einem seiner Begleiter zu: »Kümmern Sie sich um die Herren Engländer! Wir sehen uns alle heute abend an Bord.«

Die am Ufer vertäuten Schiffe waren bunt beleuchtet und zauberten ein festliches Glitzern in den nächtlichen Nil. Die Schwüle des Abends war einer kühlen Brise gewichen. Kapitän Canaque, der sich selbst gern Kommandant des Schiffes nannte, begrüßte die Gäste und geleitete sie zum holzgetäfelten Konferenzraum, in dem ein festliches Diner für über zwanzig Personen gedeckt war. Aus den offenen Luken der Kombüse zog der herbe Duft stark gewürzter Hammelkoteletts. Sayce, Wilbour und Budge hatten ihre Frauen mitgebracht - sie reisten nie ohne sie. Allgemeines Aufsehen erregte Marguerite, die junge Frau Edouard Navilles. Die Tochter eines Grafen de Pourtales war nicht nur außergewöhnlich hübsch, sie verstand auch viel von der Wissenschaft und plauderte klug und kenntnisreich. Im Gegensatz dazu war an der Konversation von Madame Budge die Lautstärke das einzige Bemerkenswerte. Flinders Petrie und Victor Lo-ret, die jüngsten Ausgräber der Runde, waren noch unverheiratet. Sie kamen in Begleitung ihrer Assistenten. Als letzter nahm Howard Carter am unteren Ende des langen Tisches Platz. Wie zufällig blieb der Stuhl zur Rechten Morgans frei. »Da kommt wohl noch jemand!« sagte Wallis Budge in seiner gewohnt trockenen Art, und Morgan antwortete schlagfertig: »Wenn ich mich in dieser erlauchten Runde so umblicke, dann fehlt noch der Größte!« Morgan erhob sich, ging zur Schwingtür und stieß sie auf. In der Tür stand Heinrich Brugsch - weißhaarig, alt geworden, ein wehmütiges Lächeln um die heruntergezogenen Mundwinkel. 65 Jahre eines aufreibenden Lebens hatten im Gesicht dieses Mannes deutliche Spuren hinterlassen. »Brugsch Pascha!« Ein Ruf des Erstaunens kam wie aus einem Mund.

»Ach, Ihr habt schon gedacht, der alte Brugsch hat die Schaufel aus der Hand gelegt«, sagte der Berliner. »Nee, nee, nicht ohne noch ein letztes Mal meine zweite Heimat bereist zu haben. Ich habe hier ein Vierteljahrhundert in den verschiedensten Lebenslagen gelebt, das kann man nicht so einfach vergessen. An seiner Heimat hängt man doch, auch wenn's nur die zweite ist!«

Die Überraschung war gelungen. Umringt von den jungen Kollegen, die ihm bewundernd die Hand schüttelten und freundschaftlich auf die Schultern klopften, geleiteten sie den großen alten Mann der Ägyptologie, dem der Vizekönig den Ehrentitel eines Paschas verliehen hatte, zu seinem Platz. Ein dunkelhäutiger Diener fragte, was er zu trinken wünsche.

»Roten Burgunder«, antwortete Heinrich Brugsch ohne zu überlegen und fügte schmunzelnd hinzu: »Ich weiß, daß alle französischen Ausgräber Burgunder im Reisegepäck haben!« Dann erzählte er von seiner ersten Begegnung mit Mariette und wie er mit ihm in einem der riesigen Stiersarkophage diniert und roten Burgunder getrunken habe. »So gut«, rief er aus und blickte in die Runde, »ging es uns damals nicht. Einen gedeckten Tisch und einen holzgetäfelten Konferenzraum bekamen wir oft ein halbes Jahr nicht zu Gesicht.«

Brugsch musterte jeden einzelnen am Tisch. Wen er kannte, zu dem sprach er ein paar freundliche Worte. Bei Wallis Budge konnte er sich den Hinweis nicht verkneifen, daß in Berlin mehr als doppelt so viele Keilschrift-Täfelchen aus Amarna zu bewundern seien wie in London. Budge konterte, er habe sich eben noch nie illegaler Methoden beim Erwerb von Kunstschätzen bedient, und erntete großes Gelächter.

Hinter vorgehaltener Hand, als sollte Morgan es nicht hören, sagte Brugsch: »Vielleicht können wir sogar ins Geschäft kommen. Ich reise nämlich nicht zu meinem Privatvergnügen. Die königlichen Museen Berlin haben meine Reise bezahlt, ich soll ein paar günstige Stücke erwerben. Ein alter Hochschullehrer kann sich teuere Reisen nicht mehr leisten.«

Die Anwesenden schüttelten ungläubig die Köpfe, jedes Kulturland der Erde würde sich glücklich schätzen, einen Forscher wie Heinrich Brugsch zum Ruhme der Nation arbeiten zu lassen.

»O weh«, kicherte Brugsch, »mit dem Ruhm des Vaterlandes ist es so eine Sache. Der liebste Ruhm ist dem Vaterland immer noch jener, der nichts kostet. Und so ziehe ich halt als Reiseprediger durchs deutsche Vaterland . . .« »Sie halten Vorträge?«

»Ich weiß sehr wohl, daß mancher Gelehrte den Kopf schüttelt über meinen Entschluß, die altägyptischen Geheimnisse vor profanen Augen zu enthüllen, und daß wohlbesoldete Priester der Weisheit sich über meine Wanderungen in ironischen Redensarten ergehen. Aber ich bin entgegengesetzter Meinung. Mir ist keine wissenschaftliche Erkenntnis zu hoch, um nicht in ihrer einfachen Gestalt, ohne gelehrte Verbrämung, auch von Uneingeweihten verstanden zu werden. Diese Vergangenheit«, Brugsch klopfte auf den Tisch, »ist unser aller Vergangenheit, die der Engländer, der Franzosen und der Deutschen, und jedermann hat das Recht, sie zu erfahren.« »Bravo!« rief Morgan, einige Männer klatschten, andere sahen betroffen vor sich hin.

»Aber«, meinte Brugsch, »all das ist das Geschwätz eines alten Mannes. Nun will ich von Euch Jungen hören, was hat der Boden Neues hergegeben? Was macht mein geliebtes Tal?«

Während das duftende Mahl aufgetragen wurde, berichtete Jacques de Morgan von den Grabungen im Tal der Könige. Naville und Loret würden an verschiedenen Stellen graben, aber die Sondierungen hätten bisher zu keinem Ergebnis geführt.

Der alte Brugsch schüttelte den Kopf: »Ist es nicht grotesk? Die größten Entdeckungen verdanken wir nicht unserer Forschungsarbeit, sondern dem Zufall.« »Die Grabräuber nicht zu vergessen!« warf Wilbour ein. Und Edouard Naville erklärte, ein Grabungsarbeiter, den er besonders ins Herz geschlossen habe, habe angedeutet, daß die Leute von el-Kurna einen neuen aufsehenerregenden Fund gemacht hätten. Näheres wüßte er selbst nicht zu berichten. Auch Budge erzählte, von dieser Entdeckung gehört zu haben. Er wisse aber nur, daß sie so umfangreich sei, daß es offenbar Schwierigkeiten bereite, sie auf dem schwarzen Markt zu veräußern.

»Wenn ich Ihnen da vielleicht behilflich sein kann«, meinte Brugsch an Morgan gewandt, »ich kenne die Leute von Kurna recht gut. Ich habe doch jahrelang mitten unter ihnen gelebt.« Der Direktor ging auf das Anerbieten gern ein, und sie verabredeten sich auf den frühen Morgen, noch bevor die Hitze derartige Exkursionen zur Qual machte.

Am nächsten Morgen erwartete Achmed Abd er-Rassul, der Hüter des Tales, Morgan und Brugsch am Fuße der Mem-non-Kolosse und begleitete die Besucher nach einer herzlichen Begrüßung den steinigen Weg hinauf nach Der el-Me-dina. Es gab viel zu erzählen. Voll Stolz zeigte Achmed hin-über nach Schech abd el-Kurna, wo sich ein neuerrichtetes weißes Gebäude von den übrigen deutlich abhob. »Mein Haus«, sagte Achmed, »schönstes Haus von Kurna.«

»Ja, wirklich«, meinte Morgan und fand lobende Worte über die Tüchtigkeit des Wächters. Brugsch musterte das Haus, wiegte den Kopf hin und her, und mit einem spöttischen Lächeln trat er ganz nahe an Achmed heran. »Du hast ein schönes Haus gebaut, Achmed, aber der Platz am Hang ist einer der schlechtesten in ganz Kurna.« Achmed hob verlegen die Schultern. Brugsch bohrte weiter: »Kein Fellache baut sein Haus an den Hang, wenn in der Ebene noch Platz ist. Wer schleppt schon freiwillig das Wasser den Hang hinauf.« Achmed sagte nichts. »Es sei denn«, fuhr der Deutsche fort, »der Bauplatz böte irgendwelche Vorteile.« »Man hat eine schöne Aussicht«, sagte Achmed treuherzig.

Brugsch lachte: »Es könnte natürlich auch sein, daß man so ein Haus nur deshalb an dieser Stelle errichtet, weil schon ein fertiges Kellergeschoß vorhanden ist, ein kunstvoll gebautes Grab zum Beispiel. ..«

Da hob der Alte die Arme zum Himmel: »Allah ist mein Zeuge. Erst während der Bauarbeiten habe ich gemerkt, daß sich unter dem Haus ein Grab befindet, und als ich es öffnete, war es leer, bei Allah!«

»Dann wollen wir uns dieses Grab doch einmal näher ansehen«, meinte Brugsch; aber Achmed fiel vor ihm auf die Knie, jammerte, man möge ihm diese Schmach ersparen, er würde sie nicht überleben, und seine drei Frauen und zwölf Kinder stünden dann ohne Ernährer da. Bei seiner rechten Hand schwor Achmed, daß dies der letzte Coup gewesen sei, nie mehr im Leben werde er eine Ausgrabung geheimhalten. Er würde sie auch zu jener Stelle führen, an der vor vier Wochen eine wunderbare Entdeckung gemacht wurde, ganz Kurna sei daran beteiligt; aber man möge ihn nicht anklagen.

Jacques de Morgan und Heinrich Brugsch sahen sich wortlos an. Schließlich meinte der Franzose: »Was ist das für ein Fund, von dem alle Leute reden?« Oberaufseher Achmed Abd er-Rassul machte ein Geständnis: »Monsieur, Sie können mich schlagen, aber da ist noch ein Grab . . .«

Der Direktor stutzte: »Ist es ein Pharaonengrab?« »Nein«, antwortete Achmed, »ich glaube, es handelt sich um ein Mumienversteck von Edelleuten oder Beamten, vielleicht sind es auch Priester. Aber das Grab ist zu groß, es sind einfach zu viele Mumien. Wir hätten es nie allein ausräumen können.«

»Wo?« fragte Brugsch.

Abd er-Rassul deutete auf ein kleines schwarzes Zelt, wie es die Ziegenhirten als Schutz vor der Sonne aufspannten. Es stand abseits auf einem Felsvorsprung von Der al-Bahari und fiel nicht weiter auf, denn man sah viele solcher Zelte m der Gegend. Oben angelangt, kappte Achmed das Seil, über das die Leinwand gezogen war. Das Zelt sank in sich zusammen und gab den Blick frei auf einen gemauerten unterirdischen Zugang. Der Oberaufseher ging voraus, die beiden Forscher hinterher. Im Innern entzündete er eine Kerze. Ein hoher, schmaler Gang öffnete sich mit einemmal zu einem großen Raum.

Brugsch hatte viel gesehen in seinem Leben, aber dieser Anblick verschlug ihm die Sprache: Aufgereiht wie in einer Klinik lagen da die Mumien von 153 Priestern, einige in pompösen Sarkophagen, andere in schlicht gezimmerten Holzsärgen, die meisten nur in ihrer Mumienverkleidung. Der Professor rang nach Luft.

Zurück im Sonnenlicht, sagte Brugsch zu Morgan: »Kein Zweifel, auch hier haben wir es mit einem nachträglich angelegten Mumienversteck zu tun. Aus Angst vor Grabräubern wurden die toten Priester hier zusammengetragen und, offenbar einbruchsicher, ein zweites Mal bestattet. Es würde mich nicht wundern, wenn auch die übrigen Pharaonen, die bisher noch verschollen sind, in einem solchen Versteck auftauchten.«

»Gut, Monsieur«, sagte Jacques de Morgan, »ich erteile Ihnen hiermit die Konzession, im Tal der Könige nach einem weiteren Pharaonenversteck zu suchen. Ich stelle Ihnen eine komplette Ausgräber-Mannschaft. Wenn Sie wollen, können Sie morgen anfangen . . .«

Brugsch brachte keinen Ton hervor, er bekam feuchte Augen und blickte hinauf zur Felsenspitze von Der el-Bahari, hinter der sich das Tal der Könige auftat. Und ohne auf den Franzosen einen Blick zu werfen, sagte er leise: »Nee, nee, lassen Sie mal, Herr Direktor. Es war der Traum meines Lebens, im Tal zu graben und das unberührte Grab eines Pharao zu entdecken; aber es war mir nicht vergönnt. So etwas muß ein Junger machen. Wissen Sie, mit der Entdeckung allein ist es nicht getan, genauso wichtig ist die wissenschaftliche Aufarbeitung, und die kann ein ganzes Leben dauern.« »Sie sind sehr gewissenhaft«, sagte Morgan, »als Ausgräber vielleicht zu gewissenhaft.«

»Ich weiß«, antwortete Brugsch, »das habe ich immer an

Mariette bewundert, er kannte keine Skrupel. Bei ihm stand stets die Entdeckung im Vordergrund, die Ausbeute und nicht der Nutzen. Im Vergleich zu ihm war ich immer nur der kleine Schreibstubengelehrte.«

»Ein großer Gelehrter!« korrigierte Morgan. »Einer der größten Altertumsforscher überhaupt!«

»Nee, lassen Sie mal, Monsieur!« lächelte Brugsch. »Ich kann doch froh sein, wenn sich in hundert Jahren noch einer an den alten Brugsch erinnert.«

Während sie so redeten, hatten die beiden den Weg zu einem Felsentempel der Hatschepsut genommen, wo Edouard Naville grub.

»Nanu«, sagte Brugsch, »ist das nicht der junge Carter, den Petrie mitgebracht hat?«

Naville kam den beiden entgegen, und der Deutsche erzählte, daß auch er hier schon gegraben habe, zusammen mit Mariette, nur - Schienen hätte er damals noch nicht zur Verfügung gehabt. In Der el-Bahari wie im Tal der Könige waren jetzt Geleise gelegt, und Loren transportierten den Schutt von den Ausgrabungsstätten. Das erleichterte die Arbeit ungemein und sparte gleichzeitig Arbeitskräfte. »Wo ist Flinders Petrie?« erkundigte sich Brugsch. Naville sah Jacques de Morgan an. Der war etwas verlegen: »Wir hatten gestern abend eine Auseinandersetzung. Er sagte, er wolle sich nicht herumkommandieren lassen, nicht von der Altertümerverwaltung und nicht vom Egypt Exploration Fund. Er wolle dort graben, wo er es für richtig halte, und das sei zur Zeit in Amarna. Als ich ihm erklärte, die Direktionen in London und Kairo hätten sich darauf geeinigt, die Forschungen in Theben voranzutreiben, meinte er, dann sollten auch die Direktoren die Schaufel in die Hand nehmen. Heute morgen ist Petrie mit beiden Assistenten abgereist, den jungen Carter hat er dagelassen.« Brugsch Pascha nickte: »Petrie hat recht. Akten und Schreibtische sind der Tod jeder Altertumswissenschaft.« Und als er Morgans betroffenes Gesicht bemerkte, fügte er hinzu: »Aber deshalb hätte er ja nicht gleich die Flucht ergreifen müssen.«

Es war Heinrich Brugschs letzte Ägypten-Reise. Er verbrachte den Sommer mit seiner Frau Antonie im Jagdhaus eines Jugendfreundes im Harz. Er merkte wohl, daß es mit ihm zu Ende ging, sprach vom Tod und vom Glanz der Abendsonne, die ihn mit allem, was er Schweres im Leben zu ertragen hatte, versöhne. Die Sonne, so meinte er, gebe ihm den verlorenen Mut zurück, die fast gebrochene Kraft aufs neue für die Wahrheit einzusetzen. Bis zuletzt arbeitete er wie ein Besessener, übersetzte alte Inschriften und kommentierte seine Forschungsergebnisse. Sein Lexikon der Hieroglyphen und der demotischen Sprache umfaßte nicht weniger als 3146 Seiten. Eine Inschriften-Sammlung mit astronomischen, geographischen und mythologischen Texten zählte 1578 Seiten. 1420 Seiten wies sein geographisches Lehrbuch des Alten Ägypten auf - nur drei von einer Fülle von Werken. Professor Heinrich Brugsch Pascha starb am 9. September 1894 in Berlin. In Paris fand das erste internationale Autorennen statt, in New York bestritten Frauen ein SechsTage-Rennen, in St. Petersburg starb Zar Alexander III., in Berlin wurde Fürst Hohenlohe zum deutschen Reichskanzler gewählt, da blieb für Brugschs Tod nur eine kleine Zeitungsnotiz.

Mit Heinrich Brugsch verlor die Ägyptologie einen ihrer Größten. Obwohl er keinen einzigen Tempel entdeckt, kein einziges Pharaonengrab ausgegraben und keinem einzigen Papyrus seinen Namen gegeben hat, leistete er seiner Wissenschaft unschätzbare Dienste. Brugsch ist selbst ein Stück Ägyptologie, ein Mann der ersten Stunde, der letzte der Pioniergeneration.

Im Niltal ging das Leben weiter. Ein neuer Khedive, Abbas II. Hilmi, besaß gegenüber dem britischen Generalkonsul Lord Cromer und dem neuen Oberbefehlshaber der ägyptischen Armee, Lord Kitchener, keine politische Einflußmöglichkeit mehr. Der Tempel von Luxor, auf dem noch vor wenigen Jahren Häuser gestanden hatten, war von den gewaltigen Schuttmassen befreit und versetzte die Touristen in Entzücken. Aus London kehrte Flinders Petrie zurück und machte sich an die Ausgrabung des Totentempels von Ram-ses am Fuße von el-Kurna. Und das Kairoer Museum, seit der Nilflut baufällig, wurde von der Vorstadt Bulak in das Khedivenschloß bei Giseh verlegt. In dem holzgetäfelten Saal, in dem einst Haremsdamen Ismail Pascha verwöhnten, lagen nun die Mumien der berühmtesten Pharaonen des alten Ägypten.

Die Leiche Mariettes, zunächst auf dem evangelischen Friedhof in Kairo bestattet, wurde exhumiert und in einen Granit-Sarkophag vor dem Haupteingang des Museums verbracht. Der preußische Pascha Heinrich Brugsch wurde schlicht auf dem Charlottenburger Friedhof beigesetzt. Irgendwie trennten sie ja schon im Leben Welten.

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