IV. Wunder der Gegenwart, Wunder der Vergangenheit

Mariette unterbrach seine Rede abrupt, deutete erschreckt auf den Tisch, wischte sich mit einer schnellen Handbewegung über die Augen und stammelte: »Deveria, sieh nur!« Der Assistent musterte den Sarkophag mit zusammengekniffenen Augen, jetzt sah auch er es: Ganz langsam, ohne fremdes Zutun, begann der Sarkophag sich vor ihren Augen in Staub aufzulösen, bröckchenweise.


Die längste Schlange aus Menschen und Tieren, die die Welt je gesehen hatte, bewegte sich im Frühjahr 1859 vom Tim-sah-See in Richtung Norden, beinahe 80 Kilometer lang, tagaus, tagein. Tausende und Abertausende von Kamelen schleppten Ledersäcke und Fässer mit dem kostbaren Trinkwasser durch die Wüste, um die 25000 leibeigenen Fellachen, die der Vizekönig abkommandiert hatte, am Leben zu erhalten.

Am 25. April vollzog Ferdinand de Lesseps in der Ebene von Pelusium den ersten Spatenstich für den maritimen Kanal von Suez. Suez war 160 Kilometer entfernt, dazwischen lagen Sand und Wüste und unwirtliche Natur. Seit Errichtung der Pyramiden hatten Menschen sich keine so große Aufgabe mehr gestellt.

Die feierliche Zeremonie auf der schmalen Sanddüne, die das Mittelmeer von den Lagunen des Mensaleh-Sees trennt, fand unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt; denn der tür-kische Sultan hatte den Kanalbau auf Drängen der Engländer verboten. Said Pascha hielt sich deshalb an diesem denkwürdigen Tag fernab in Kairo auf, damit niemand an die Verlautbarung der Compagnie Universelle du Canal Maritime de Suez zweifelte, man führe nur Probegrabungen durch. In Wirklichkeit aber ging Said Pascha in seinem Palast Ras el Tin unruhig auf und ab und hoffte, daß die Arbeiten so schnell wie nur möglich vorangingen, schließlich hatte er sich mit seinem gesamten Vermögen an dem Projekt engagiert, er hielt beinahe die Hälfte des gesamten Aktienkapitals der Gesellschaft. Hinter vorgehaltener Hand sprach man von beinahe 90 Millionen Francs. Jeder Tag, den Allah werden ließ, kostete allein 250000 Francs für den Wassertransport - jedenfalls solange in dieser gottverlassenen Ebene von Pelusium gearbeitet werden mußte. Die Wüstenseen, die der Kanal einmal durchqueren sollte, führten allesamt Salzwasser, waren zur Trinkwasserversorgung also ungeeignet. Lesseps hatte deshalb zuallererst von Zagazig am Nil einen Süßwasserkanal in Richtung Timsah-See graben lassen und von hier aus Wasser-Karawanen in Marsch gesetzt. Gleichzeitig trieb er eine Rohrleitung nach Norden voran; denn die Hafenstadt, die am Kanaleingang geplant war und den Namen Port Said tragen sollte, mußte ebenfalls mit Trinkwasser versorgt werden. Diese Stadt auf dem Reißbrett sollte Stützpunkt der Kanalgesellschaft werden. Doch abgesehen von einer dichtgedrängten Ansammlung primitiver Holz- und Wellblechhütten, endlosen Reihen von Zelten, Magazinen, Werkstätten und Schmieden deutete bislang kaum etwas auf eine Stadt hin. Vor allem Straßen und Wege fehlten. Dussaud Freres, eine Tiefbaufirma aus Marseille, produzierte an Ort und Stelle künstliche Bausteine aus einer Mischung von Sand und hydraulischem Kalk, 600 Stück pro Monat, 20 Tonnen wog ein jeder. Lesseps' ursprüngliche Absicht, die Ausschachtungsarbeiten in eigener Regie durchzuführen, wurde bald aufgegeben. Für die komplizierte Abtragung der Höhen von El Gisr zog die Compagnie Universelle die französische Firma Couvreux hinzu. Den größten Auftrag, die Ausbaggerung von 60 Kilometer Kanalbett, fiel Borel, Lavelley und Co. zu, die dem Projekt mit dampfgetriebenen Maschinenkolossen zuleibe rückten. Als Probegrabungen ließen sich diese Arbeiten bald wirklich nicht mehr deklarieren.

Lesseps fuhr nach England, um Premierminister Palmer-ston umzustimmen. Der aber erklärte höflich und bestimmt, das Kanalprojekt sei in der Lage, die Überlegenheit Englands als Handelsmacht zu untergraben, und aus diesem Grund werde man jedes Mittel einsetzen, um den Kanal zu verhindern. Wirksamste Waffe sei die Absetzung des ägyptischen Vizekönigs, die man beim Sultan in Konstantinopel durchzusetzen gedenke.

Said Pascha verfiel in Panik, als er von den englischen Plänen erfuhr, der Vizekönig fürchtete um Amt und Würden. Denn der Sultan, ohnehin unzufrieden mit seinem Satrapen am Nil, wartete nur auf eine günstige Gelegenheit, um den ungeliebten Khediven loszuwerden. Als Lesseps im Ras-el-Tin-Palast vorsprach, zeigte der Pascha auf seinen Gehrock, der ihm inzwischen drei Nummern zu groß am Leibe hing, und meinte: »Sieh nur, was diese Engländer mir angetan haben!« Er bat seinen Freund allen Ernstes, die Bauarbeiten am Suez-Kanal einzustellen, bis das internationale Klima sich verbessert habe. Lesseps zog sich ohne irgendeine Zusage zurück. Der Kanal fraß sich weiter durch die Wüste.

Aufgepflanzt wie eine Gallionsfigur stand Auguste Mariette im Bug der »Samanoud«. Mit der linken Hand schirmte er die Augen vor dem grellen Sonnenlicht ab, in der Rechten hielt er sein Gewehr. Das Dampfschiff fuhr mit voller Kraft voraus, denn Mariette hatte es eilig. Hinter ihm stand Deve-ria, sein Assistent, der Bonnefoys Stelle eingenommen hatte. Bonnefoy war gestorben. Böse Zungen behaupteten, Ma-riette habe ihn zu Tode gehetzt. »Ich schieße ihn über den Haufen!« rief Mariette und klemmte seine Flinte fester unter den Arm. »Ich schieße ihn über den Haufen, wenn er auch nur ein Stück beschädigt hat, dieser gottverdammte Kameltreiber.« »Sie kennen den Provinzgouverneur?« erkundigte Deveria sich zaghaft.

»Und ob ich den Kerl kenne! Der Dorfschulze von Kena glaubt bisweilen, er habe Theben, Karnak und das Tal der Könige gepachtet. Aber es gibt nur einen, der dort Rechte anzumelden hat, und das bin ich, verstehst du, Deveria?« Theodule Deveria hätte nie gewagt, daran zu zweifeln. Er kannte die Unberechenbarkeit Mariettes nur zu gut, wenn er in Zorn geriet. Deshalb nickte er zustimmend. Im Süden tauchte die Rauchfahne eines Raddampfers auf. Der Franzose stach mit dem Zeigefinger in die Luft: »Das müssen sie sein!« rief er in höchster Erregung aus und gab der Brücke das Kommando: »Kurs auf den Dampfer!« Von der Brücke kam die Antwort: verstanden. »Ich möchte wissen, was ihn das überhaupt angeht«, knurrte Mariette, »wenn heute irgendwo ein archäologischer Fund gemacht wird, dann ist das einzig und allein meine Angelegenheit und nicht die irgendeines Provinzgouverneurs.« Deveria meinte, es sei überhaupt ein Wunder, daß der Fund gemeldet worden und nicht auf dem Schwarzmarkt verschwunden sei. Wo es sich doch angeblich um so viel Gold handele.

»Abwarten!« mahnte sein Chef, »das Gold wollen wir erst einmal sehen. Aber auch wenn es sich bei dem angeblichen Goldschmuck nur um Talmi handelt, ist die Entdeckung der Königin von größtem Interesse für die Wissenschaft. Sie hieß Ahotep und war die Mutter Ahmoses, des ersten Pharaos des Neuen Reiches, das in Theben seinen Anfang nahm.«

»Wer hat Ahotep identifiziert?«

»Engländer, die in Theben arbeiten. Ich hoffe, sie haben sich nicht geirrt.«

Der Kapitän der »Samanoud« gab dem entgegenkommenden Schiff Zeichen beizudrehen; doch das reagierte nicht. Da schoß Mariette dreimal in die Luft, und mitten im Nil begann ein ungewöhnliches Anlegemanöver. Kaum lagen die Schiffe längsseits, sprang Mariette auf den anderen Dampfer und riß sein Gewehr hoch. »Habt Ihr den Schatz der Königin Ahotep an Bord?« schrie er den erstbesten Matrosen an. Der nickte verschüchtert und rannte davon, als ginge es um sein Leben.

Hassan, der Kapitän, erschien, protestierte gegen diesen Piratenakt und kündigte an, sich beim Khediven in Kairo zu beschweren, für den er im Auftrag des Provinzgouverneurs von Kena unterwegs sei. Mariette schob den Kapitän zur Seite, drohte, ihn über Bord zu werfen, und fragte, wo der Schatz der Königin sei.

Der Flußfahrer schlug die Hände über dem Kopf zusammen, bat um Gnade für seine drei Frauen und vierzehn Kinder. Sie alle müßten verhungern, wenn er seine Arbeit verliere, und das sei so gut wie sicher, falls er seinen Auftrag nicht ausführe.

»Und wie lautet dein Auftrag?« fragte der Franzose ungeduldig.

»Ich soll die beiden Kisten hinten im Frachtraum beim Khediven abliefern«, Hassan zog ein Papier hervor, »hier ist die Liste.«

Mariette überflog den Schein mit einem kurzen Blick und bekam große Augen. Da schürfte er mit Tausenden von Arbeitern auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse, und dann machte nicht er die großen Entdeckungen, sondern der Zufall!

Plötzlich spürte Mariette, daß jemand hinter ihm stand, er zögerte keinen Augenblick, faßte das Gewehr mit beiden Händen, drehte sich blitzschnell um und rammte einem baumlangen Matrosen den Kolben des Schießeisens in den Leib. Der sackte lautlos zusammen, die Schlinge, mit der er Mariette erwürgen wollte, glitt aus seiner Hand. Die übrige Mannschaft, die den Vorfall aus sicherer Entfernung beobachtet hatte, drückte sich hinter den Kajütenvorbau; aber der Franzose sprang hinzu, gestikulierte wild mit seiner Flinte herum, schrie, er werde sie alle auf die Ga-leeren schicken oder ihnen das Gehirn rösten, wenn sie sich seinen Anordnungen widersetzten. »Los, die Kisten werden auf mein Schiff verladen. Aber plötzlich!« Widerwillig, mit hilfesuchenden Blicken zu ihrem Kapitän wuchteten die Matrosen die kostbare Fracht an Deck. Ma-riettes Leute nahmen sie vorsichtig an Bord der »Sama-noud«, und der Franzose kritzelte ein paar Zeilen auf ein Papier: »Schatz der Königin Ahotep übernommen. Mariette, Direktor der Altertümer.« Das drückte er Hassan, dem Kapitän, in die Hand; dann drehte die »Samanoud« ab und nahm Kurs nilabwärts auf Kairo.

Die vernagelten Kisten wurden unter Deck in den Salon der »Samanoud« gebracht. »Deveria«, sagte Mariette, während er die kleinere mit einem Stemmeisen öffnete, »Deve-ria«, gleich wirst du sehen, womit man vor dreieinhalbtausend Jahren einer Königin das Jenseits verschönen wollte.« Der Assistent beobachtete den Holzdeckel, der jeden Augenblick abzuspringen drohte. Mariette wurde ungeduldig, er riß ein einzelnes Brett des Deckels ab, Holz splitterte. Erwartungsvoll starrten sie in die Kiste. Als erstes zog Mariette eine Axt hervor, einen halben Meter lang, der Stiel aus Zedernholz mit Blattgold verkleidet, auf der Klinge ein Namensring: Ahmose. Ein Dolch trug ebenfalls diesen Namen, dann aber folgten Spiegel, Arm- und Beinringe, Haarreifen und Schmuckstücke, die ohne Zweifel aus dem Besitz einer Dame stammten. Ein goldenes Armband war mit bunten Edelsteinen besetzt, eine Ordenskette trug als Schmuck drei goldene Fliegen, ein Armband zierte das Bild eines schwebenden Geiers, ein weiteres die Krönung des Königs Ahmose. Einige hundert Einzelteile, Tiere und Ornamente aus Gold und Email, gehörten vermutlich zu einem großen Brustschmuck, den kunstfertige Hände einst an Bändern und Drähten aufgereiht hatten. Ein solches Stück zu rekonstruieren, konnte Jahre dauern und bedeutete vor allem eine mühsame Rechnerei. Man mußte die Anzahl der einzelnen Orna-mente in Beziehung zueinander setzen, und die Wahrscheinlichkeit war groß, daß Ornamente, von denen weniger vorhanden waren, näher am Hals lagen als Ornamente, die um die Brust gelegt waren. Eine solche Reihe war länger und bedurfte mehrerer Einzelteile.

Mariette hängte die einzelnen Schmuckstücke seinem Assistenten um den Hals, steckte sie an seine Handgelenke und bald bewegte Deveria sich wie ein schwerbehangenes Zirkuspferd. »Wie fühlst du dich?« fragte sein Chef lachend, und Deveria antwortete: »Wenn ich ehrlich sein soll, es ist ein unbehagliches, beinahe beängstigendes Gefühl, wenn man bedenkt, daß Königin Ahotep die letzte war, die damit spazierenging!«

Wie kostbares Spielzeug sahen die weiteren Stücke aus, die Mariette nun aus der Kiste hervorholte: Eine Nilbarke aus Gold, etwa vierzig Zentimeter lang mit zwei silbergetrie -benen Ruderern auf den Ruderbänken, ein weiteres silbernes Boot maß knapp einen halben Meter und wurde von einem kleinen Steuermann auf Kurs gehalten. Wozu mochte wohl das winzige Wägelchen gedient haben mit seinen zehn Zentimeter hohen Bronzerädern? Für ein komplettes Sortiment Brettspielsteine in Löwenkopf-Form, Goldblech über einen Holzkern getrieben, stellte sich diese Frage nicht. Sie dienten dem Zeitvertreib im Jenseits.

Die zweite Kiste maß zweimal einen Meter, und für Auguste Mariette war klar, daß sie den Sarkophag der Königin Ahotep enthielt. Die beiden Forscher hoben den schweren Kasten auf den Tisch, auf dem sie für gewöhnlich ihre Mahlzeiten einzunehmen pflegten, und entfernten vorsichtig die Seitenteile. Zum Vorschein kam ein schwarz angestrichener Holzsarkophag, dessen Unebenheiten mit Sandmörtel verschmiert waren, etwas enttäuschend nach all den Kostbarkeiten, die aus dem ersten hervorgequollen waren. Der Sargdeckel hingegen versöhnte die Forscher, er stellte die Königin Ahotep dar, die ausgestreckt lag, als träume sie .

Sie trug die volle Perücke, wie im Mittleren Reich üblich, auf der Stirne die Uräusschlange, ihren Leib umfingen die Flügel der Göttin Isis.

»Da!« Mariette deutete auf eine Hieroglyphenzeile, die mitten über ihren Leib lief. »Eine königliche Opfergabe, o Ptah-Sokaris für den Schutzgeist der großen königlichen Gemahlin, die schon von der weißen Krone Besitz ergriffen hat, Ahotep, die ewig Lebende.«

Die Worte des Ausgräbers standen im Raum, als hätte eine Stimme aus der 18. Dynastie gesprochen. Ahotep, die ewig Lebende, war sie nicht eben im Begriff, wiedergeboren zu werden? Der Deckel lag lose auf dem Sargkasten. Man hatte die verbindenden Holzzapfen bei der gewaltsamen Öffnung einfach durchsägt. Vorsichtig hoben Mariette und sein Assistent den Deckel ab.

»Chef!« stammelte Deveria in höchster Erregung, »Chef!« Das Innere war leer.

Mariette lehnte die Deckplatte an die Wand und starrte zornentflammt in das leere Behältnis. »Sie haben die Mumie geraubt!« sagte Deveria, der als erster die Sprache wiederfand, »wir werden sie zurückholen.« Mariette schüttelte den Kopf: »Ich glaube nicht, daß die Mumie geraubt worden ist, ich glaube vielmehr, daß man sie verbrannt hat. Das ist hier so üblich; aber ich werde diesen Provinzgouverneur zur Rechenschaft ziehen.« Dennoch wertete der Franzose allein schon die Kaperung des Dampfschiffes als persönlichen Erfolg, er ließ Raki-Schnaps bringen und prostete seinem Assistenten und der Mannschaft unter schallendem Gelächter zu: »Na, wie haben wir das gemacht?«

In ausgelassener Stimmung schwenkten sie ihre Gläser und tanzten um den leeren Holzsarg herum, der noch immer auf dem Tisch stand. »Ein Kretin ist das, dieser Provinzgouverneur!« rief Mariette immer wieder. Der Alkohol tat seine Wirkung. »Ein Kretin!«

Spät in der Nacht - die Mannschaft hatte sich längst zurückgezogen - lehnten Mariette und Deveria mit schweren Köpfen an der Wand und betrachteten all die Schätze, die um sie herum aufgereiht lagen. Mariette redete stockend und kündigte an, er werde dem Pascha ein Halsband der Königin für dessen Lieblingsfrau zum Geschenk machen. Said selbst solle diesen prachtvollen Skarabäus als Glücksbringer erhalten. Der Schatz der Königin Ahotep werde zur Zierde des Museums gereichen. Zwar sei die wissenschaftliche Ausbeute gering, Wert und Kostbarkeit würden diesen Fund je -doch aus allen bisherigen Entdeckungen hervorheben ... Mariette unterbrach seine Rede abrupt, deutete erschreckt auf den Tisch, wischte sich mit einer schnellen Handbewegung über die Augen und stammelte: »Deveria, sieh nur!« Der Assistent musterte den Sarkophag mit zusammengekniffenen Augen, jetzt sah auch er es: Ganz langsam, ohne fremdes Zutun, begann der Sarkophag sich vor ihren Augen in Staub aufzulösen, bröckchenweise. »Siehst du es auch?« schrie Mariette seinen Assistenten an, »Deveria, siehst du es?«

»Ja, ich sehe es«, stotterte Deveria, »der Sarkophag zerfällt!«

»Wir müssen etwas tun!« rief Mariette und versuchte mit beiden Händen, den Vorgang aufzuhalten. Doch sobald er das Holz berührte, stürzten auch die letzten Reste in sich zusammen und hinterließen unscheinbare Häufchen graubraunen Pulvers.

Sie trug weite Pluderhosen und ein rotes ärmelloses Jäckchen, rauchte Zigarre und legte ein so herrisches Benehmen an den Tag, daß man sie durchaus für einen Mann hätte halten können. Doch beim näheren Hinsehen faszinierten ihr schönes, weiches Gesicht und dunkle Augen über kräftigen Brauen. Ihr Profil glich einer griechischen Göttin, und das lange, dunkle Haar trug sie mittelgescheitelt eng anliegend und am Hinterkopf hochgesteckt, wie es Mode war damals, eine Frau, der die Männer zu Füßen lagen. Lady Duff Gordon, so hieß die exzentrische Dame von vierzig Jahren, reiste in Begleitung ihrer Zofe Sally, die sie aus England mitgebracht, und ihres Dieners und Dolmetschers Omar, den sie in Kairo für einen Monatslohn von drei Pfund angeworben hatte. Mindestens zehn Koffer und Reisetruhen wurden in Luxor von Bord des Postdampfers getragen, während die Lady nach einer offiziellen Begrüßung Ausschau hielt. Aber da nahten auch schon Mustafa Aga, der britische Konsul von Luxor, und der Nazir, der Bürgermeister der Wüstenstadt.

»Willkommen in Oberägypten!« rief der Konsul von weitem, und der Nazir gab seiner Freude Ausdruck, der Lady für einige Monate Gastfreundschaft gewähren zu dürfen, das Maison de France befinde sich gleich hier gegenüber der Anlegestelle. Die beiden Männer bekamen große Augen, als sie die Lady näher in Augenschein nahmen: Sie waren mit einer schönen Frau konfrontiert, die Selbstbewußtsein ausstrahlte. Avisiert worden war ihnen eine lungenkranke Dame der englischen Gesellschaft, die im trockenen Wüstenklima der Stadt Luxor überwintern wolle, gekommen war eine attraktive Frau von immer noch jugendlichem Aussehen, die mit größter Selbstverständlichkeit auf der Straße eine Zigarre rauchte.

»Sie sind doch Lady Duff Gordon?« erkundigte sich der verunsicherte Konsularagent.

»Muß ich mich ausweisen?« fragte die Lady zurück, doch der Nazir beschwichtigte die Besucherin, es sei nur, weil sie eine kränkelnde Dame erwartet hätten, sie jedoch eher den Eindruck blühenden Lebens vermittle. »Kunststück«, meinte die Engländerin, »in diesem Klima muß man sich doch wohl fühlen; im Londoner Novembernebel huste ich mir jedes Jahr die Lunge aus dem Leib.« Und dabei streifte sie gekonnt mit dem rechten kleinen Finger die lange Asche ihrer Zigarre ab, die sie ebenfalls in der Rechten hielt.

»Es ist nicht sehr komfortabel«, entschuldigte sich Mustafa Aga und deutete auf das seltsame Schloß auf den Säulen des Luxor-Tempels, »aber wir werden Ihnen bei der Einrichtung behilflich sein, so gut es geht. Sie brauchen nur Ihre Wünsche zu äußern.«

Lady Gordon bedankte sich, bemerkte jedoch, sie könne sich durchaus einschränken, auf dem Dampfschiff von Kairo habe sie auch nur eine winzige Kabine zur Verfügung gehabt, zusammen mit Sally und Omar. Sally schlief neben ihr, Omar zu ihren Füßen. Der Aga und der Nazir wunderten sich.

Vom Maison de France, das wie ein Spukschloß auf dem Tempel hing, zeigte sich die Ankommende begeistert, erkundigte sich nach dem Alter des Gebäudes und wollte wissen, wer es erbaut habe.

Mustafa Aga gab bereitwillig Auskunft und berichtete nicht ohne Stolz, welch bedeutende Männer schon auf den Säulen von Luxor genächtigt hätten. Errichtet habe das Schloß der englische Konsul Henry Salt vor einem halben Jahrhundert. Ob sie von Salt schon gehört habe. Die Lady lachte: »Und ob ich von ihm gehört habe! Das British Museum ist voll von seinen Schätzen. Jedes Kind in England kennt den riesigen Memnon . .. « Der Nazir fiel der schönen Engländerin ins Wort: »Salt gab nur den Auftrag für den Transport, ausgeführt wurde das Unternehmen von Belzoni. Auch Belzoni lebte einige Wochen im Maison de France, als er den Transport des Steinkolosses überwachte. Dort drüben« - er zeigte über den Fluß - »dort hat man ihn gefunden. Irgendwann vor 30 Jahren wohnten Champollion und sein Assistent Rosselini im Schloß, und zwei Jahre später diente es der ganzen Schiffsmannschaft als Unterkunft, die von der französischen Regie -rung ausgesandt war, um den großen Obelisken nach Paris zu holen. Seither wird es vornehmlich von französischen Ausgräbern genutzt; daher auch der Name.« Während Sally und Omar sich um das Gepäck kümmerten, stiegen die beiden Männer mit der Lady die schmale Steintreppe zum Schloß empor. Galli du Maunier, seit zwanzig Jahren der einzige regelmäßige Bewohner des Maison, reichte Kaffee zur Begrüßung, brachte seine Camera obscura in Anschlag und machte, unterstützt von einem Pulverblitz, eine fotografische Aufnahme zur Erinnerung. Leider werde er demnächst ausziehen.

Für die Lady war ein Raum gegenüber dem Trakt vorbereitet, den der Franzose bewohnte. Teppiche lagen übereinander, und ein Diwan mit Tischchen stand ziemlich verlassen herum, ein alter intarsiengeschmückter Kasten konnte gerade das Notwendigste aufnehmen, dafür gab es nach Südosten eine Terrasse, deren Aussicht für vieles entschädigte. Sally und Omar fanden im Rückgebäude Unterkunft, wohin sie das fürs erste nicht benötigte Gepäck brachten. Mit einer Verbeugung zogen sich der Aga und der Nazir zurück, sie würden morgen wieder nach dem Rechten sehen. »Sie ist eine schöne Frau!« sagte der Konsul, als sie sich außer Hörweite glaubten. Der Nazir pflichtete bei: »Und eine außergewöhnliche Frau obendrein. Ich hoffe nur, daß sie nicht allen Männern in Luxor den Kopf verdreht!« Geweckt wurde die schöne Engländerin vom strahlenden Glanz eines Morgens, wie ihn nur der Himmel Oberägyptens werden läßt. Ihr linker Daumen schmerzte, und da er eine Verletzung aufwies, an die sie sich beim besten Willen nicht erinnern konnte, kam Lady Gordon zu dem Schluß, daß sie des nachts von einer Ratte angeknabbert worden sein mußte. »Lucie«, sagte sie halblaut vor sich hin, »das soll nicht wieder passieren!«

Während sie hurtig in ihre türkischen Pluderhosen schlüpfte, blickte sie interessiert zur Nillände hinab, wo ein stattliches Dampfschiff festmachte. Neugierig ob des frühen

Besuches trat sie auf die Terrasse und beobachtete die Geschäftigkeit an Deck. Kaum war die Landungsbrücke an Bord gehievt, schritt ein Mann im dunklen Gehrock, den roten Fez auf dem Kopf, über die schwankenden Bohlen. Der imposanten Erscheinung folgte in gebührendem Abstand eine Schar ebenso elegant gekleideter Europäer. Erhobenen Hauptes und rhythmisch mit den Armen wedelnd, marschierte der stattliche Herr geradewegs auf das Maison de France zu, die Begleiter hinter ihm versuchten mühsam Schritt zu halten. Vor dem Balkon der Lady blieb er plötzlich stehen, blickte mit schrägem Kopf nach oben und verneigte sich lächelnd zu einem Gruß.

Lady Gordon erschrak, sie bemerkte plötzlich, daß sie na-belaufwärts nackt war. Sie riß hastig die Arme vor die Brust und verschwand, um sich schnell etwas überzuziehen. Die Männer waren inzwischen im Innenhof angelangt, und als die Engländerin die Türe öffnete, stand der stattliche Mann vor ihr und sagte freundlich: »Gestatten Sie, mein Name ist Auguste Mariette.«

»Dann verdanke ich Ihnen diese bezaubernde Unterkunft?« meinte die Lady, aber Mariette winkte ab: »Nicht der Rede wert, Madame. Die meiste Zeit steht das Maison sowieso leer. Ich hoffe, Sie fühlen sich bald wohl bei uns!« »Davon bin ich überzeugt«, antwortete die Engländerin, »vorläufig ist alles noch zu neu für mich. Ich habe mich hier noch gar nicht so recht umgesehen.« Mariette kündigte an, er werde nach der größten Hitze am Nachmittag über den Nil setzen, um die Fortschritte bei den Ausgrabungen am Terrassentempel in Augenschein zu nehmen. Wenn sie wolle, könne sie mit ihm kommen, er werde sich erlauben, Madame abzuholen. Maunier kam verschlafen aus seiner Haustüre und wurde von Mariette lautstark begrüßt. »Mein Freund«, rief er dem Landsmann auf französisch zu, »Sie haben sich unschätzbare Verdienste erworben. Wenn Sie nicht gewesen wären, dann wäre der Schatz der Königin heute verstreut, und die einzelnen Stücke würden auf dem schwarzen Markt verkauft.« Er erklärte Lady Duff Gordon, daß Maunier von der Entdek-kung des Grabschatzes der Königin Ahotep Wind bekommen und den Fund der Direktion für Altertümer in Kairo gemeldet habe. Er, Mariette, habe daraufhin den Provinzgouverneur von Kairo mit der ordnungsgemäßen Bergung des Schatzes beauftragt, seinen Männern aber schließlich den Schatz gewaltsam entreißen müssen. »Was mich vor allem interessiert«, meinte Mariette, »war der Sarkophag bei seiner Auffindung bereits aufgebrochen?« »Ich war nicht dabei«, antwortete Maunier, »aber wie ich erfuhr, mußte der Sarkophag aufgesägt werden.« »Dann lag also in dem Sarkophag die Mumie der Königin !«

»Ja, soviel ich weiß, ja. Man hat sie herausgeholt und verbrannt.«

Mariette ballte die Fäuste. Gemeinsam nahmen sie im luftigen Innenhof das Frühstück ein: Mariette, sein Assistent Theodule Deveria und Luigi Vassali, Maunier und seine schwarzhaarige Frau und Lucie Duff Gordon. Man sprach französisch, italienisch und englisch durcheinander. Nach dem Frühstück machte die schöne Engländerin sich in Begleitung Omars auf den Weg, um sich ihre neue Winterheimat näher anzusehen. In der Sharia el-Markaz pulsierte das Leben des unberührten Orients: Fliegende Händler, die ihren Laden auf dem Kopf trugen, Scheichs, die Sklaven vor sich hertrieben, lautstark teilten sich Menschen und Tiere die Straße. Lady Gordon fiel in ihrer orientalischen Tracht kaum auf. Nur ein trotz europäischer Kleidung exotisch aussehender Mann mit buschigem Schnauzbart schien sie zu bemerken.

Ob er ihr behilflich sein könne, fragte er zuvorkommend auf deutsch. Die Lady, die fließend deutsch sprach, seit sie in Kindertagen mit ihren Eltern einige Jahre in Köln verbracht hatte, wunderte sich. Er heiße Boulos Todrous, sagte der Unbekannte, sei preußischer Konsularagent, obendrein Christ, ob sie sich für antiken Schmuck interessiere. Natürlich interessierte Lucie sich für Schmuck. Todrous bat die Engländerin, ihm zu folgen.

Das weitere Gespräch der beiden mußte mit Omar als Dolmetscher geführt werden, weil der Vertreter Preußens eingestand, nicht mehr als zwei Sätze deutsch zu sprechen. Allah habe gewollt, daß er arabisch spreche, sonst hätte er ihn in Berlin, London oder Paris in die Welt gesetzt. Lucie lächelte. »Nennen Sie mich einfach Theodore!« sagte der Konsul, »ganz Luxor nennt mich so.«

Das Konsulat lag nicht weit vom Maison de France entfernt im ehemaligen Tempel Amenophis III. Die Haustür führte direkt in den Salon, »Salon« nannte freilich nur Theodore diese mit tausenderlei Krimskrams verstellte Kammer. Todrous legte sich bäuchlings auf den Boden und tauchte mit dem Kopf unter den grellgemusterten Diwan, schließlich zog er eine Kiste hervor, und sein Blick verklärte sich. Aus gelbem Seidenpapier wickelte der Konsul ein Schmuckstück nach dem anderen, legte es vorsichtig auf den Teppich und sagte jedes Mal andächtig: »Kadim, Madame, alt!« Lucie war begeistert von der pharaonischen Pracht. Der Gedanke, ein solch kostbares Stück auf dem Dekollete zu tragen, ermunterte sie zu der Frage, was denn das eine oder andere koste. Dem christlichen Araber waren derlei Fragen sichtlich peinlich. Gerne, so schien es, trenne er sich nicht von diesen Pretiosen. Dann aber überwand er sich und sagte: »Weil Sie es sind - 25 Pfund.«

»Das ist sehr vie l Geld«, sagte Lady Gordon und legte das schönste Schmuckstück von einer Hand in die andere. Es sei aber auch über dreitausend Jahre alt und deshalb von unermeßlichem Wert.

Nach einigem Hin und Her einigte man sich schließlich auf einen Kaufpreis von zwanzig Pfund, Lucie war selig.

Als Auguste Mariette den stolzen Erwerb der englischen Lady sah, sagte er nur ein Wort: »Todrous.« Lucie nickte. Er rief sofort nach Deveria, der ihm auf der Stelle diesen Boulos Todrous herbringen solle. »Wissen Sie«, erklärte der Direktor der ägyptischen Altertümer, »dieser Todrous ist ein gerissener Hund. Die Leute von el-Kurna verkaufen ihm ihre ille -galen Funde, das ist allgemein bekannt. Wenn er deshalb etwas anbietet, zweifelt niemand an der Echtheit. Dabei ist mindestens die Hälfte aller Objekte gefälscht. Todrous ist der größte Fälscher in Luxor. Er ist gelernter Silberschmied und nützt seine Kenntnis in der Bearbeitung von Edelmetallen zur Nachahmung antiker Fundstücke. So wie in diesem Fall.«

»Aber Sie haben sich das Schmuckstück doch gar nicht richtig angesehen!« entsetzte sich Lucie, »warum glauben Sie an eine Fälschung?«

Mariette lächelte: »Weil das Original in meinem Besitz ist. Es stammt aus dem Schatz der Königin Ahotep und kann im Museum in Kairo besichtigt werden.« Theodore wußte, warum er gerufen wurde. Er winkte beim Eintreten mit der Zwanzig-Pfund-Note, gab sie zurück, nahm das Schmuckstück in Empfang und verschwand, ohne daß ein Wort gewechselt wurde. Während der Überfahrt zum jenseitigen Nilufer erzählte Mariette von seinen neuesten Ausgrabungen in Sakkara. Dort hatte er nahe dem Serapis-Tempel die Gruft eines reichen Edelmannes aus der 5. Dynastie entdeckt. Er hieß Ti und war der Verwalter der königlichen Totentempel, keine Figur von Bedeutung also. Was die Stätte aber höchst bedeutungsvoll machte: Die Wände eines Pfeilerhofes spiegelten den gesamten Alltag dieser Zeit wider. Da sah man auf feinsten Hochreliefs, wie Herr Ti Jahrtausende vor der Zeitenwende gelebt hat, wie die Bauern im Delta das Vieh weideten und Ti als feudaler Gutsherr die Landwirtschaft überwacht. Auch Opferzeremonien wurden bis ins kleinste Detail genau abgebildet und dargestellt, wie der Edelmann ins Jenseits einging-

»Sie sollten sich das bei Gelegenheit einmal ansehen«, meinte Mariette, »denn das Leben im Alten Reich finden Sie nirgends besser dargestellt. Dann kann ich Ihnen auch meinen Dorfschulzen vorstellen.« Er lachte breit. »Er heißt Ka-aper und war Hofbeamter zur Zeit des Ti. Als wir seine lebensgroße Holzstatue fanden, liefen die Arbeiter davon, so lebensecht wirkt sie. Besonders der Kopf ist verblüffend lebendig, die Augen sind aus Kupfer und mit Kristall eingelegt, sie sehen einen an, wo immer man steht. Später erfuhr ich dann, warum meine Arbeiter geflohen waren. Ka-aper sah ihrem Dorfschulzen nicht nur ähnlich, er glich ihm aufs Haar. Und so tauften sie die Figur Schech-el-Beled - Dorfschulze.«

Lady Duff Gordon sah den Forscher eine Weile an; dann fragte sie unvermittelt: »Sind Sie eigentlich verheiratet, Monsieur Mariette?« »Warum fragen Sie?«

»Nun, wenn man Ihnen so zuhört, dann kann man sich schier nicht vorstellen, daß Sie für eine Frau überhaupt noch Zeit haben.«

»Sie haben recht, Madame, das ist ein Problem.« Er holte eine vergilbte Daguerreotypie aus der Tasche. »Sie heißt Eleonore, und wir haben vor zwanzig Jahren geheiratet. Erst lebte sie allein in Paris, während ich hier arbeitete, nun ist sie aber schon über zehn Jahre bei mir in Kairo. Wir haben einen Sohn, er heißt Edouard. Und Sie?« »Einen Sohn und zwei Töchter«, antwortete die Lady. Mariette hätte sich gern nach dem Gemahl der attraktiven Dame erkundigt; aber das hielt er für ungehörig. Lucie schien die Gedanken ihres Gegenübers zu erraten und sagte: »Mein Mann ist Beamter im Finanzministerium. Ich glaube nicht, daß er mich sehr vermißt.« Mariette verstand.

Der Tempel von Der el-Bahari hatte sich seit seinem letzten Besuch sehr verändert. Von der unteren Ebene führte eine hohe Schrägrampe zur zweiten Terrasse. Von einer weiterführenden Schrägrampe getrennt, hatten die Ausgräber zur Linken die sogenannte Punt-Halle mit den Wandbildern von der abenteuerlichen Expedition freigelegt, zur Rechten lag die Geburtshalle, genauso groß wie erstere, jedoch mit Szenen von der Zeugung Hatschepsuts durch Amun, ihrer Geburt und Erziehung ausgeschmückt. An die Ausgrabung eines dritten Bauwerkes, das man unter den Geröllmassen vermuten konnte, war vorläufig nicht zu denken; denn jeder Korb Sand und Gestein, der am Fuße des Berges weggetragen wurde, rutschte von oben nach. In den Säulen des Hatschepsut-Tempels hatte sich mit Billigung Mariettes ein junger deutscher Forscher eingenistet, ein etwas merkwürdiger Mann, verschlossen und zurückhaltend, aber arbeitsbesessen. Er hieß Dr. Johannes Dümi-chen, wollte ursprünglich Pfarrer werden, war dann aber von den Berichten Richard Lepsius' so fasziniert, daß er sich der Ägyptologie verschrieb. Wie alle deutschen Ägyptologen bewies er ungewöhnliches Talent bei der Entschlüsselung von Hieroglyphentexten, und wie alle Deutschen war er arm wie eine Kirchenmaus.

Er hatte eine Ein-Mann-Expedition nach dem Sudan hinter sich, von der er unschätzbare Dokumente mitbrachte. Was immer dem Doktor aus Schlesien als wichtig erschien an Tempel-, Grab- und Steininschriften, Dümichen hatte es in oft wochenlanger mühsamster Arbeit auf Packpapier kopiert, abgepaust oder gezeichnet, um es einem größeren Kreis von Wissenschaftlern in Europa zugänglich zu machen. Die Tempel in Nubien waren zu damaliger Zeit nur unter Einsatz des Lebens zu erreichen. Der wortkarge Hieroglyphenforscher zeigte sich hocherfreut, als ihn Lady Gordon in seiner Muttersprache anredete, und erbot sich, der schönen Engländerin das Tal der Könige und all die Sehenswürdigkeiten im westlichen Theben zu zeigen; man verabredete sich für den nächsten Tag. Lucie schlief unruhig in dieser Nacht. Überwältigt von den zahllosen neuen Eindrücken, dem exotischen Leben und den sie beeindruckenden Menschen wurde sie immer wieder wach und versuchte, aufs neue Schlaf zu finden. Doch dann schreckte sie hoch: Hatte sie das zaghafte Klopfen an ihrer Tür nur geträumt? Nein, die Türklinke quietschte. Lucie entzündete eine Kerze, stieg aus dem Bett und ging zur Tür. Langsam bewegte sich die Klinke auf und ab. »Wer ist da?« rief Lucie leise. Eine alte zitternde Stimme antwortete: »Hier ist Ismain, der alte Ismain. Sie sind in Gefahr, Mrs. Belzoni!« »Ich bin nicht Mrs. Belzoni!« flüsterte Lucie durch die geschlossene Tür, »ich bin Lady Duff Gordon!« »Ich weiß«, kam die Stimme zurück, »ich bin Ismain, der alte Ismain, mir können Sie Vertrauen schenken.« Die Hartnäckigkeit des Alten machte sie neugierig, und Lucie schob den Riegel zurück. Im Türspalt tauchte das zerfurchte Gesicht eines uralten Mannes auf, hundert Jahre oder noch mehr schienen sich in diese Züge eingegraben zu haben, nur seine hellwachen Augen verrieten, daß er so alt wohl nicht sein konnte.



»Niemand hat mich kommen sehen, Mrs. Belzoni«, sagte er zufrieden und drückte mit seiner dürren Hand die Türe auf. Lucie ließ den Alten eintreten, sie stellte die Kerze auf den Tisch und trat ganz nahe an den Unbekannten heran. »Hören Sie, Ismain«, sagte sie eindringlich, »mein Name ist Lucie Duff Gordon, ich bin vor zwei Tagen hier angekommen und habe mit der Mrs. Belzoni, die Sie suchen, nichts zu schaffen!«

»Aber ich erkenne Sie ganz gewiß, Mrs. Belzoni«, erwiderte Ismain entrüstet, »wir waren zusammen in Abu Simbel, Sie, Mister B. und ich. Sie können mir wirklich vertrauen. Ismain ist Ihr Freund.« »Wer, zum Teufel, ist Mister B.?« fragte Lucie. »Ihr Mann, Mrs. Belzoni; nennen Sie ihn nicht mehr Mister B.?«

»Also zum letztenmal, Ismain: Ich bin nicht Mrs. Belzoni, mein Mann heißt Alexander und nicht Mister B., und Abu Simbel kenne ich nur vom Hörensagen, und jetzt möchte ich gerne weiterschlafen!«

Ismain gab nicht auf: »Wir haben den Felsentempel von Abu Simbel entdeckt. Erinnern Sie sich nicht? Es war am i. August 1817, früh am Morgen, wir hatten gerade diesen breiten Türsturz aus den Sandmassen ausgegraben, und darunter klaffte ein Loch. Auf einer Sanddüne rutschten wir in das Innere, ohne Rücksicht, ob wir jemals wieder herauskommen würden. Mister B. zündete eine Kerze an. Und dann sahen wir, was seit 2000 Jahren kein menschliches Auge mehr geschaut hatte: Ramses als Totengott Osiris, achtmal höher als das höchste Haus. Und wir gingen den langen Weg in den Berg und fanden Nebenräume und Verliese, und Sie fürchteten sich, erinnern Sie sich, Mrs. Belzoni.« Lucie hatte, während er redete, Ismain scharf beobachtet, um zu ergründen, ob sie einen Irren vor sich hatte. Ismain sprach in höchster Begeisterung, richtete seine Augen bisweilen theatralisch zur Decke und erzählte mit einem Temperament, das unschwer verriet, daß er das alles tatsächlich erlebt hatte. Und da sie den Greis nicht von ihrer wahren Identität überzeugen konnte, zündete sie sich eine Zigarre an, setzte sich halbbekleidet auf ihr Bett und hörte zu. »Seit wann rauchen Sie?« fragte Ismain entrüstet, gab sich aber zufrieden, als er hörte, die Lady sei diesem Laster schon seit mindestens zehn Jahren verfallen. Schließlich meinte er, Lucie solle sich anziehen und mit ihm kommen, er bringe sie zu Mister B.

»Aber Belzoni ist doch seit 40 Jahren tot!« entrüstete sich Lady Gordon. »Soviel ich weiß, starb er auf einer Expedition am Niger.«

Ismain kicherte leise in sich hinein und wiederholte: »Zie -hen Sie sich an und kommen Sie.« Schwankend zwischen wachsender Neugierde und zu Vorsicht ratender Vernunft überlegte Lucie, was zu tun sei. Wollte der Alte sie in eine Falle locken? »Hier können Sie nicht bleiben, Mrs. Belzoni«, sagte Is-main, »alle sind hinter Ihnen her, die Ausgräber aus el-Kurna, der französische Konsul Drovetti und der englische Konsul Henry Sah.«

Er muß verrückt sein, dachte Lady Duff Gordon, dieser Mann muß verrückt sein! Alle Welt wußte, daß Henry Salt tot war. Die Reiseberichte des Diplomaten und Sammlers wurden verschlungen, seinen Nachlaß hatte Sotheby's in einer Siebentage-Auktion versteigert. »Warum sind Salt und Drovetti hinter mir her?« fragte Lucie. Ismain drehte die Handflächen nach außen. »Wissen Sie, Mrs. Belzoni, Mister B. ist als Ausgräber zu erfolgreich. Er hat in einem Jahr mehr ausgegraben als Generationen von Ausgräbern vor ihm, Abu Simbel, das Grab des Sethos im Tal der Könige, die Grabkammer der Chefren-Pyramide, und er hat jedesmal viel Geld verdient. Geld aber schafft Feinde, Mrs. Belzoni. Kommen Sie, bevor der Tag anbricht!« Um Zeit zu gewinnen, sagte Lucie: »Können wir die Flucht nicht auf morgen verschieben, ich bin doch überhaupt nicht vorbereitet!«

Ismain sah die Lady prüfend an, als wollte er sagen: Sie mißtrauen mir wohl, Mrs. Belzoni?, sagte dann aber nichts, stand auf, ging zur Türe, drehte sich um und meinte: »Also gut. Morgen um dieselbe Zeit; aber verlassen Sie das Haus nicht. Es ist zu gefährlich, Sie wissen ja ... « Den Rest der Nacht verbrachte Lady Duff Gordon im Halbschlaf. Immer wieder überlegte sie, was es mit dem alten Ismain wohl für eine Bewandtnis hatte. Am nächsten Morgen beim gemeinsamen Frühstück im Innenhof des Tempel-Schlosses berichtete Lucie von dem nächtlichen Besucher. Mariette entschuldigte sich, daß man die Lady nicht vorgewarnt habe. Der alte Ismain sei 97 Jahre alt, ein weiser alter Mann. Sein ältester Sohn sei geboren worden, als die Franzosen unter Napoleon in Luxor einmarschierten. Er selbst habe Belzoni als Führer nach Abu Simbel gedient und habe sie alle gekannt, die großen Forscher und Abenteurer: Burckhardt, Champollion, Lepsius. Nur leider habe sein Gedächtnis vor 5 o Jahren ausgesetzt, heute erinnere er sich nur noch an Dinge, die vor mehr als 5 o Jahren passiert sind. Ob er sie belästigt habe? »Nein, nein!« beteuerte Lucie, »ich war von seinen Erzählungen fasziniert. Aber wie kann ich ihm nur erklären, daß ich nicht Mrs. Belzoni bin?«

Said Paschas militärische Aufrüstung und der umstrittene Bau des Suez-Kanals führten Ägypten an den Rand des Staatsbankrotts. Daß es nicht soweit kam, verdankte der Vizekönig allein den Vereinigten Staaten von Amerika. Die Amerikaner lieferten bis 1860 über 80 Prozent des europäischen Baumwollbedarfs. Für ägyptische Baumwolle zahlten die internationalen Broker bis dahin wenig. Als dann aber während des amerikanischen Bürgerkrieges die Baumwollie -ferungen nach Europa ausblieben, setzte ein Run auf ägyptische Baumwolle ein, die sich noch dazu als qualitativ sehr hochwertig erwies. Der Preis stieg im Sommer 1862 auf das Vierfache, und noch bevor der Republikaner Abraham Lincoln den Bürgerkrieg für sich entscheiden konnte, gab es am Nil einen glücklichen Gewinner: Said Pascha. Ihm gehörten ein Fünftel des kultivierten Landes, und für den Anbau des einjährigen Malvengewächses herrschten in Ägypten ideale Voraussetzungen. Ein entsprechendes Dekret des Khediven erlaubte den Fellachen seit einigen Jahren privaten Landbesitz, und als diese erst einmal gemerkt hatten, wieviel Geld mit Baumwolle zu verdienen war, da nahm ihr Anbau einen unerwartet steilen Aufschwung.

Said Pascha war es nicht vergönnt, die Früchte dieser Entwicklung zu genießen. Er starb im Januar 1863 an Tuberkulose. Sein Neffe Ismail trat an seine Stelle, allerdings ohne den Titel eines Khediven. Nicht einmal die, die ihn kannten, hätten erwartet, daß Ismail, der französisch erzogene und akademisch gebildete Kosmopolit, sich zu einem orientalischen Potentaten entwickeln würde. Was immer er anfaßte, geriet pompöser und prächtiger als die Hinterlassenschaften seiner Vorgänger, und bald schon hatte Ismail den Beinamen »der Prächtige«.

Ismail setzte seinen ganzen Ehrgeiz drein, Kairo dem Niveau europäischer Metropolen anzunähern oder es sogar zu übertreffen. Noch ehe Pariser Boulevards von Gaslaternen erhellt wurden, machten bei Einbruch der Dämmerung Kairoer Laternenanzünder in Turban und Kalabija die Runde. Zu seinen Lieblingsprojekten gehörten das Opernhaus, ein Theater in Kairo und Paläste, Paläste, Paläste. »Jeder Mensch«, meinte er einmal, »hat seine kleine Verrücktheit. Meine Verrücktheit sind Bausteine und Mörtel.« Vom Palast auf der Zitadelle von Kairo hatte Mohammed Ali einmal gesagt: »Solange meine Nachkommen die Zitadelle in Besitz halten, so lange herrschen sie über Ägypten.« Dieser Palast erschien Ismail als Residenz viel zu heruntergekommen und altmodisch, er ließ deshalb den Abdin-Palast errichten, welcher fortan den Vizekönigen am Nil als Regie -rungssitz diente. Daneben entstanden aber auch der Insha-Palast, der Ismailia-Palast mit der größten Parkanlage von allen, ein Palast auf der Nilinsel Gesira, der Giseh-Palast, der Zaaferan-Palast östlich von Kairo am Rande der Wüste und ein kleiner, aber feiner Palast in der östlichen Provinz Shar-kia, in dem Ismail nur insgesamt vier Stunden seines Lebens verbrachte.

Aber Ismail Pascha vernachlässigte auch die Provinz nicht. Er errichtete Brücken, Kanäle und Zuckermühlen. Unter seiner Regentschaft wurde Alexandria zum größten Hafen des Mittelmeeres ausgebaut. Oberägypten erhielt Eisenbahnanschluß, und eine Telegraphenlinie ließ er bis in den Sudan verlegen.

In der Wüste südöstlich von Kairo, am Abhang des Moka-tam-Gebirges bei der Ortschaft Heluan, wurde ein mondäner Kurort aus dem Sand gestampft. Schwefelquellen sprudelten hier seit alters her und versprachen heilsame Wirkung. Jetzt wurde fruchtbare Erde aus dem Delta herbeigeschafft, ein quadratisches Straßennetz angelegt und ein Grandhotel nach dem Vorbild gleichrangiger Etablissements an der Cote d'Azur errichtet. Und da er einheimischen wie ausländischen Badegästen einen 3o-Kilometer-Kamelritt ersparen wollte, baute Ismail eine direkte Eisenbahnlinie nach Heluan. Durch die uralte Siedlung legte er moderne Straßenzüge mit Bäumen und Arkaden, und es war kaum zu übersehen, daß dabei die Pariser Rue de Rivoli Pate stand. 30000 Arbeiter legten schließlich in nur drei Monaten auch eine schnurgerade Prachtstraße zu den Pyramiden durch den Wüstensand. Dem Kanal-Projekt stand Ismail Pascha kaum weniger aufgeschlossen gegenüber als sein Vorgänger Said - mit Einschränkungen allerdings: Daß ein schmaler Landstreifen zu beiden Seiten des Kanals laut Vertrag zum Besitz der Kanalgesellschaft gehörte, war dem Pascha ebenso ein Dorn im Auge wie die unentgeltlichen Dienstleistungen der 35000 Arbeiter, die zum Kanalbau eingesetzt wurden. Die Forderungen des neuen Vizekönigs trafen die Com-pagnie Universelle du Canal Maritime de Suez gerade zu einem Zeitpunkt, da sie sich ohnehin in finanziellen Schwierigkeiten befand. Sollte sie auch noch Tausende von Arbeitskräften bezahlen, so drohte der Bankrott des Unternehmens. Doch Ferdinand de Lesseps, als Konstrukteur und Geschäftsmann gleichermaßen genial, fand auch diesmal einen Ausweg aus der Krise. Er überzeugte Kaiser Napoleon III. von der nationalen Notwendigkeit des Kanals für Frankreich und erhielt eine Finanzspritze von 84 Millionen Francs.

Lesseps hatte aus allen Teilen der Welt Facharbeiter ins Land geholt. Als er auch noch gigantische Bagger und Maschinen zu Schiff aus Frankreich herbeischaffte, die lustlosträge Arbeiter ersetzten, kam die Compagnie plötzlich mit 6000 Mann aus. Und die Eröffnung des ersten Teilstückes von Port Said zum Timsah-See bekehrte auch die letzten Zweifler.



Die Arbeiter, die der Kanalbau plötzlich freistellte, überschwemmten Kairo wie eine Flutwelle; sie verdingten sich bei den zahllosen öffentlichen Bauprojekten gegen gutes Geld und gaben es mit vollen Händen für Kleidung, Haschisch und Frauen aus. Für kirgisische Sklavinnen von edler weißer Hautfarbe zahlten sie Phantasiepreise, behängten sie mit Glitzerschmuck und brachten sie im Triumphzug in ihre Heimatdörfer. Gleichzeitig entstand in Kairo und Alexandria eine neue Schicht von Geschäftemachern und Spekulanten, Bankern und Betrügern. Am Nil hielt das Zeitalter der Eisenbahn- und Dampfschiffahrtgesellschaften, der Firmensyndikate und Bankgesellschaften Einzug. Ägypten wurde zum Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Aber ebenso schnell, wie er gekommen war, flaute der Baumwoll-Boom ab. Ismail Pascha wurde jedoch das Gefühl, im Mittelpunkt der Welt zu stehen, nicht los, er investierte, produzierte und lebte weit über seine Verhältnisse. Europäische Banken dienten ihm ihr Geld an. Der orientalische Pomp, mit dem Ismail sich umgab, war Sicherheit genug. Mit gekreuzten Beinen auf dem Diwan empfing der gedrungene Pascha, angetan mit dem türkischen Sambouli, einem dunklen, durchgeknöpften Gehrock, die Offerten des europäischen Geldadels. Goschen, Bischofsheim, Oppenheim und Rothschild vergaben Staatsanleihen. Und es schien, als brauche Ismail nur an seiner Wunderlampe zu reiben, und immer neue Wunder wurden Wirklichkeit. Das einzige, was diesem Land noch fehlte, war seine Vergangenheit.

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