VI. Weltausstellung in Paris

Man hätte meinen können, Mariettes ägyptischer Tempel und der orientalische Palast des Khediven wären von all den Wundern der Technik verdrängt worden, aber im Gegenteil: Zwischen Aufsehen erregendem Fortschritt und in die Zukunft weisenden Erfindungen war der altägyptische Tempel mit dem Grabschatz der Königin Ahotep und den Mumien die eigentliche Sensation.


Als nach über vier Stunden der Vorhang endlich fiel, sparte das verwöhnte Pariser Opernpublikum nicht mit Buhrufen. Am meisten aber kränkten den silberhaarigen Dirigenten die Zwischenrufe: »Wagner! Wagner!« Giuseppe Verdi verneigte sich höflich und verfluchte insgeheim das Publikum und seinen Agenten, der ihn überredet hatte, für die Pariser Weltausstellung eine große Oper mit Ballett und monumentalen Aufmärschen nach Schillers Schauspiel Don Carlos zu komponieren. Auguste Mariette und Heinrich Brugsch, die das Opernspektakel von einer Seitenloge verfolgt hatten, waren uneins in der Beurteilung. Der Franzose kritisierte, das Libretto sei verfälscht und das Stück viel zu lang, der Deutsche meinte, ein Wagner werde Verdi nie! Paris hatte Gesprächsstoff -zumindest für eine Nacht.

In dieser Nacht vom n. auf den 12. März 1867 gab sich tout Paris im Grandhotel am Boulevard des Capucines, nur wenige Schritte von der Oper entfernt, ein Stelldichein. Der Hotelpalast mit seinen 700 Zimmern, 60 Kellnern, 30 Köchen und einer Armada von Portiers, Stubenmädchen und Hausdienern, eigenem Telegrafenbureau, Postamt, Rohrpost, Friseursalon, Optiker und Schneideratelier galt als feinste Adresse. Undenkbar, daß sich in eines der fünf Stockwerke mit den Seitenflügeln Quartier de Scribe, Quartier de Boulevard und Quartier de l'Opera eine jener ebenso reizenden wie willigen Damen verirrt hätte, derenthalben ältere Herren gelegentlich nach Paris fuhren. Wer hier einer stattlichen Karosse entstieg und die breiten Sandsteinstufen auf persischen Teppichen zur glasgedeckten Halle emporschritt, wo Plafondmalereien mit Samt und Gold, Marmor und Mahagoni abwechselten, der zählte zu den Großen dieser Welt oder zumindest zur Pariser Hautevolee. Mariette konnte für sich in Anspruch nehmen, beiden anzugehören. Selbstsicher im Frack und Zylinder, seinen Freund Heinrich Brugsch untergehakt, betrat er die Halle. Henri de Pene begrüßte die beiden überschwenglich. Die Pariser kannten ihn als Schriftsteller und fürchteten ihn als Duellanten. Er gab die Gazette des Etrangers heraus, eine täglich erscheinende amüsante Hotelzeitung, die den Gästen frühmorgens unter der Zimmertüre hindurchgeschoben wurde und gehörte selbst zum lebenden Inventar des Grandhotels. »Monsieur le Directeur«, verbeugte de Pene sich höflich, »was macht der Tempel?«

Mariette, der sich auch außerhalb seines Wirkungsbereiches nur allzugerne als »Monsieur le Directeur« titulieren ließ - im Grandhotel waren Titel schließlich alles -, Mariette nahm den Zylinder vom Kopf, streifte die weißen Glacehandschuhe von den Fingern und sagte: »Bis zur Eröffnung der Weltausstellung in sechs Wochen steht der Tempel, in alter Pracht«, und als er de Penes ungläubiges Lächeln sah, fügte er hinzu: ». . . und wenn ich selbst Hand anlegen muß. - Meinen Freund Brugsch kennen Sie ja.«

»Bedauere sehr. Ich hatte noch nicht die Ehre . . .« »Dann haben Sie sie jetzt.«

Die beiden Herren tauschten Komplimente aus, sprachen über die mißlungene Opernpremiere und kamen schließlich auf das Thema Nr. 1 in diesen Tagen zu sprechen, die Verzögerung der Bauarbeiten für die Weltausstellung. Das elende Frühlingswetter hatte den Arbeitern aus aller Welt einen Strich durch die Rechnung gemacht, später Schnee und Regen hatten das erst im Vorjahr aufgeschüttete Erdreich auf dem Marsfeld in eine Schlammwüste verwandelt, in der die Transportwagen mit dem oft Tonnen schweren Ausstellungsgut steckenblieb und erst in stundenlanger Arbeit freigeschaufelt werden konnten. Mariette litt unter diesen Transportproblemen besonders, denn die Rekonstruktion des westlichen Philae-Tempels samt einem haushohen Pylon und einer Allee von zehn Sphingen erforderte die Anlieferung kolossaler Blöcke. Zum Glück hatten die Organisatoren der Ausstellung Eisenbahngeleise bis in das Zentrum des Marsfeldes verlegt; aber die Anforderungen, die der Transport an Ort und Stelle verursachte, erwiesen sich als aufwendig genug.

Henri de Pene sagte: »Man hört, Sie bedienten sich der Transportmittel, wie sie die alten Ägypter gebrauchten?« »Wir wären dumm«, antwortete Mariette, »wenn wir unsere Erkenntnisse in diesem Fall nicht anwenden würden. Die Pharaonen verwendeten Rollen, wenn sie den tonnenschweren Assuan-Granit vom Nil in die Wüste transportierten. Abgesehen davon, daß sie den Wagen als Transportmittel in ihrer Frühzeit noch gar nicht kannten, im Wüstensand wäre er nutzlos gewesen. Mit Hilfe der Rollen zogen sie aber selbst gewaltige Steinkolosse durch die Wüste. Zwischen dem fließenden Sand der Libyschen Wüste und durchweichtem Erdreich des Marsfeldes ist technisch gesehen kein Unterschied . . .«

»Das ägyptische Areal liegt, soweit ich mich erinnere, oh-nehin günstig, nahe dem Quai d'Orsay und dem Haupteingang.«

»Wir sind zufrieden«, antwortete Mariette, »der Palast des Paschas und der Tempel werden gewiß das Interesse des Publikums finden. Wer hat heute schon die Zeit und das Geld für eine Ägyptenreise!«

»Und es ist richtig, daß Sie originale Mumiensärge und den Schmuck einer altägyptischen Königin ausstellen?« »Gewiß. Die Schätze befinden sich bereits in Paris. Aber Sie werden verstehen, daß ich Ihnen nicht sage, wo.« Brugsch beobachtete während des Gesprächs das flanie -rende Abendpublikum und kam sich in seinem abgetragenen Frack etwas armselig vor. Trugen die Herren vorwiegend Schwarz und konservativ, so wirkten die Damen extrem modisch in ihren gerafften und gerüschten Abendroben, die -neuester Auswuchs extremer Modetollheit - nicht mehr bis zum Boden reichten, sondern bisweilen bis zur Wade gerafft, den Blick auf rote Stiefelchen freigaben. Rote - wohlgemerkt, nicht weiße oder schwarze! Vorwiegend rot waren auch die Haare der Damen, zumindest aber rotblond. Keine Dame der Gesellschaft konnte es sich in diesen Tagen leisten, brünettes oder schwarzes Haar zu tragen, es mußte rot sein und nach chinesischem Vorbild zu einem Chignon geformt. Für Messieurs hingegen erwies sich das kurze spanische Backenbärtchen als nahezu verbindlich. Tagsüber auf den Boulevards, in den Cafes, im Bois und um die Madeleine, promenierten die Pariser weit verwegener: die Herren in engen Pantalons von preußischem Militärschnitt, schmalgeschnittenen kurzen bis zum Ende des Rückgrates reichenden Jacketts, auf dem Kopf den russischen Mudschicks-Hut. Die Damen, oder jene, die sich dafür hielten, erschienen zur Promenade in kurzem, engem, unterhalb des Knies gezacktem Seidenrock, unter dem Strümpfe und Stiefelchen sichtbar wurden, an denen herausfordernde Troddeln baumelten, quel scandal!, um die Aufmerksamkeit noch mehr auf das zierliche Fußgelenk zu ziehen. Dazu über engem Mieder ein kurzes Jäckchen bis zur Taille, ein breiter Hut und zugeklappter Regenschirm. »Und wie gefällt Ihnen Paris?« fragte Henri de Pene den preußischen Begleiter Mariettes, als errate er dessen Gedanken.

Brugsch wurde verlegen: »O doch, sehr gut. Ich kenne Paris schon von meinen Studienjahren. Ein Berliner wie ich bekommt in Paris immer Minderwertigkeitskomplexe.« Er lachte.

»War es nicht Alexander von Humboldt, der einst sagte, nur in Paris könne man arbeiten?« »Das ist richtig«, antwortete Brugsch, »aber Humboldt dachte dabei natürlich an die zahlreichen Akademien, an die Wissenschaftsvereine, Museen, Bibliotheken und Institute, die so viel Bildungsgut und Wissen vereinigen.« »Und sicher auch an die große Zahl hervorragender Männer und Gelehrten«, unterbrach de Pene, der in die Runde blickte und eifrig Namen notierte. »Wissen Sie«, sagte er ohne aufzusehen, »in Paris feiert die Eitelkeit wahre Triumphe, und ein Chroniqueur wie ich lebt von nichts anderem als von dieser Eitelkeit. Keine Zeitung kann es sich heute noch leisten, auf den Chroniqueur zu verzichten. Wer eine Soiree gibt, verlangt, daß morgen alle Zeitungen darüber berichten, vor allem aber, daß alle Besucher von Rang Anspruch haben, namentlich erwähnt zu werden, und stets mit dem Zusatz: rien de plus noble oder plus spirituel.«

Heinrich Brugsch, dem derlei aus Berlin unbekannt war, staunte: »Dann müssen Sie ja ganz Paris dem Namen nach kennen!«

»Aber keine Frage, mon eher! Eine Flasche Champagner für jeden hier in der Runde, dessen Name mir nicht geläufig ist!«

Der Preuße blickte sich listig lächelnd um, sah de Pene an und entschied sich schließlich für zwei leicht verwegen drein-blickende Männer, die vor einer Spiegelwand mit theatralischen Handbewegungen gestikulierten: »Wer sind diese beiden?«

Henri de Pene machte eine abfällige Handbewegung: »Zwei verrückte Maler. Der ältere heißt Gustave Courbet. Er sollte eigentlich Pfarrer werden, aber dann fing er an zu malen. Auf der letzten Weltausstellung 1855 wollte er hundert Bilder ausstellen, und als dies abgelehnt wurde, zimmerte er eine eigene Baracke und nannte sie Pavillon du Realisme. Seither fühlt er sich als Revolutionär und verlangt von der Regierung, sie solle die aus 1200 erbeuteten Kanonen gegossene Säule von Austerlitz auf der Place Vendome einreißen -ein Verrückter.« »Und der andere?«

»Der andere heißt Edouard Manet. Manet will es dem Alten gleichtun. Er gehört zu einer Malerclique, die sich im Cafe Guerbois in der Avenue Clichy trifft, er malt vorwiegend Pikanterien. Eine nackte Dame mit zwei bekleideten Männern nannte er >Frühstück im Grünen<. Das Bild wollte er sogar öffentlich ausstellen, und seine nackte >Olympia< wollte Manet auf dieser Weltausstellung zeigen. Natürlich wurde sie abgelehnt. Jetzt baut er ebenfalls eine eigene Baracke, um 50 seiner Pikanterien vorzuführen . . .« »Kompliment, Monsieur!« sagte Brugsch anerkennend. »Es scheint, Ihnen entgeht tatsächlich nichts in dieser faszinierenden Stadt.«

De Pene ließ den Blick über die Repräsentanten des vornehmen Pariser Lebens schweifen, nickte bisweilen freundlich mit dem Kopf und sagte dabei: »Wissen Sie, jeder hier trägt seine Geschichte mit sich herum und ist froh, wenn er sie Ihnen erzählen kann. Ich kann sehr gut zuhören.« Aus dem benachbarten Ballsaal drang Musik. Das Orchester spielte Offenbach.

»Monsieur du Locle, Monsieur du Locle!« Henri de Pene hielt einen kleinen Mann am Ärmel fest, der gerade an ihm vorbeihuschen wollte. »Wo bleibt Giuseppe Verdi?« Camille du Locle drehte sich um, trat an de Pene heran und sagte leise: »Der Maestro ist sehr ungehalten über das Pariser Publikum, er hat sich entschlossen, morgen in aller Frühe die Stadt zu verlassen. Er sei kein Komponist für die >Grande Boutiques so nennt er Ihr Opernhaus.« »Voila«, sagte de Pene, »das ist eine Sensation!« Und an Brugsch und Mariette gewandt: »Ich darf Sie mit Monsieur du Locle bekannt machen. Er schrieb das Libretto zu Verdis Oper Don Carlos.»

Mariette, der kurz zuvor die Textfassung der Oper kritisiert hatte, lobte nun plötzlich das Libretto geradezu pathetisch. Brugsch kannte seinen Freund Auguste genau, und so wartete er gespannt, welchen Zweck Mariette damit verfolgte. Das Rätsel löste sich schnell. »Ich habe da eine Geschichte geschrieben«, bemerkte Ma-riette, »sie spielt zur Zeit der Pharaonen und handelt von der unglücklichen Liebe der Königstochter Aida zu dem Feldherrn Radames. Ismail Pascha, dem ich das Werk zugeeignet habe, meinte, es sei es wert, von einem der besten Komponisten in Musik gesetzt zu werden. Der Khedive dachte an Gounod, Wagner oder Verdi . . .« »Interessant.« Camille du Locle dachte nach: »Für diesen Stoff gibt es doch nur einen Komponisten, und der heißt Verdi! Sie sollten mich einmal einen Blick in das Manuskript werfen lassen.«

»Der ägyptische Vizekönig ist ein großer Opernfreund«, fügte Mariette hinzu, »er baut gerade in Kairo ein großes Opernhaus. Es soll zur Eröffnung des Suezkanals eingeweiht werden. Verdi könnte Weltruhm erlangen, würde er für dieses Ereignis eine ägyptische Oper schreiben. Und Sie, Monsieur, sollten das Libretto liefern!« Henri de Pene sah du Locle fragend an: »Wie stehen die Chancen für dieses Projekt, was glauben Sie, mon eher?«

Der Textdichter verzog das Gesicht zu einer Grimasse und sagte gequält: »Das kommt natürlich auf die Bedingungen an ..,«

Mariette fiel ihm ins Wort: »Für die Großzügigkeit des Khediven kann ich mich verbürgen.« Als er den fragenden Gesichtsausdruck des Altertumsforschers sah, sagte de Pene: »Ich glaube, wir sind Monsieur Mariette und unserem Freund aus Berlin eine Erklärung schuldig. Sie müssen wissen: Jedes Opernhaus hat seine eigenen, ungeschriebenen Gesetze, die der Komponist zu respektieren hat. Und die Pariser Oper hat ganz besondere Gesetze. Wagner weigerte sich, seinen Tannhäuser umzuarbeiten und das Ballett im zweiten Akt auftreten zu lassen. Das Ergebnis: Tannhäuser fiel durch und wurde nach der dritten Aufführung zurückgezogen.«

Heinrich Brugsch schüttelte den Kopf: »Warum in aller Welt sollte Wagner das Ballett in den zweiten Akt verlegen?« »Monsieur«, sagte de Pene, »auch auf die Gefahr hin, daß Sie uns Pariser für frivol und dekadent halten - der Grund ist folgender: Paris hat zahlreiche einflußreiche Clubs, und der einflußreichste unter ihnen ist der Jockey-Club, lauter reiche Geschäftsleute und einflußreiche Beamte. Bei ihnen gehört es zum guten Ton, sich eine Ballerina zu halten - besser gesagt: sie auszuhalten. Vor einer Opernpremiere pflegen die Herren noch ausgiebig zu dinieren, und meist kommen sie erst zum zweiten Akt in die Oper. Wenn dann gerade ihre Favoritinnen auftreten, ist der Erfolg der Oper sicher.« »Aber das ist doch nicht möglich!« Mariette verschränkte die Arme vor der Brust. Brugsch zeigte sich eher belustigt. De Pene fuhr fort: »Was glauben Sie, warum Verdi mit seiner ersten Pariser Oper, der Sizilianischen Vesper, so großen Erfolg gehabt hat? Doch nur deshalb, weil er sich an die Spielregeln hielt.«

»Also in dieser Hinsicht möchte ich mich für Ismail Pascha verbürgen«, sagte Mariette. »Er würde an den Auftrag keine künstlerischen Bedingungen knüpfen, wenn sich der Maestro an meine Textvorlage hielte.« Die beiden vereinbarten ein Treffen in Kairo - wenn möglich sogar mit Giuseppe Verdi. Dann gingen sie zum Diner im großen Ballsaal.

Der 1. April 1867, der Termin der festlichen Eröffnung der Weltausstellung durch den Kaiser, rückte immer näher, aber das Wetter blieb naßkalt und machte alle Hoffnungen zunichte, das Jahrhundertwerk rechtzeitig zu vollenden. Dampfbagger hatten die gesamte Anhöhe des Trocadero vor dem Marsfeld abgetragen und mit der Erde den Ausstellungspark eingeebnet. Riesige Walzen fuhren von früh bis spät zischend und schnaubend auf und ab, um den Untergrund, die Straßen und Gehwege fester zu machen. Die ersten fertiggestellten Pavillons bekamen bereits Risse, die Fundamente versanken im Morast. Aber das Chaos auf dem Ausstellungsgelände wie in der Stadt, wo die immer zahlreicher anreisenden Aussteller nach einer Bleibe suchten, paßte irgendwie zu dieser Stadt, und niemand regte sich darüber auf. Die Pariser fühlten sich als Mittelpunkt der Welt. Die politische Lage war gespannt, manche Zeitungen orakelten sogar, die Weltausstellung könne vielleicht gar nicht eröffnet werden, weil ein Konflikt zwischen Preußen und Frankreich nicht mehr zu vermeiden sei. Nach Preußens Erfolgen gegen Österreich war der König der Niederlande an Napoleon III. herangetreten und hatte ihm Luxemburg angedient, wenn er die niederländische Souveränität garantiere. Dem aber wollte Preußen nicht zustimmen. Schließlich bahnte sich als politische Lösung die Neutralisierung Hollands an. Und Emile de Girardin, der populärste Pariser Publizist, der am lautesten mit dem Säbel gerasselt hatte, rückte in sein Blatt wieder Haute-Cuisine-Rezepte des legendären Baron Brisse, Cotelettes, Omelettes, Trüffel, Fasanen und Pastetchen ein und bot die gesammelten Anregungen des Freßbarons seinen Abonnenten als Prämie. Girardin, der seine Zeitungen billiger und bunter gestaltete als seine Konkurrenten, brachte sogar den altehrwürdigen Figaro dazu, die täglichen Speisebulletins »Causeries du Baron« in das Blatt zu nehmen.

Statt feindlicher Soldaten überschwemmte in diesen Tagen ein Heer hübscher Ballettmädchen die Stadt. Sie kamen mit der Eisenbahn auf dem Gare du Nord an, blieben ein, zwei Tage in Paris, und manche von ihnen reisten dann nach Le Havre weiter. Die Mitglieder des Jockey-Clubs konnten sich den plötzlichen Massenandrang von so viel Weiblichkeit nicht erklären, bis Henri de Pene das Geheimnis lüftete: Ein amerikanischer Theaterdirektor, der im Vorjahr mit einem Musikspiel in New York 600000 Francs verdient hatte, suchte Mädchen für seine neueste Produktion La Biche au Bois, und sein Agent hatte in Paris ein Anwerbungsbüro eröffnet, in dem die Mädchen Brüste und Beine zeigen mußten. Oft standen hundert Biches in der Schlange vor dem Büro, angereist aus London, Berlin, Petersburg, Odessa und Konstantinopel, und nicht selten war die Enttäuschung der abgelehnten Mädchen so groß, daß sie sich in die Arme irgendeines Mannes stürzten, dem sie nachts »au Gaz«, »im Laternenschein«, auf dem Montmartre begegneten. Brugsch und Mariette passierten die Schlange in einer Droschke, die sie von Poissy, wo der Direktor eine Villa mit Garten und zugehörigem Personal gemietet hatte, zum Marsfeld brachte. Droschken waren, seit Paris von Fremden überschwemmt wurde, Mangelware, und die Kutscher, die, mit gelber Nummer versehen, einspännig bisher i Franc 50 bekamen, verlangten nun das Doppelte, die vornehmeren rot nummerierten ließen sich am Sonntag eine Fahrt im Bois de Boulogne sogar mit 25 Francs honorieren. »Würdest du«, fragte Mariette beim Anblick der hübschen Mädchen Heinrich Brugsch, »würdest du noch einmal heira--ten wollen?«

Der Deutsche blickte mißmutig vor sich hin und fragte schließlich: »Und du?«

»Eleonore war eine wunderbare Frau«, sagte Mariette, »ich glaube nicht, daß man sie ersetzen kann.« »Pauline hat mich verlassen«, sinnierte Brugsch, »und manchmal kann ich es ihr gar nicht verdenken. Ich glaube, Männer wie wir taugen nicht für die Ehe.« Mariette schwieg und betrachtete mit Interesse die entgegenkommende Equipage oder besser die vornehme Dame darin, sie kam gewiß aus dem Quartier St. Germain und war eine mexikanische Witwe - so nannte man die aufgeputzten Kokotten. In Begleitung rot und blau gefärbter Pudel beklagten diese Damen gern ihr ungewohntes Alleinsein, der Herr Gemahl sei im Krieg geblieben, wissen Sie. »Die Kerle in der Droschke hinter uns verfolgen uns seit Poissy«, brummte Mariette. »Ich kann mich irren, aber mir ist, als hätte ich die Gesichter schon einmal gesehen.« Brugsch blickte sich um und hob die Schultern. »Paris«, sagte er plötzlich, »wie hast du dich verändert. Wo sind die schattigen Wege der Champs-Elysees? In Boulevards und Hotels haben sie sich verwandelt, Steine, Gerüste, Kalkgruben, Lieferkarren und Lärm. Das Paris der beiden Kardinale, der Klassiker und des großen Monarchen . . .« Der Franzose antwortete mit einem Seufzer: »Paris brauchte 1850 Jahre, um eine Million Einwohner zu erreichen, aber für die zweite Million brauchte die Stadt nur noch sechzehn Jahre. Paris ist nicht gewachsen, Paris ist explodiert. Neubauten, soweit das Auge reicht. In vierzehn Jahren wurden 17000 alte Häuser eingerissen und neu aufgebaut. Kannst du dir das vorstellen, Henri? Die Pariser sind nahezu süchtig nach neuen Bauten. Sie wohnen heute lieber im fünften Stockwerk als ohne Gas und Wasser.« Die Droschke bog zum Pont d'Jena ein, und das Pferdchen begann zu traben. Auch der Kutscher hinter ihnen beschleunigte seine Fahrt. Das Marsfeld war eingerahmt von zahllosen Bretterbuden und Baracken, primitiven Restaurants und Büffets, in denen sich Tausende von Bauarbeitern aus aller Welt nach Art ihres Heimatlandes verköstigten. Fremde Düfte, exotische Gerichte und nie gehörte Namen bestärkten die Pariser in dem Verdacht, hier würden Hunde und Katzen zerhackt und zerkleinert als Delikatessen serviert.

Mariette bezahlte den Droschenkutscher, und die beiden strebten von der Porte Rapp dem ägyptischen Areal zu. Dabei passierten sie den französischen Ausstellungsteil, der die Hälfte des gesamten Parks für sich in Anspruch nahm und kaum weiter gediehen war als die Pavillons der ausländischen Aussteller, die sich daran anschlössen. Die Rue de Flandre und die parallel zu ihr verlaufende Rue de France führten geradewegs auf den Jardin Central, wo der Industriepalast seiner Vollendung entgegenging, eine gigantische Eisenkonstruktion, dreischiffig, eine moderne Basilika, allein das Mittelschiff 236 Meter lang, 80 Meter breit und 40 Meter hoch, in dreifacher Ausdehnung, beinahe doppelt so groß wie Notre-Dame. Dahinter arbeiteten die Ausländer an ihrer Selbstdarstellung: Zur Linken die Niederlande und Belgien, anschließend Preußen, Süddeutschland, Österreich, die Schweiz, Spanien, Portugal, Rußland, Italien, der Kirchenstaat, die Donau-Fürstentümer, Türkei, Siam, China und Ägypten.

Die Chinesen legten letzte Hand an ihr Theater, von den Russen wurden malerische Wohnhäuser errichtet, das Badehaus der Türken war bereits fertiggestellt, und im Park der Österreicher standen zwei riesengroße Lokomotiven von Fink und Sigl in Wien. In einem eigenen Pavillon präsentierten die Österreicher eiserne Geldschränke der Firma Wertheim sowie eine original Wiener Bäckerei. Zwischen ratternden Maschinen, auf- und abrollenden Dampflokomobilen, kreischenden Sägen und lärmenden Dampfhämmern stand der Pylon, durch den man den ägypti-

sehen Ausstellungsteil betrat, recht fremdartig in der Landschaft. Einzig das Minarett der türkischen Moschee auf der anderen Straßenseite, dessen goldener Halbmond weit sichtbar in den Himmel ragte, vermittelte den Eindruck, daß neben der Industrie auch die Kultur als ausstellungswert galt. Die Allee der gewaltigen Sphingen, die zu dem Tempel führte, war frühzeitig mit Steinplatten ausgelegt worden und hatte dem Regenwetter der vergangenen Wochen erfolgreich getrotzt.

»Sieh doch, Henri«, sagte Mariette und stieß Brugsch in die Seite, »die Kerle verfolgen uns immer noch!« Der Preuße meldete Zweifel an, ob es sich um die beiden Männer aus der Droschke handelte. Von weitem sähen neunzig Prozent aller Männer gleich aus.

Im Innenraum des Tempels, der bis auf unbedeutsame Details fertig war, verlegten Arbeiter Gasleitungen für die Beleuchtung. Mariette korrigierte die einzelnen Standorte der Lichtquellen, zeichnete rote Kreuze an die Wand und besprach mit dem französischen Vorarbeiter die Pläne. Daß Heinrich Brugsch auf einmal verschwunden war, störte ihn zunächst nicht, dachte er doch, der preußische Freund habe sich wegen seiner Geschäftigkeit aus dem Staube gemacht, um die Kanone von Krupp in Essen zu begutachten, die tags zuvor auf dem Schienenwege eingetroffen war, ein Ungetüm von tausend Zentnern für Pulverladungen von tausend Pfund. Doch dann dämmerte der Abend, auf dem Marsfeld blinkten die ersten Lichter auf, beleuchteten phantastische Architekturen, bildeten Lichtstränge, Flammengürtel um haushohe Maschinen. Nun begann Mariette sich doch Sorgen zu machen. Seit die Zeitungen über den Goldschatz der Königin Ahotep berichtet hatten, fühlte er sich verfolgt. Nur zwei Männer, so war zu lesen, wüßten, wo der Schatz in Paris lagere: Auguste Mariette und Heinrich Brugsch. Paris quoll in diesen Tagen der Eröffnung der Weltausstellung auch von zwielichtigem Gesindel über, das von dem bevorstehenden Ereignis angezogen wurde. Nie gab es so viele Taschendiebe, Zuhälter und andere Verbrecher in dieser Stadt. Sollte Brugsch das Opfer einer Entführung geworden sein?

Im Dunkel des Tempels erkannte Mariette eine schmächtige Gestalt; doch noch ehe er irgend etwas sagen konnte, löste sich die Gestalt aus dem Schatten, trat auf ihn zu, ein junger Mann von vielleicht zwanzig Jahren. »Entschuldigen Sie, Monsieur«, sagte der Jüngling, »ich habe lange auf diesen Augenblick gewartet, seit meinem vierzehnten Lebensjahr träume ich davon, Ihnen einmal zu begegnen . . .« »Und was versprechen Sie sich von dieser Begegnung?« fragte Mariette. Der junge Mann antwortete: »Ich habe so viel von Ihnen und Ihren Entdeckungen gehört, daß es für mich nur den einen Wunsch gab, ein Altertumsforscher zu werden, so wie Sie!«

Mariette strich über seinen Bart, runzelte die Stirn und knurrte: »So ist das also.«

»Ich heiße Gaston Maspero«, sagte der junge Mann, »meine Eltern stammten aus Milano, ich bin aber in Paris geboren, habe das Gymnasium besucht und beschäftige mich seitdem mit ägyptischer Geschichte, vor allem mit der Entschlüsselung von Hieroglyphen-Texten.« »Und mit welchem Erfolg?«

»Ich kann heute jeden Text ohne Schwierigkeiten lesen.« »Dann sind Sie erfolgreicher als ich«, antwortete Mariette, »mir bereiten Hieroglyphen-Texte bisweilen großes Kopfzerbrechen.«

»Wenn ich Ihnen nur einmal behilflich sein könnte .. .« Mariette sah den jungen Mann mißtrauisch an. Er machte durchaus nicht den Eindruck eines Phantasten. »Wissen Sie was, Gaston«, sagte er nach einer Weile, »begleiten Sie mich nach Poissy, ich wohne dort und würde Ihnen gerne zwei Textabschriften geben. Da dürfen Sie dann zeigen, was Sie können.«

»Ich danke Ihnen, Monsieur«, rief Maspero begeistert und versuchte, die Hand Mariettes zu fassen. »Schon gut«, sagte der, »kommen Sie, wir versuchen, eine Droschke zu bekommen.«

Die Boulevards der Stadt erstrahlten im Lichterglanz. 40000 Gaslaternen gab es in Paris, endloser Goldflitter, betörend für die Fremden aus aller Welt. Jetzt kam die geheiligte Stunde des Diners. Nicht die zahlreichen Restaurants mit prix fixe von zwei bis fünf Francs, auch nicht die vielen ausländischen Gastronomiebetriebe wie das Petersche amerikanische Restaurant oder das deutsche Zöhls in der Rue de Rougemont, dicht am Boulevard Poissonniere, waren das Ziel der Pariser Gourmets, sondern Restaurants erster Klasse wie das Maison doree, das Cafe de Foy, das Cafe Riche oder - natürlich - das Cafe Anglau am Boulevard des Italien und die Freres Provenfaux im Palais Royal. Hier speiste man, nein, man tafelte zwischen Spiegeln, Gasflämmchen und Appliquen an langen Tischen mit weißen Tischdecken, die oft bis zum Boden reichten und die Arbeit der Biches erschwerten, die mit den kleinen Mignon-Füß-chen ihr Gegenüber zu ertasten suchten. Und manch ein Fremder, der eines dieser noblen Etablissements mit wohlgefüllter Brieftasche betrat, um den eigenen Hunger zu stillen und um über Bismarck oder Palmerston zu diskutieren, sah sich unvermittelt einer dieser Biches gegenüber, konnte ihr den Wunsch nach Austern und Trüffeln nicht abschlagen und verausgabte sich völlig, wenn er nicht gar im Schuldgefängnis von Clichy landete.

»Ich mache mir Sorgen um meinen Freund Heinrich Brugsch«, sagte Mariette, während die Droschke über den Pont d'Jena rollte, »er ist verschwunden.« Warum er sich sorgte, sagte Mariette nicht. Gaston Maspero versuchte sein Gegenüber zu beruhigen, gewiß habe er sich bereits nach Hause begeben. Doch diese Hoffnung war trügerisch.

Die Mädchen in der Salle Valentine warfen die Beine schneller empor, als das Orchester auf dem goldumrankten Podium spielen konnte. Sie rissen ihre roten Röcke hoch und ließen nur allzugerne ihre fleischfarbenen Trikots blitzen, was als weit frivoler galt als das Herzeigen des mit Rüschen besetzten Höschens. Dabei stießen sie hohe Schreie aus. Vor vierzig Jahren war dieser Cancan noch ein angenehmer Gesellschaftstanz, aber Tänzerinnen wie die Rigolboche hatten daraus eine Vorführung gemacht, ganz Paris war inzwischen süchtig nach Cancan. Früher, als die Zeit noch anständig war, gab es in jedem Tanzlokal einen Sergeant, der einer in Ekstase geratenen Grisette auf die Schulter klopfte und leise »premiere fois« sagte. Ein zweiter Tupfer, und sie mußte das Lokal verlassen. Aber das war lange vorbei. Heinrich Brugsch dämmerte in einer Ecke des tobenden Lokals vor sich hin und starrte, wenn die Sicht es gerade zuließ, unter die Röcke der wilden Tänzerinnen. Vor ihm stand bereits der fünfte Absinth. Er hatte Mühe, die Augen offenzuhalten, als ein kleines zierliches Mädchen mit einer roten Schleife im blonden Haar von hinten an ihn herantrat, die Hände vor seine Augen hielt und keck fragte: »Kuckuck, wer bin ich?«

Der Preuße zog die kleinen Porzellanfingerchen vom Gesicht und drehte sich um: »Nee, nicht mit mir, Mademoi-selle«, sagte er mühsam.

Das Mädchen lachte laut: »Aber det jiebt es ja nicht, du bist wohl auch aus Berlin, wa?«

Der heimische Dialekt wirkte auf Brugsch ernüchternd, er riß sich zusammen, versuchte sich höflich zu erheben, und brummelte mit einer angedeuteten Verneigung: »Johannisstraße, jawoll.«

»Wedding, anjenehm«, antwortete die Kleine und fügte artig hinzu: »Ich heiße Tildchen.«

»Na, laß man, Tildchen«, meinte Brugsch, »geh man lieber an 'n Nebentisch. Ich bin froh, wenn ich meinen eigenen Absinth bezahlen kann.«

»Wat denn«, gab das Blondchen zu bedenken, »siehst aber jarnicht so aus, könntest richtig was Besseres sein, wa?« »Was Besseres!« Brugsch lachte gequält. »Vielleicht bin ich sogar was Besseres. Aber leben kannst du davon nicht!« »Na sach doch mal, wat machste denn?« »Privatdozent«, antwortete Brugsch und wagte nicht einmal aufzusehen.

Das Mädchen verzog das grellgeschminkte Gesicht, als hätte der Mann gerade etwas besonders Ekelhaftes von sich gegeben; dann bemerkte sie: »Ach du grüne Neune, so sieh-ste aber jarnich aus. Hast wohl och 'n Doktor, wa?«

Brugsch nic kte.

»Na, mußt dir ja nicht gleich schämen«, versuchte Tildchen zu trösten, »von wegen dem Doktor, kannst ja trotzdem ein janz anständiger Mensch sein .. .« »Nur daß man vom Anstand so schlecht leben kann«, meinte Brugsch und rief: »Garcon, einen Absinth für Made-moiselle!«

»Nee, nee, laß man«, wehrte das Blondchen ab, »von 'nem armen Akademiker nimm ich nischt, wa.« »Laß man gut sein«, antwortete Brugsch, und Tildchen nahm neben ihm Platz: »Na, denn bin ick halt so frei.« Brugsch sah die Kleine zum erstenmal richtig an. Hübsch war sie, eigentlich viel zu hübsch. »Suchst wohl nach einem Freier?« fragte er schließlich. Tildchen entrüstete sich: »He, wat soll'n det. Ick bin nich so eene, wie du denkst, vastehste! Ich bin hier auf Arbeitssuche von wegen det Ballett.« »Und?«

»Nu nischt. Nich genommen haben sie mir von wegen meine Titten, war ihnen zu wenig, wa.« »Und nun?«

»Nu fahr ick wieder nach Hause und geh in die Knopffabrik. Und du?«

Brugsch hob die Schultern. »Ich arbeite auf der Weltausstellung beim Aufbau des ägyptischen Tempels. Der Tempel steht nun, und in ein paar Tagen sitze ich wieder auf der Straße.«

»Wat denn, du als Akademiker?« - Tildchen sprach das Wort mit mindestens drei i.

»Ach, weißt du, Kleine, wenn du mit 40 noch nicht Boden unter den Füßen hast, dann schaffst du es nie mehr. In jungen Jahren habe ich mich als Ausgräber in Ägypten rumgetrieben, für Ehre und Vaterland und für die Wissenschaft, dann war ich Konsul in Kairo - nur für die Ehre, habe mein letztes Erspartes ausgegeben, und nu bin ich froh, wenn ich irgendwo einen Vortrag halten kann oder vielleicht einen

Forschungsauftrag bekomme. Das ist das Schicksal eines preußischen Akademikers.«

»Armer Kerl«, versuchte Tildchen den weinerlichen Doktor zu trösten, »wat nich is, kann ja noch werden. Biste verheiratet?«

Heinrich Brugsch schwieg.

Das Blondchen dachte nach. »Ach, so is det.« Und nach einer Weile: »Haste 'ne Bude?«

»Nein, Mädchen«, antwortete Brugsch, »ich kann dich nicht mitnehmen, ich wohne in Poissy bei einem Freund in einer hochherrschaftlichen Villa mit Stubenmädchen und Köchin.«

»Ick verstehe.« Tildchen nickte. »Von wegen die Conte-nance, wa. Kannst ja mit mir mitkommen, wenn du willst. Ne Villa ist es nich, aber ne schnuckelige Herberge im Quartier Lateng. Mußt halt dem Portier 'nen Franc extra geben.« »Garcon«, rief Brugsch, »noch zwei Absinth!«

Für Mariette war klar, daß Brugsch das Opfer einer Entführung geworden war. Irgendwelche Gangster wollten ihn erpressen, damit er den Aufbewahrungsort des Pharaonenschmucks verriet. In dieser Nacht tat der Franzose kein Auge zu. Er beschloß, am nächsten Morgen auf jeden Fall die Polizei einzuschalten.

Doch am nächsten Morgen entstieg Dr. Heinrich Brugsch vor der Villa in Poissy einer Droschke und erklärte dem bestürzten Freund, er habe seinen Katzenjammer eine Nacht lang in Absinth ertränkt. Mariette begriff sofort die Ursache dieses Stimmungstiefs. Die Vorbereitungen der Weltausstellung waren beendet, Brugsch war praktisch arbeitslos. Mariette bat deshalb Emmanuel de Rouge, Professor am College de France, Konservator am Louvre und im Rang eines Staatsrates, um eine Unterredung. Der Graf kannte Brugsch seit frühester Jugend. Er hatte ihn sogar in Berlin besucht, als ihn die Kunde erreichte, ein Wunderknabe schreibe an einem Lehrbuch der ägyptischen Sprache. Die Begegnung war herzlich.

Brugsch solle, schlug der Professor vor, an seinem College Vorträge über demotische Schrift und Literatur halten, dafür wolle er ihm seine Besoldung als Professor, immerhin 12000 Francs im Jahr, abtreten. Das Einverständnis Kaiser Napole -ons vorausgesetzt, solle Brugsch damit eine Lebensstellung verschafft werden. Die Zukunft des Preußen schien gesichert.

Auf Vermittlung Madame Cornus, einer Milchschwester des Kaisers, Erzrepublikanerin zwar, aber ständiger Gast beim kaiserlichen Abendtee, wurde Heinrich Brugsch zu einer Audienz gebeten. Napoleon stand in einer Fensterecke, redete in deutscher Sprache und stellte Fragen über Leben und Schicksal des Forschers, bevor er auf sein Lieblingsthema, Julius Cäsar und die Eroberung Alexandrias, zu sprechen kam. Schließlich erklärte er, er werde Heinrich Brugsch bereits nach einjährigem Aufenthalt in Frankreich die französische Staatsbürgerschaft erteilen. Im Normalfall dauerte das zehn Jahre.

So glücklich Brugsch über das Angebot war, so sehr schreckte Brugsch die Schnelligkeit, mit der die Einbürgerung vonstatten gehen sollte. Er bat um zwei Wochen Bedenkzeit und reiste nach Berlin.

Am 1. April 1867 eröffnete Napoleon III. die Weltausstellung wie vorgesehen, obwohl die meisten Pavillons noch nicht fertig und viele Attraktionen nicht einmal ausgepackt waren. Und das Wunder geschah: Nach wochenlangem Regen schien plötzlich die Sonne. 55000 Besucher drängten sich tagtäglich auf dem Marsfeld, süchtig nach Sensationen, von denen es nicht wenige gab: Für einen Franc konnte man in Giffards »gefesselten Ballon« steigen. Sechzehn Personen bot die schwankende Gondel Platz. Eine Dampfmaschine mit zwanzig Pferdestärken zog die aussichtstrunkene Gesell-

Schaft an einem Drahtseil auf die Erde zurück. Schwindelig, sich übergebend, wankten die Menschen in höchster Erregung aus der Gondel, sie hatten das Gefühl erlebt, zu fliegen. Nicht ganz so hoch - aber doch aufregend genug - hievte der Edouxsche Aszensions-Apparat besonders Mutige auf das Dach des Industriepalastes, eine Art Fahrstuhl - die Treppe, so wurde lautstark prophezeit, habe im 19. Jahrhundert ausgedient, die Belle Etage werde künftig im vierten oder fünften Stockwerk liegen, mit Aszensionsapparat erreichbar. Weithin sichtbar und nachts seine Feuerzeichen in den Himmel schreibend, war der französische Leuchtturm zu besichtigen, der nach dem Ende der Ausstellung ab- und an den Klippen von Roche-Douvres in der Bretagne wieder aufgebaut werden sollte.

Der eigentliche Industriepalast, mit der Hauptfassade dem Pont d'Jena zugekehrt, überspannte in Form einer Ellipse -auf einem Gerippe aus Gußeisen bogenförmig eingedeckt mit Glas und gewalztem Zink - in gewaltiger Ausdehnung eine Gartenanlage mit Pflanzungen, Springbrunnen und eine Villa, in der Münzen und Gewichte verschiedener Nationen zur Schau gestellt wurden.

Man hätte meinen können, Mariettes ägyptischer Tempel und der orientalische Palast des Khediven wären von all den Wundern der Technik verdrängt worden, aber im Gegenteil: Zwischen den Zeugnissen aufsehenerregenden Fortschritts und in die Zukunft weisenden Erfindungen war, wie schon erwähnt, der altägyptische Tempel mit dem Grabschatz der Königin Ahotep und den Mumien die eigentliche Sensation. Der Technik begegnete man inzwischen schon allerorten, aber Ägypten und seine Vergangenheit waren noch immer unerreichbar, faszinierend und exotisch. Die Menschen standen Schlange.

Der Anziehungskraft der Exposition erlagen ausländische Potentaten, Staatsmänner und gekrönte Häupter, der Zar von Rußland und der König von Preußen. Dann, eines Ta-

ges, meldeten die Zeitungen: »Die späten Enkel werden davon reden: Der Sultan des Osmanischen Reiches kommt!« Nach den Gesetzen des Islam, so war zu lesen, dürfe der Sultan sein Reich eigentlich niemals verlassen - es sei denn als Eroberer an der Spitze einer siegreichen Armee. Wunderdinge erzählte man hinter vorgehaltener Hand über den Fürsten aus dem Orient. Unsagbar reich sollte er sein, Brillanten tragen von siebzig Karat, Frauen haben, für jeden Tag mehrere, Grausamkeit wurde ihm nachgesagt und faszinierende Häßlichkeit.



Die Weltausstellung hatte den Geschäftssinn der Pariser ins Unermeßliche gesteigert. Vermieteten sie bislang den müden Besuchern Stühle zum Preis von zwei Sous, so verkauften sie nun zum Empfang des Sultans ihre Fenster zum Mindestpreis von zwei Francs - vorausgesetzt natürlich, sie lagen am Weg, den die Kutsche nahm. Die Rue de Rivoli hinauf zu den Tuilerien hingen die Menschen aus den teuer erkauften Fenstern, sie standen auf selbstgezimmerten Gerüsten und Leitern und rauften sich um eine Gaslaterne. Überall Fahnen, der weiße Halbmond auf rotem Grund, aber auch die russischen und preußischen Farben; denn aus Courtoisie ließ man die Fahnen jener Länder hängen, deren Monarchen bereits zu Besuch gekommen waren. Zu beiden Seiten der Straßen hielten Soldaten die schiebenden, drängenden Menschenmassen zurück. Zwei Stunden später als angekündigt, nahten sich endlich die GardeUlanen, gefolgt von einer farbenprächtigen Hundertgarde. Und dahinter kam er - wie enttäuschend - zweispännig schlicht in einer offenen Kutsche, rechts neben Kaiser Napoleon, Sultan Abdul Aziz, mittelgroß, bleichgesichtig mit schwarzem Vollbart, im dunklen Gehrock, den roten Fez auf dem Kopf. Ihnen gegenüber saßen Prinz Napoleon und der türkische Außenminister Fuad Pascha. In neun Hofwagen folgte ein Heer von Begleitern. Kaiserin Eugenie hieß den illustren Gast an der großen Haupttreppe der Tuilerien willkommen, dirigiert von vier himmelblau gekleideten Zeremonienmeistern, im Spalier acht rotlivrierter Kammerherren. Zum Elyseepalast, wo der Sultan Wohnung nahm - zuvor hatte hier Zar Alexander logiert -, ging der Zug durch den Tuilerien-Park über die Place de la Concorde und die Champs-Elysees.

Der Moniteur berichtete, im sogenannten silbernen Saal, dessen Einrichtung noch von Napoleon I. stammte, habe man in der Mitte ein Marmorbecken samt Springbrunnen für die täglichen Waschungen installiert, die der islamische Glaube dem Sultan vorschreibe. Das große Spektakulum, als Fest des Friedens angekündigt, fand tags darauf im Industriepalast auf dem Ausstellungsgelände statt. Zwanzigtausend Menschen, ausgewählt nach Rang oder persönlichem Verdienst, fieberten dem Eintreffen des Sultans entgegen. Er erschien zu den Klängen einer Friedenshymne, die ein Orchester von 800 Musikern intonierte. »Paix sur la terre!« erscholl aus den Kehlen von 600 Sängern, als sich vom gewölbten Glasdach der eisernen Halle die Flaggen der teilnehmenden Nationen entrollten. Sultan Abdul Aziz betrat den Prachtbau Arm in Arm mit Kaiserin Eugenie, gefolgt von Kaiser Napoleon. Einfach wie am Vortag war die Kleidung des Sultans, ein schwarzer Oberrock mit engen Beinkleidern, roter Fez, an der linken Seite ein krummer Säbel in goldener Scheide. Abdul Aziz trug nicht einmal Handschuhe. Das weiße Schleppkleid der Kaiserin Eugenie aus Atlas und Samt war mit Perlenschnüren besetzt und glitzerte mit dem Perlen-Diadem im Haar um die Wette. Zur Feier des Anlasses hatte Eugenie das berühmte Collier des Kronschatzes mit dem »Regenten« angelegt. Napoleon selbst wetteiferte mit seinem orientalischen Gast in der Schlichtheit der Garderobe, der Kaiser trug einen einfachen dunklen Gehrock.

Diesem Dreigestirn folgten die Kronprinzen von England, Preußen, Italien und Sachsen, der türkische Thronfolger, Prinz Napoleon und Ismail Pascha. Danach Prinzen und Prinzessinnen, Hofdamen, Kammerherren und Diplomaten - unter ihnen Auguste Mariette und Ferdinand de Lesseps. »Ich könnte mir vorstellen«, flüsterte Mariette seinem Nachbarn zu, »daß Ismail Pascha blaß vor Neid ist, wenn er diesen pompösen Aufzug betrachtet.« »Zumindest wird er nicht ohne Wirkung bleiben. Der

Khedive hat sich ja für die Eröffnung des maritimen Kanals einiges vorgenommen und auf seiner Europareise fleißig Einladungen verteilt. Kaiser Napoleon hat schon zugesagt. Es würde mich nicht wundern, wenn Ismail Pascha versuchen würde, das heutige Spektakel noch in den Schatten zu stellen.«

Mariette war etwas skeptisch. »Ägypten ist nicht Paris«, raunte er, »aber Paris ist auch nicht Ägypten«, meinte Les-seps.

»Sie mögen recht haben«, meinte Mariette schließlich, »die Sache mit der Eröffnungsoper ist übrigens perfekt. Verdi wird sie komponieren.« »Nach Ihrer Vorlage? - Gratuliere!« »Du Locle wird meine Aida-Geschichte in eine Textvorlage umarbeiten.«

»Sie werden in die Musikgeschichte eingehen, mon eher!« Lesseps schmunzelte.

Mariette erwiderte: »Mir würde es genügen, wenn ich mir bei der Entdeckung der Geschichte Ägyptens einen Namen machte. Aber - unter dem Siegel der Verschwiegenheit - wissen Sie, was der Maestro fordert? - 150000 Goldfrancs. Der Khedive mußte die Summe bei der Pariser Rothschild-Bank hinterlegen. Und nach der Aufführung in Kairo gehen die Weltrechte an Verdi zurück!« »Kompositeur müßte man sein!« sagte Lesseps leise. Der Kaiser hielt eine immer wieder von tosendem Beifall und Bravorufen unterbrochene, emphatische Friedensrede, die mit den Schlußworten endete: »Die Vorsehung segnet stets diejenigen, die das Gute wollen.« Die stehende Ovation des vieltausendköpfigen Publikums weckte auch den Sultan wieder, der, wie einige argwöhnten, während der kaiserlichen Rede eingeschlafen war. Bei der anschließenden Ordensverleihung wurde Ferdinand de Lesseps mit dem Kommandeurskreuz bedacht, Mariette war mit 46 Jahren für derlei Ehren wohl noch zu jung.

Aufsehen erregten drei Deutsche: Dem weißbärtigen Stahlfabrikanten Alfred Krupp aus Essen verlieh der Kaiser das Ritterkreuz, der Historienmaler Wilhelm von Kaulbach und der Genremaler Ludwig Knaus wurden mit dem Offizierskreuz der Ehrenlegion dekoriert. »Wo ist eigentlich Ihr preußischer Freund Brugsch?« erkundigte sich der Kanal-Direktor. »Oh, diese Preußen!« schimpfte Auguste Mariette, »alles war schon perfekt! Napoleon hätte Brugsch die französische Staatsbürgerschaft verliehen, er wäre Professor am College de France geworden. Aber dieser Lepsius machte alles wieder zunichte. Ein Preuße dürfe sein Vaterland nicht preisgeben. Besser ein hungernder Preuße als keiner. Armer Henri!«

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