ХII Der Brief

Electras jugendlicher Kommandant, Kapitänleutnant Napier, hatte sich mitten in Bolithos Tageskajüte aufgebaut, um seinen Bericht zu erstatten.

In Mißachtung seiner Befehle war Napier mit seiner Brigg ausgelaufen, um dem ramponierten Zweidecker auf den letzten zwei Meilen bis zur Reede von San Felipe das Geleit zu geben.

So sehr er sich auch bemühte, Napier hatte nicht verhindern können, daß seine Blicke neugierig umherschweiften, sowie er den Fuß an Bord gesetzt hatte, Zwischen den in alte Segel eingenähten Toten, die auf ihre Bestattung warteten, gingen die erschöpften, abgerissenen Matrosen ihrer Arbeit nach und hoben kaum den Blick vom Spleißen, Nähen oder von den Taljen, mit denen sie Ersatzteile zu den Toppsgasten in den Rahen hinaufhievten.

Bolitho dachte wieder an die letzten Augenblicke seines Gegners. Immer noch wußte er nicht den Namen des Schiffes. Doch bald würde er ihn erfahren, ebenso den des Kommandanten. Auch wenn die spanische Fregatte so bemüht gewesen war, durch ihr Dazwischenkommen jeden Bergungsversuch Überlebender zu verhindern.

Napier berichtete:»Es kreuzten doch tatsächlich zwei spanische Kriegsschiffe vor der Küste auf. Sie wollten einen Landungstrupp auf der Missionsinsel absetzen.»

Er schien überrascht, daß der Admiral ihn zu diesem Vorfall nicht näher befragt hatte. Aber Bolitho war so müde gewesen, daß er Na-piers sauber abgefaßten Bericht lediglich überflogen hatte.

Nun raffte er sich auf und ging zu den offenen Heckfenstern hinüber, während Achates die Insel ansteuerte. Immer noch roch er Schweiß und Asche, den Gestank des Gefechts, den Todesatem.

«Wie haben Sie sich verhalten?»

Napier erinnerte sich stolzgeschwellt an seine schönsten Augenblik-ke als Gouverneur auf Zeit.

«Ich habe sie verscheucht, Sir. Ließ die Festungsbatterie einen Schuß abfeuern, um ihnen Beine zu machen.»

Ihnen Beine machen. Bolitho hätte gern darüber gelacht, aber er wußte, daß er dann vielleicht nicht mehr aufhören konnte.

Wann und wo würde das alles enden? Tyrrell hatte ihn verraten, oder hatte es jedenfalls bis zum letzten Moment vorgehabt. Und jetzt gierten nicht nur die Franzosen nach der Insel, sondern auch die Spanier.

Keen betrat die Kajüte.»Wir laufen in den Hafen ein, Sir«, meldete er.»Der Wind bleibt stetig aus Südost. «Er wirkte überanstrengt und so ausgelaugt, als fühle er die Blessuren seines Schiffes am eigenen Leibe.

Seit dem Gefecht waren die Pumpen fast nicht mehr verstummt, denn Achates hatte zwei schwere Treffer nahe der Wasserlinie eingesteckt. Und ein >langer Neuner<, wie die Zweiunddreißigpfünder genannt wurden, konnte auf einem 22 Jahre alten Schiff schrecklichen Schaden anrichten.

«Ich komme an Deck. «Bitter fügte Bolitho hinzu:»Einige, die uns von Land aus beobachten, mag es enttäuschen, daß wir immer noch schwimmfähig sind.»

Darüber fielen ihm die beiden spanischen Kriegsschiffe ein, die offenbar Truppen auf einem Territorium an Land setzen wollten, das sie immer noch als ihr Eigentum betrachteten. Wenn Tyrrell es sich nicht in letzter Sekunde anders überlegt hätte, wäre den beiden das große Schiff zu Hilfe gekommen, das jetzt am Fuße eines karibischen Riffes lag.

Napier erbleichte plötzlich.»Ich — ich muß um Vergebung bitten, Sir. Beinahe hätte ich's vergessen. Aber ein Postschiff aus England war da.»

Bolitho starrte ihn an.»Fahren Sie fort«, sagte er scharf.

Napier suchte in seinen Rocktaschen und holte schließlich einen Brief hervor.»Für Sie, Sir. «Unter Bolithos Blicken schien er zu schrumpfen.

Keen sagte knapp:»Kommen Sie mit nach oben, Kapitänleutnant Napier, ich muß über die Reparaturen an meinem Schiff mit Ihnen sprechen…«Doch in der Tür blieb er noch einmal stehen und warf einen Blick auf Bolitho zurück. Dieser hielt seinen Brief in beiden Händen und scheute sich offenbar, ihn zu öffnen.

Als Keen sich abwandte, stieß er fast mit dem Flaggleutnant zusammen.»Warten Sie noch, Adam«, sagte er.»Ein Brief ist gekommen.»

Im halbdunklen Batteriedeck lehnte Allday an einem verschrammten Achtzehnpfünder und spähte durch die offene Stückpforte nach der grünen Landzunge aus, die querab vorbeiglitt. Dort standen Leute, um das besudelte und verkrüppelte Schiff vorbeisegeln zu sehen; aber keiner winkte.

Für Allday war es ein Landfall wie andere auch. Er war schon in so vielen Häfen eingelaufen, daß sich ihr Bild in seiner Erinnerung verwischte. Seufzend gestand er sich ein, daß im Augenblick nur der Brief aus England zählte. Als wäre es gestern gewesen, stand ihm vor Augen, wie er sich mit Bolitho in die verunglückte Kutsche gezwängt und darin eine bildschöne Frau gefunden hatte, die dem Tode näher schien als dem Leben. Sie sah Bolithos verstorbener erster Frau so ähnlich, daß er seinen Augen nicht traute.

Mit schiefgelegtem Kopf lauschte er nun dem Salut, den die Festungsbatterie für sie schoß. Der richtige Willkommensgruß, dachte er, obwohl sie zu viele Kameraden an Bord hatten, die keinen einzigen Schuß mehr hören würden.

Er richtete sich auf, als die Tür klappte und der Wachtposten Haltung annahm.

Bolitho zog den Kopf unter den niedrigen Decksbalken ein und gewahrte dann die wartende Gestalt.

Als er die besorgte Spannung in Alldays Gesicht sah, spürte er seine letzten Kraftreserven schwinden. Die Selbstbeherrschung, zu der er sich während der Lektüre des Briefes gezwungen hatte, die Verzweiflung, die seinen Blick getrübt hatte, all das zehrte jetzt an ihm.

Er hielt inne und lauschte dem Salut, der von Achates' Kanonen erwidert wurde. Dann griff er zu und drückte Alldays Hand.

Heiser fragte sein Bootsführer:»Steht es gut, Sir?»

Noch einmal drückte Bolitho Alldays Hand. Es fügte sich ganz richtig, daß er in diesem Augenblick bei ihm war und somit als erster davon erfuhr.

«Wir haben eine gesunde Tochter, Allday.»

Keiner von beiden wußte, wie lange sie so dastanden. Achates setzte zum letzten Kreuzschlag um die Landspitze an, auf dem Achterdeck intonierten die Pfeifer und Trommler einen munteren Marsch, aber Bolitho war im Geist ganz woanders.

Dann nickte Allday bedächtig; er kostete den Augenblick aus, von dem er wußte, daß er ihm noch oft Gesprächsstoff liefern würde, wenn er einst zum letztenmal den Fuß an Land gesetzt hatte.

«Und Mrs. Bolitho, Sir.»

«Geht es sehr gut. «Bolitho schritt ins Sonnenlicht hinaus.»Sie läßt dich grüßen. «Mit kraftvollen Schritten strebte er dem Achterdeck zu. Jetzt konnte er es mit allen aufnehmen. Konnte alles schaffen. Er sah sich nach Alldays breit grinsendem Gesicht um.»Außerdem hofft sie, daß uns der Dienst in dieser Friedenszeit nicht zu langweilig wird.»

Allday hob den Blick zur zerschmetterten Besanrah, zu den Blutspuren und frischen Einschlägen, die das Schiff entstellten.

Und dann warf er — ungeachtet des feierlichen Augenblicks, des Saluts und des Flaggengrußes, den die Festung dem einlaufenden Kriegsschiff entbot — den Kopf in den Nacken und lachte lauthals.

Keen starrte erst ihn und dann Bolitho an.

Dem Sieger war also endlich sein Lohn zuteil geworden.

In Kapitän Valentin Keens Augen stand unverhohlene Überraschung und Bewunderung, als er seinen Vorgesetzten anblickte. Seit Achates nach San Felipe zurückgekehrt war, hatte es bei den Reparaturarbeiten, beim Ersetzen zerschossener Planken und Spieren keine Pause gegeben. Dabei war die Werft von Georgetown jämmerlich ausgerüstet, und außerdem erschwerten Feindseligkeit und mangelnde Kooperationsbereitschaft jeden Handgriff.

English Harbour auf Antigua wäre der einzige geeignete Platz für eine so gründliche Überholung gewesen, aber Keen hatte sich damit abfinden müssen, daß sein Schiff unter den primitivsten Umständen wieder zusammengeflickt wurde. Denn sobald Achates die Insel sich selbst überließ, würde unweigerlich eine Invasion von wem auch immer erfolgen, daran bestanden kaum Zweifel.

Keen wußte am besten, wie wenig Bolitho sich geschont hatte. Er hatte zahllose Besuche an Land gemacht, auch beim ehemaligen Gouverneur Rivers, dem er die Rückkehr in sein Haus erlaubt hatte, wo er jetzt unter Arrest stand. Keens Einspruch dagegen war vergeblich gewesen.

Jetzt, gegen Ende August, war die Hitze unerträglich geworden. Trotzdem mußten sie jeden Tag, sogar zu jeder Stunde, darauf gefaßt sein, daß die Ausguckposten des Forts die Annäherung spanischer — oder französischer — Schiffe meldeten; Achates blieb deshalb Tag und Nacht see- und gefechtsklar.

Am Vormittag war Electra nach Antigua ausgelaufen, mit Depeschen für den Admiral, sollte er zurückgekehrt sein, und mit anderen, dringlicheren, für die Admiralität in London. Diese Schreibarbeit und eine Menge anderer Dinge hatten Bolitho bis spät in die Nacht an seinem Schreibtisch festgehalten, und trotzdem schien er nie zu ermüden oder sich über die Verzögerung und Quertreibereien durch die Inselbewohner zu ärgern.

Der Brief seiner Frau aus Falmouth gab ihm offenbar mehr Auftrieb, als hundert Siege es vermocht hätten.

Bolitho blickte von seinen Papieren auf, erleichtert darüber, daß Napier endlich mit seinen Ideen und Vorschlägen nach Antigua unterwegs war; wenn Sheaffe in der Admiralität sie schließlich zu lesen bekam, war er festgelegt. Ob richtig oder falsch, seine Entscheidung war getroffen. Und genau davor hatte er sich bisher gescheut. Nun war er froh, sogar begierig, mit einer Freiheit zu handeln, die er sich bisher nicht gestattet hatte.

«Rivers sagt, daß er sich nicht einmischen wird. Später sollen andere über sein Schicksal entscheiden. «Bolitho fielen die tiefen Falten in Keens Gesicht auf, und er fügte mitfühlend hinzu:»Ich weiß, daß Sie harte Tage hinter sich haben, Val.»

Keen zuckte mit den Schultern.»Mr. Quantock, der Master, Mr. Grace, der Zimmermann — alle sind sich ausnahmsweise einig: Wenn dieses Schiff vor der gründlichen Überholung in einer Werft in ein Gefecht verwickelt wird, muß es ernsthaften Schaden nehmen.»

Bolitho nickte.»Das ist mir klar. Außerdem sind wir wegen unserer Verluste unterbemannt.»

«Ohne eine Unterstützung durch andere Schiffe können wir uns kaum selbst verteidigen, Sir«, fuhr Keen fort.»Geschweige denn die ganze Insel.»

«Ich habe einen energischen Lagebericht verfaßt, Val.»

Bolitho beugte sich aus einem Heckfenster und holte tief Atem. Aber die Luft war draußen genauso schal und heiß. Er wünschte sich, auf See zu sein, selbst eine Flaute dort wäre erträglicher gewesen als dieses untätige Warten. Einzig der Gedanke an Belindas Brief, den er am Ende jedes arbeitsreichen Tages las, munterte ihn etwas auf. Eine Tochter — er konnte sich einfach nicht vorstellen, wie sie aussehen mochte. Belinda hatte von ihrer Liebe geschrieben, von ihren Hoffnungen, aber er konnte auch zwischen den Zeilen lesen. Offenbar war es eine schwere Geburt gewesen. Um so besser, wenn sie immer noch glaubte, daß er in diplomatischer, nicht in gefährlicher Mission unterwegs war.

Scheinbar zusammenhanglos fragte Keen:»Und was wird aus Mr.

Tyrrell, Sir?»

Bolitho biß sich auf die Lippen. Er hatte Tyrrell gleich nach dem Festmachen auf seine Brigantine geschickt, fast ohne ein Wort mit ihm zu wechseln. Ob er sich aus Trotz oder Schuldbewußtsein stumm verhielt, ließ sich noch nicht beurteilen.

Er sagte:»Ich möchte ihn so bald wie möglich sprechen, Val. «Keens Überraschung amüsierte ihn.»Ich brauche seine Vivid, sie ist das einzige Schiff, das mir im Augenblick außer Achates zur Verfügung steht. Und da ich sie ohnehin kaufen will, kann sie auch gleich unter unserer Flagge segeln.«»Wenn Sie das für klug halten, Sir?»

«Klug? Kann ich im Augenblick noch nicht sagen. Fest steht nur, daß es mehrere Monate dauern wird, ehe mein Flaggschiff wieder voll einsatzfähig ist. Mittlerweile droht uns ein Angriff der Spanier. Niemand kann von mir erwarten, daß ich diese Insel den Franzosen übergebe, ehe ich die Dinge hier ein für allemal bereinigt habe. Wenn es in letzter Minute zu einem Konflikt um San Felipe käme, würden uns die Franzosen nur zu gern die Schuld daran geben und uns vorwerfen, wir hätten einen Zwischenfall provoziert, damit wir ihnen ihr rechtmäßiges Eigentum vorenthalten konnten.»

Aber Bolitho konnte Keen am Gesicht ablesen, daß er ihn nicht überzeugt hatte.

«Ich habe den Verdacht, Val, daß man mich hier bewußt mit einer unlösbaren Aufgabe betraut hat. Aber wenn ich schon den Sündenbock spielen muß, dann treffe ich die Entscheidungen nach eigenem Ermessen und lasse sie mir nicht von Leuten vorschreiben, die noch nie einen Schuß gehört oder einen Mann sterben gesehen haben.»

Keen nickte.»Also gut, Sir, ich stehe zu Ihnen, was auch kommt. Aber das wissen Sie bereits.»

Bolitho ließ sich auf der Heckbank nieder und zupfte an seinem klebrigen Hemd, um die schweißnasse Haut zu kühlen.

«Wenn Sie erst den Stabsrang erreicht haben, Val, werden Sie sich hoffentlich an all das erinnern. Es ist einfacher, in Gefechtslinie zu segeln und alle Kanonen auf sich gerichtet zu sehen, als sich durch den Pfuhl der Diplomatie zu wühlen. Ich werde gleich mit Jethro Tyrrell sprechen, einem Mann, der alles verloren hat, obwohl er der Flagge, die er verehrte, früher aufopfernd diente. Er war ein aufrichtiger Patriot, aber seine eigenen Landsleute haben ihn als Verräter gebrandmarkt. Er ist verbittert wie ein verstoßener Wolf. Doch ein Rest Ehrgefühl ist ihm geblieben, denn im entscheidenden Augenblick hat er uns zum Feind geführt. Aus seiner Sicht war das Wahnsinn. Denn Ehrenhaftigkeit kann ihn nicht für sein Opfer entschädigen. Er hielt es ursprünglich für klüger, uns gar nicht erst in ein Gefecht zu verwickeln, damit wir die Insel nach unserer vergeblichen Suche bei der Rückkehr bereits in spanischem Besitz vorfinden würden; dann hätte ich, so rechnete er, weiter nichts tun können als den Fehlschlag nach London zu melden.»

Keen schüttelte ungläubig den Kopf.»Und Sie wollen ihm weiterhin vertrauen?»

«Wenn ich kann.»

Bolitho blickte auf die im Hitzeglast schimmernde Reede hinaus, wo die Boote reglos über ihrem Spiegelbild lagen.

«Rivers ist ein Schurke. Er wurde reich, indem er sich beim Abschaum der Karibik anbiederte. Sklavenhändler, Glücksritter, Piraten — mit allen machte er Geschäfte. Er hat auch Besitz in Südamerika, doch um voll davon profitieren zu können, brauchte er die Machtbefugnisse eines Gouverneurs. Ich habe Beweise dafür im Fort gefunden, aber sie scheinen nur die Spitze eines Eisbergs zu sein. Ich verabscheue ihn wegen seiner Gier, doch ich brauche ihn, und sei es nur, damit er unserer Anwesenheit hier eine gewisse Glaubwürdigkeit verleiht.»

Keen schien den Hammerschlägen draußen zu lauschen. Insgeheim hatte er von Anfang an seine Bedenken gehabt, weil hier ein leichter Zweidecker mit einer Mission betraut wurde, die ein ganzes Geschwader erfordert hätte. Er verstand sein Land nicht mehr. Statt auf errungene Siege stolz zu sein, schien es sich am Boden zu winden, um alte Feinde nicht erneut gegen sich aufzubringen.

Keen hätte Rivers gehenkt — und mit ihm alle, die für den Tod seiner Matrosen und Soldaten verantwortlich waren. Und zur Hölle mit den Konsequenzen!

Bolitho hatte sich erhoben und spähte jetzt, mit der Hand die blendende Sonne abschirmend, zum fernen Fort hinüber. Als er wieder sprach, klangen seine Worte unbewegt, aber sie fielen schwer in die

Stille.

«Wissen Sie, Val, den Vereinigten Staaten ist es meiner Ansicht nach wichtiger, ihre Beziehungen zu Südamerika, Spanien und Portugal zu verbessern. Rivers' Ersuchen um amerikanischen Schutz vor einer Rückgabe an Frankreich stieß deshalb auf offene Ohren. Weiterhin glaube ich, daß Samuel Fane — und erst recht Jonathan Chase — sich keinerlei Illusionen über die Franzosen machen, sollte es wieder zum Krieg kommen in Europa.»

Keen starrte seinen Vorgesetzten an, alle Müdigkeit war vergessen.

«Sie wollen damit sagen, daß die Regierung der Vereinigten Staaten sich mit den Spaniern gegen uns verschworen hat?«»Nicht direkt. Aber wer die Hand in einen Fuchsbau steckt, muß damit rechnen, daß er gebissen wird. Die spanische Regierung wollte sich mit einer offenen Intervention nicht kompromittieren, deshalb bediente sie sich eines starken Freibeuters. Nachdem Sparowhawk vernichtet und die Küstenschiffahrt bis zur Lähmung eingeschüchtert war, stand nur noch Achates zwischen ihr und der Übernahme von San Felipe. Chase muß von der alten Beziehung zwischen Tyrrell und mir gewußt haben; genauso klar war ihm, daß Tyrrell ein Schiff verzweifelt nötig hatte. Den Rest können wir uns denken. Aber sie haben nicht mit Tyrrells alter Loyalität mir gegenüber gerechnet.»

Keen wirkte perplex.»Ganz wie Sie meinen, Sir. Trotzdem steht das als Beweis bei einer künftigen Untersuchung auf ganz schwachen Beinen. Zu schwach, um Ihren guten Ruf davon abhängig zu machen.»

«Da stimme ich Ihnen zu. Deshalb müssen wir noch ein paar Beweise fabrizieren. «Seelenruhig sah Bolitho ihn an.»Und jetzt möchte ich Tyrrell sprechen. Sagen Sie meinem Flaggleutnant, daß ich ihn brauche.»

Als Tyrrell später in die Kajüte humpelte, wurden schon die Lampen angezündet. Bolitho wandte sich seinem ehemaligen Offizier mit einer Mischung aus Trauer und Entschlossenheit zu.

Tyrrell setzte sich auf den angebotenen Stuhl und verschränkte seine kräftigen Finger.

«Na denn, Jethro.»

Tyrrell lächelte.»Na denn, Dick.»

Bolitho saß auf der Tischkante und musterte ihn ernst. Dann sagte er:»Da wir uns in Gewässern befinden, die zur Zeit noch britischer Oberhoheit unterstehen, mache ich Gebrauch von meinem Recht, Ihr Schiff zu beschlagnahmen und es in den Dienst meiner Regierung zu stellen.»

Tyrrell zuckte kurz zusammen, sagte aber nichts. Er war viel zu ausgekocht, um sich durch einen Schock aus der Reserve locken zu lassen.

«Außerdem unterstelle ich Vivid vorerst dem Befehl meines Neffen, der als mein Adjutant eine Depesche von mir nach Boston bringen wird.»

Jetzt rührte sich Tyrrell und verriet zum erstenmal Anzeichen einer gewissen Unruhe.

«Und ich?«stieß er heiser hervor.»Mich wollen Sie wohl von der Großrah baumeln lassen, wie?»

Bolitho schob ein Dokument über den Tisch.»Hier ist der Kaufvertrag für Vivid, der bei Ihrer Rückkehr nach San Felipe in Kraft tritt. Sie sehen, ich halte mein Wort. Die Brigg wird Ihnen gehören.»

Obwohl es ihm schwerfiel, Tyrrells Nöte mitanzusehen, fuhr er fort:»Ich habe mit Sir Humphrey Rivers gesprochen. Um sich Schande zu ersparen und vielleicht sogar sein Leben zu retten, wird er mir alle Auskünfte über den Spanier geben, die ich benötige. Wenn er es sich anders überlegt, hat er die Wahl zwischen zwei Anklagen: wegen Hochverrats oder wegen Mordes. Aber für beide würde er hängen.»

Tyrrell starrte Bolitho an, dann rieb er sich das Kinn.»Chase wird sich niemals von der Vivid trennen.»

«Ich glaube doch.»

Aber Bolitho mußte den Blick abwenden; Tyrrell konnte nur an eines denken: ein eigenes Schiff, seine letzte Chance.

Nun erhob sich dieser und sah sich um wie ein Tier in der Falle.»Dann mache ich mich jetzt auf den Weg«, sagte er.

«Ja. «Bolitho setzte sich an seinen Schreibtisch und begann in Papieren zu blättern.»Ich bezweifle, daß wir uns noch einmal begegnen.»

Wie ein Blinder wandte Tyrrell sich zur Tür. Aber Bolitho sprang auf, unfähig, dieses grausame Spiel bis zum Äußersten zu treiben.

«Jethro!«Mit ausgestreckter Hand kam er hinter dem Tisch hervor.»Sie haben mir doch einmal das Leben gerettet.»

Tyrrell musterte ihn forschend.»Und Sie meines, mehr als einmal.»

«Ich möchte Ihnen wenigstens Glück wünschen. Hoffentlich finden Sie, was Sie suchen — was das auch sein mag.»

Tyrrell erwiderte den Händedruck und sagte rauh:»So einen wie Sie gibt's nicht noch einmal, Dick. «Jetzt lag Bewegung in seiner Stimme.»Ich habe die alten Zeiten wieder durchlebt, als ich Ihren Neffen plötzlich vor mir sah. Schon damals schwante mir, daß ich weich werden würde, obwohl diese Insel es bei Gott nicht wert ist, daß man dafür stirbt. Aber ich kenne Sie, Dick, und Ihre Wertmaßstäbe. Sie werden sich nie ändern.»

Ein breites Grinsen ging über sein Gesicht und machte ihn für Augenblicke wieder zu dem Mann, der er einst gewesen war:

Offizier an Bord der kleinen Korvette in eben diesen Gewässern.

Dann humpelte er davon, und Bolitho hörte den Midshipman der Wache das Boot für ihn längsseits rufen.

Bolitho lehnte sich an die Bordwand und sah auf seine Hände nieder; er hatte ein Gefühl darin, als zitterten sie.

Allday trat aus der Tür zur Schlafkajüte, als hätte er die ganze Zeit dahinter gelauert, um einen Überfall auf Bolitho abzuwehren.

«Das ist mir schwergefallen, Allday. «Bolitho lauschte immer noch dem dumpfen Klopfen des Holzbeins nach.»Und ich fürchte, es wird noch schwerer für den Jungen, für Adam.»

Allday verstand kein Wort. Der Mann namens Tyrrell war ein alter Freund des Admirals, jedenfalls wurde das behauptet. Trotzdem schien er eher eine Drohung zu verkörpern, und deshalb war er heilfroh, ihn los zu sein.

Doch Bolitho sprach schon weiter.»Ich habe mich verändert, seit ich weiß, daß ich eine Tochter habe.»

Allday atmete auf; die trübe Stimmung war verflogen.

«Eins ist mal sicher, Sir: Sie bringt endlich Abwechslung in die Familie. Zwei Bolithos auf hoher See sind für uns mehr als genug, das steht fest.»

Einen Augenblick fürchtete Allday, jetzt doch zu weit gegangen zu sein, aber Bolitho antwortete mit einem Lächeln:»Also, dann brechen wir doch einer Flasche den Hals und trinken auf die Gesundheit der jungen Dame, einverstanden?»

Oben an Deck hörte Adam Alldays rauhes Lachen aus dem Skylight schallen und umfaßte die Reling in plötzlicher Erregung. Beim Blick über die allmählich dunkler werdende Reede konnte er Vivids Ankerlicht erkennen und den schwachen Schimmer einer Laterne hinter den Kajütfenstern. Bald — und viel früher, als er zu hoffen gewagt hatte — würde er also Robina wieder in die Arme schließen können. Er spürte ihre Lippen, als hätte sie ihn eben erst geküßt, und roch ihr Parfüm, als stehe sie neben ihm.

Wie froh war er, daß Bolitho sich doch noch entschlossen hatte, seinem alten Freund zu vertrauen! Es würde interessant werden, wieder seinen Geschichten aus alten Zeiten zu lauschen, sobald sie erst Segel gesetzt und San Felipe hinter sich gelassen hatten.

Der Erste Offizier ging seine Abendronde und gewahrte Adams Silhouette vor dem dämmrigen Himmel.

Da ballte Quantock die Fäuste. Es war aber auch zu unfair! Ihm hätte man die Brigg geben müssen, ganz gleich für wie kurze Zeit. Zur Hölle mit ihnen allen! Wenn Achates in ihrem jetzigen Zustand nach England zurückkehrte, wurde sie bestimmt außer Dienst gestellt wie die meisten anderen Schiffe der Flotte. Quantock wußte, daß er dann wie ein Fisch auf dem Trockenen landen würde, nur einer von den vielen überzähligen Marineoffizieren, für die nirgends ein Posten frei war.

Er fluchte in den dämmerigen Abend. Verdammter Frieden! Krieg brachte zwar Gefahren, zugleich aber viele Chancen auf Beförderung und Auszeichnung.

Chancen, wie sie die Bolithos dieser Welt immer hatten und haben würden. Er ließ den Blick über das leere Deck wandern. Aber die Reihe würde auch an ihn kommen.

Träge schwojte Achates in ihrer Ankertrosse und wartete wie die Verwundeten im Schiffslazarett darauf, daß die Spuren des Gefechts verheilten.

Die Messe im Zwischendeck war überfüllt. Zwischen den mächtigen Kanonen saßen die Matrosen und Soldaten im Schein der Öllampen, klönten oder widmeten sich ihrem sorgsam gehüteten Rumvorrat. Hier und da schnitzten schwielige Finger überraschend feinfühlig an einem kleinen, detailgetreuen Modell oder an einer Muschelschale herum. Ein Matrose, der schreibkundig war, hockte dicht unter einer Lampe, während daneben ein Kamerad ihm mühsam einen Brief an seine Frau in England diktierte. Im Quartier der Seesoldaten säuberte man die Waffen oder dachte an das letzte Gefecht, vielleicht auch an das bevorstehende; denn obwohl niemand davon sprach, wußten alle, daß es nicht zu vermeiden war.

Unten im Orlopdeck war die Luft zum Schneiden dick. Der Schiffsarzt James Tuson wischte sich die Hände und sah zu, wie abermals einem Schwerverwundeten die Decke übers Gesicht gezogen wurde; die Arztgehilfen hoben ihn an und trugen ihn hinaus. Besser für ihn, daß er tot war, dachte Tuson. Bei einer doppelten Beinamputation…

Er ließ den Blick durch sein kleines Lazarett schweifen, diese Stätte des Elends. Warum? fragte er sich. Wozu das alles?

Die Matrosen fochten nicht für König und Land, wie die Landratten immer so gern glaubten. Der Chirurg fuhr jetzt schon zwanzig Jahre zur See und wußte es besser. Sie kämpften für ihre Kameraden, für ihr Schiff und manchmal für ihren Anführer. Ihm fiel Bolitho ein, den er mit erschüttertem Gesicht an Deck hatte stehen sehen, als ihn die Mannschaft hochleben ließ, obwohl er sie in den Tod schickte. Ja, auch für ihn würden sie kämpfen.

Er duckte sich unter den schweren Decksbalken und wollte weitergehen, da spürte er, daß jemand sein Bein packte.

Tuson bückte sich.»Was ist denn, Cummings?»

Ein Gehilfe leuchtete ihm mit der Laterne, so daß er den Verwundeten besser sehen konnte. Ein Eisensplitter hatte ihn in die Brust getroffen — ein Wunder, daß er noch lebte.

Der Mann namens Cummings flüsterte:»Danke, daß Sie sich um mich gekümmert haben, Sir«. Dann verlor er das Bewußtsein.

Tusons Gefühle waren abgestumpft, dazu hatte er schon zu viele Männer sterben gesehen oder zu Krüppeln werden; aber die simplen Dankesworte des Matrosen durchbrachen seinen Schutzpanzer und schüttelten ihn wie Fäuste.

Bei der Arbeit am Operationstisch war er zu beschäftigt, als daß er an das Kanonenfeuer oder Kampfgetümmel oben auch nur einen Gedanken verschwenden konnte. Der Strom der Verwundeten, die ihm ins Orlopdeck gebracht wurden, schien niemals ein Ende zu haben. Kaum daß er den Blick zu den blutigen Schürzen seiner schweißgebadeten Gehilfen hob. Kein Wunder, daß man seine Zunft mit Metzgern verglich. Hier ein Bein ab, dort ein Arm, während der nackte Körper mit roher Gewalt auf dem Tisch festgehalten wurde, damit er sägen und hacken konnte, taub für das Gebrüll der Gemarterten.

Aber hinterher, in solchen Augenblicken wie jetzt, setzte auch bei ihm die Reaktion ein. Dann fühlte er sich beschämt darüber, daß er so wenig für sie tun konnte; daß sie ihm auch noch dankbar waren.

Der Arztgehilfe ließ die Laterne sinken und wartete geduldig.

Tuson setzte seinen Rundgang fort und verdrängte das verführerische Bild der Schnapsflasche aus seinen Gedanken. Wenn er dieser Versuchung erlag, war er verloren. Vor ihr hatte er sich ursprünglich auf See geflüchtet.

Irgendwo aus dem Halbdunkel kam ein schriller Aufschrei.

«Wer war das?»

«Larsen, Sir, der große Schwede.».

Tuson nickte. Er hatte dem Mann einen Arm amputiert. Der Schrei ließ eine Wendung zum Schlechteren vermuten. Vielleicht Wundbrand. In diesem Falle.

«Hebt ihn auf den Tisch«, befahl er knapp.

Tuson war wieder ruhig und Herr der Lage. Er wartete, bis die Gestalt auf dem Operationstisch ausgestreckt dalag. Also ein Schwede. Aber was zählte schon die Nationalität eines Matrosen?

«Na denn, Larsen.»

Bolitho stand neben Keen an Deck, als Vivid von ihrer Muring loswarf und langsam auf die Hafenausfahrt zukreuzte.

Er hob ein Teleskop und suchte das kleine Schiff vom Bug bis zum Heck ab, bis er Adam neben Tyrrells vierschrötiger Gestalt am Ruder stehen sah; er wirkte sehr schneidig in seiner Uniform.

Was ihn in Boston erwartete, würde ihm wehtun, aber nicht das Herz brechen. Bolitho wußte jetzt, daß er sich nicht einmischen durfte; er mußte riskieren, daß Adam sich gegen ihn wandte.

Keen schien seine Gedanken zu erraten.»Vielleicht trifft er die Kleine gar nicht, Sir«, sagte er tröstend.

Bolitho ließ das Glas sinken und die Brigantine damit wieder zu einem fernen kleinen Spielzeugschiff werden.

«Er wird schon dafür sorgen. Ich weiß genau, wie ihm zumute ist. Sehr genau.»

Vivid glitt hinter dem Vorland außer Sicht, nur ihr Toppsegel war noch zu erkennen. Dann, als sie auf den anderen Bug ging, verschwand auch dieses.

Keen hegte Bolitho gegenüber großen Respekt, aber er konnte einfach nicht verstehen, warum er gutes Geld verschwenden wollte, nur um Tyrrell zu dem Schiff zu verhelfen. Der sollte sich glücklich schätzen, daß er dem Strick entronnen war. Aber dann gewahrte er Bolithos traurigen Gesichtsausdruck und begriff, daß kein Dritter jemals die besondere Beziehung zwischen diesen beiden Männern durchschauen würde. Bolitho wandte der See den Rücken.

«Und wir müssen jetzt an die Verteidigung dieser Insel gehen, Val. «Er ballte die Faust.»Wenn ich doch nur ein paar Schiffe mehr hätte! Dann könnte ich auslaufen und sie mit geladenen Kanonen erwarten.»

Keen schwieg. Bolitho rechnete also fest mit einem Überfall. Der Friede von Amiens hatte hier draußen ja auch keinerlei Bedeutung, schon gar nicht für die Spanier. Nachdenklich starrte er zur glitzernden Kimm hinaus und überlegte, welch gefährliches Spiel Rivers getrieben hatte, als er Amerikaner und Spanier gegen England aufgestachelt hatte. Gefährlich vor allem für Achates, die nun dafür bezahlen mußte.

Aufmunternd schlug ihm Bolitho auf die Schulter.»Warum denn so grimmig, Val? Wir wollen doch dem Unvermeidlichen ins Gesicht sehen.»

Er schien so guter Laune zu sein, daß Keen seine Depression sofort abschüttelte.

«Womit möchten Sie beginnen, Sir?«fragte er.

Stimmungen waren ansteckend, das hatte Keen schon oft erlebt. Auch damals, als er in dem Gefecht beinahe ums Leben gekommen wäre, hatte man von einer Friedenszeit gesprochen.

«Wir beschaffen uns Pferde und besichtigen erst einmal die ganze Insel. Dabei vergleichen wir jede Landmarke mit Mr. Knockers Karte oder anderem Kartenmaterial, das wir hier auftreiben können. «Bo-litho deutete auf den Dunst, hinter dem sich der Gipfel des Vulkans verbarg.»Diese Insel ist ein fetter Brocken, Val. Und die hungrige Meute schließt schon den Kreis um uns.»

Die Besorgnis seines Flaggkapitäns war Bolitho nicht entgangen. Wenn schon Keen davor zurückschreckte, um San Felipe einen Krieg ohne Kriegserklärung zu führen, dann mußte es seiner Besatzung noch mehr widerstreben.

Den Ritt um die Insel brauchte Bolitho im Grunde nicht, er hatte die Stärken und Schwächen für eine Verteidigung von der Karte her im Kopf. Aber es war notwendig, daß er Keen und den anderen seinen

Widerstandswillen demonstrierte. Und seine Entschlossenheit, die Insel zu halten, bis sich eine günstigere Wendung ergab.

Seine Schenkelwunde juckte bei dem feuchtwarmen Wetter, und es verlangte ihn danach, sie zu reiben.

Warum bedrückte ihn die Aussicht auf eine Belagerung oder einen offenen Angriff? Sorgte er sich Belindas wegen oder weil der Ausgang der Schlacht ungewiß war?

Plötzlich sah er sich wieder in Sir Hayward Sheaffes stillem Dienstzimmer in London. Hier, zu Füßen der Festung und des erloschenen Vulkans, war es für ihn wie die Erinnerung an eine andere Welt. Trotzdem klangen ihm Sheaffes klare Worte immer noch in den Ohren:»Ihre Lordschaften benötigen für diese Aufgabe einen ebenso taktvollen wie tapferen Mann.»

Und dann dachte Bolitho an des kleinen Evans' Gesicht, als der namenlose Zweidecker in Flammen aufgegangen war; an den Schrecken und das Entsetzen in den toten Zügen des Trommlerbuben. Und er dachte an Duncan und die vielen anderen, die er gar nicht gekannt hatte.

Taktvoll konnte er später immer noch sein.

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