V Der Schlächter

In den Wochen nach der Abendgesellschaft bei Chase wurde Bolithos Geduld auf eine harte Probe gestellt. Zwar setzten Jonathan Chase und einige andere reiche Bostoner Bürger ihren Ehrgeiz darein, den Offizieren der Achates' Kurzweil und abendliche Einladungen zu bieten; aber trotzdem quälte Bolitho der Gedanke, daß zwischen dem Ausbleiben jeglicher Nachricht und der mangelnden Kooperationsbereitschaft Samuel Fanes irgendein Zusammenhang bestand.

Vielleicht, so grübelte er, hätte er den Zeitplan, den ihm seine Befehle vorschrieben, ignorieren und als erstes San Felipe anlaufen sollen, damit der Eröffnungszug nicht Captain Duncan von der Sparrow-hawk überlassen blieb. Aber dieser Schritt hätte als Einschüchterung — oder Schlimmeres — ausgelegt werden können.

Überhaupt — wo blieb die Sparrowhawk? Worauf war Duncan gestoßen, das wichtig genug war, sein Eintreffen in Boston zu verzögern?

An diesem Tag hatte Bolitho sein Mittagessen nicht angerührt. Obwohl Fleisch und Brot frisch waren, von Chase mit einem Boot als Geschenk an Bord geschickt, hatte er keinen Bissen davon herunterbekommen.

Auf allen Decks herrschte mittägliche Ruhe. Rumdüfte schwängerten die heiße Luft, weil in den Messen die Tagesration ausgegeben wurde.

Vielleicht hatte Sheaffe vorausgesehen, daß Bolithos Auftrag bloße Zeitverschwendung sein würde und nur zu scharfen Auseinandersetzungen mit den Amerikanern führen mußte. Bolitho zupfte an seinem schweißnassen Hemd, zwang sich aber, sitzenzubleiben, weil er sonst nur wieder ruhelos in seiner Kajüte auf und ab getigert wäre.

Belinda. Er wandte sich um und starrte durch die Heckfenster, bis seine Augen tränten. Inzwischen mußte alles vorbei sein. Entweder hatten sie jetzt ein Kind, oder…

Es war Belindas erstes Kindbett. Da konnte alles mögliche passiert sein.

Achates schwojte an ihrer Ankertrosse und rückte die fernen Hafengebäude in Bolithos Blickfeld. Er wollte lieber wieder auslaufen. Wollte etwas tun.

Ein leichtes Klopfen an der Lamellentür kündigte Keen an, dem beim Eintreten Bolithos unberührter Teller nicht entging.

«Die amerikanischen Fregatten gehen ankerauf, Sir.»

Bolitho nickte.»Ja. Nur die Franzosen bleiben noch hier.»

Keen zögerte.»Meiner Ansicht nach, Sir«, sagte er dann,»sollte uns ein weiteres Kurierschiff zur Verfügung gestellt werden.»

«Sie machen sich also auch Gedanken wegen Sparrowhawk

Keen zog die Schultern hoch.»Ja, allerdings. Da wir nicht einmal über eine kleine Brigg verfügen, sind wir taub und blind für alles, was sich außerhalb dieses Hafens abspielt.»

Yovell, der Sekretär, stand unschlüssig im Türrahmen.»Verzeihung, Sir, aber diese Papiere benötigen Ihre Unterschrift.»

Bolitho mußte plötzlich an seinen Neffen denken. Adam hatte um Erlaubnis ersucht, Chases Nichte Robina nach Newburyport begleiten zu dürfen. Jetzt beneidete er ihn um seine Freiheit; Adam wenigstens blieben dieses endlose Warten und die nagende Ungewißheit erspart. In den letzten Tagen hatten er wie auch Allday unter Bolithos Gereiztheit zu leiden gehabt.

Schnell überflog er, was Yovell geschrieben hatte, und setzte seine Unterschrift darunter. Kein Wunder, daß über den Papierberg in der Admiralität bittere Witze gerissen wurden. Wer konnte diese Flut von Berichten auch jemals lesen?

Bolitho faßte einen Entschluß.»Ich unternehme noch einen letzten Versuch, die Angelegenheit San Felipe mit den Amerikanern zu besprechen. Danach brechen wir auf und segeln zu der Insel, ob die Sparrowhawk nun eingetroffen ist oder nicht. Falls Sie den Kapitän eines Handelsschiffes überreden können, senden Sie bitte diskret mit ihm Nachricht nach Antigua. Dort sollte der Admiral von English Harbour über unser Vorhaben unterrichtet werden. Und wenn ich Ihrer Depesche ein, zwei Sätze hinzufüge, schaffen wir es vielleicht, ihm eine Brigg abzuluchsen.»

Ozzard trat ein und räumte wortlos das Tablett ab; nur ein vorwurfsvoller Blick verriet, was er über diese Verschwendung dachte.

«Erwarten Sie etwa, daß uns die Amerikaner einen Strich durch die Rechnung machen, Sir?«fragte Keen.

Bolitho schüttelte den Kopf.»Sie meinen, mit diesen Fregatten? Nein, das wäre unklug. Sie werden Mißbilligung äußern, sich aber mit der Zuschauerrolle begnügen.»

Der Erste Offizier trat mit eingezogenem Kopf über die Schwelle.»Bitte um Vergebung wegen der Störung, Sir, aber Mr. Chases Barkasse hält auf uns zu. Er hat auch den anderen Gentleman dabei.»

Bolitho und Keen wechselten Blicke.

Dann sagte Bolitho leise:»Endlich beehrt uns Mr. Fane, der Gesandte des Präsidenten, in eigener Person. Nun können wir vielleicht reinen Tisch machen.»

Grinsend griff Keen nach seinem Hut.»Ehrenwache vollzählig antreten lassen, Mr. Quantock! Wenn es Zunder gibt, dann soll's nicht an uns liegen.»

Allday kam aus dem Nebenraum getrottet und warf einen Blick zum Schott, wo Bolithos Säbel hingen. Nach kurzem Zögern nahm er die goldglänzende Prunkwaffe herunter, die Bolitho nach der Schlacht bei Abukir verliehen worden war. Dem alten, abgewetzten Familiensäbel gab er einen liebevollen Klaps und murmelte:»Du kommst auch noch dran — später.»

Bolitho hob die Arme, damit Allday den glitzernden Ehrensäbel an seinen Gürtel schnallen konnte. Allday hatte recht. Der alte Säbel war für die Schlacht, das Prunkstück fürs Repräsentieren.

Rund zwölfhundert Meilen südlich der Stelle, wo Bolitho mit mühsam beherrschter Ungeduld Mr. Samuel Fanes Besuch erwartete, lag Seiner Britannischen Majestät Fregatte Sparrowhawk reglos unter der blendenden Sonne. Vor ihrem Bug mühten sich zwei ihrer Boote lustlos ab, das Mutterschiff an Schleppleinen in Fahrt zu bringen, damit wenigstens Ruderwirkung erhalten blieb, wenn sie schon jede Hoffnung auf Wind verloren hatten.

Seit drei Tagen lagen sie in einer Totenflaute, die sie festhielt, nachdem sie San Felipe verlassen hatten. Ihr Auftrag dort war nur zum Teil erfüllt.

Mit gerunzelter Stirn saß Kapitän Duncan an seinem Schreibtisch und fügte einen weiteren Absatz an seinen ohnehin schon langen Brief. Er schrieb an seine Frau — wie die meisten verheirateten Marineoffiziere mit ähnlicher Regelmäßigkeit, wie er sein persönliches

Logbuch führte. Er wußte weder, wann er diesen Brief beenden, noch welchem Schiff er ihn mitgeben würde.

Trotz seiner Schroffheit hing Duncan sehr an seiner Frau und ging zart mit ihr um. Sie waren jetzt zwei Jahre verheiratet, hatten aber insgesamt kaum einen Monat miteinander verbracht. Er haderte deshalb nicht mit dem Schicksal, denn solche Opfer mußte bringen, wer sich der Kriegsmarine verschrieb. Duncan war gerade erst 27 Jahre geworden und schon Fregattenkapitän. Und wenn er diesen Posten unter Bolitho behielt, konnte nichts — Friede hin oder her — seinen weiteren Aufstieg verhindern.

Wie viele seiner Zeitgenossen glaubte Duncan nicht an einen dauerhaften Frieden. Er hatte sich bereits in drei größeren Seeschlachten ausgezeichnet und war auch in kleineren Gefechten erfolgreich gewesen, im Kampf Schiff gegen Schiff, dem ureigensten Element jedes guten Fregattenkapitäns.

Bolitho galt seine uneingeschränkte Verehrung. Er bewunderte ihn nicht so sehr wegen seines Mutes und seiner Geschicklichkeit — beides hielt er eher für selbstverständlich — , sondern mehr noch für seine Anteilnahme am Schicksal der ihm Unterstellten. Obwohl er es nicht einmal sich selbst eingestand, versuchte Kapitän Duncan, Bolitho in allem nachzueifern.

Daher auch sein unzufriedenes Stirnrunzeln. Denn sein Besuch in San Felipe war kein Erfolg gewesen. Gouverneur Sir Humphrey Rivers hatte ihn abgefertigt wie einen grünen Rekruten, statt ihn zu behandeln, wie es einem Kriegsschiffkommandanten und Abgesandten Bolithos zukam.

Duncan verstand eben eine Menge von der Seefahrt, aber nichts von Männern wie Rivers.

Gleich bei ihrer ersten Begegnung hatte Rivers die Beherrschung verloren. Sie standen in seinem mitten in einer blühenden Plantage gelegenen Herrenhaus, und Rivers schrie Duncan an:»Da draußen neben dem Hafen liegt ein Friedhof, Kapitän! Er ist voller tapferer Männer, die ihr Leben für diese Insel gelassen haben! Ich denke nicht daran, ihr Andenken zu verraten und alles hier den Franzosen auszuliefern. Verdammt will ich sein, wenn ich das tue!»

Insgeheim pflichtete Duncan ihm ja bei, aber er war zu sehr daran gewöhnt, seinen Befehlen zu gehorchen. Außerdem war ihm der Mann zuwider, er hielt ihn für ein arrogantes Schwein.

Bolitho würde es nicht gerade freuen, daß er mit leeren Händen kam. Wenn Rivers sich weigerte, die zwischen England und Frankreich geschlossene Vereinbarung zu erfüllen, mochte er sich unversehens vor der Anklage des Hochverrats oder der Meuterei sehen — oder womit die Regierung sonst unbotmäßige Gouverneure zur Räson brachte. Mit einem erneuten Stirnrunzeln begann Duncan wieder zu schreiben.

Da hob sich das Deck unter seinen Füßen, und von einem Nebentisch fiel klappernd der Stechzirkel zu Boden.

Als Duncan aufsprang, spürte er, wie das Schiff unter ihm langsam wieder zum Leben erwachte.

Er eilte an Deck, wo sein Erster Offizier und der Segelmeister hoffnungsvoll zu den schlaffen Segeln emporstarrten, mit denen ein erstes zartes Lüftchen zu spielen begann.

Duncan wischte sich den Schweiß aus den Augen. Viel war das nicht, aber immerhin.

«Mr. Palmer! Rufen Sie die Boote zurück und lassen Sie sie wieder einsetzen. Und dann alle Mann an Deck zum Segelmanöver!«Er schlug dem Leutnant auf die Schulter und fügte hinzu:»Hol's der Teufel, Mr. Palmer, aber vielleicht haben wir jetzt die längste Zeit hier geschmort.»

Mit ein paar Schritten war Duncan am Schanzkleid und packte den sonnenwarmen Handlauf mit seinen mächtigen Pranken. Er sah zu, wie das erste Boot die Schleppleine loswarf und dankbar zum Schiff zurückpullte, obwohl die erschöpften Bootsgasten kaum noch die Riemen heben konnten.

Duncan fragte sich, was wohl auf dem anderen Schiff geschah. Es war in Sicht gekommen, kurz bevor die Flaute beide Schiffe lähmte und in der drückenden Hitze auf der Stelle hielt.

Der Erste Offizier kehrte zurück, nachdem er die Toppsgasten in die Takelage gescheucht hatte.»Der Ausguck im Masttopp meldet, daß unser heimlicher Begleiter bei Wachwechsel immer noch zu sehen war.»

Wie zur Bestätigung erklang eine Stimme aus dem Großmasttopp und ließ mehrere Seeleute nach oben spähen.

«An Deck! Schiff in Luv voraus! Setzt die Bramsegel!»

Duncan quittierte mit einem Grunzen und wandte sich nach vorn, um sein eigenes Schiff zu beobachten, das sich unter dem wachsenden Winddruck schon leicht überzulegen begann. Das zweite Boot wurde gerade über das Schanzkleid gehievt und eingesetzt. Sparrowhawk machte wieder Fahrt.

Der Segelmeister stellte fest:»Sie wird auf konvergierendem Kurs zu uns liegen, Sir.»

«Ein Mann mit scharfen Augen soll gut Ausguck nach ihr halten.»

Duncan verdrängte die momentan in ihm aufsteigende Besorgnis. Im ersten Augenblick hatte er geglaubt, das andere Schiff sei die Achates, und Bolitho komme ihm entgegen, um den Grund für seine Verspätung zu erfahren.

Mit knarrenden Blöcken und knirschenden Leinen begann Sparrowhawk, auf den Wind in ihren Segeln zu reagieren.

«Nord zu West, Sir! Voll und bei!»

Duncan rieb sich das rote Gesicht, während er auf mehr Wind wartete. Aber er reichte schon aus, das Schiff Fahrt aufnehmen zu lassen. Selbst das winzige Eiland, das eine Zeitlang an der Kimm gestanden hatte, war bereits verschwunden, bevor der Master es identifizieren konnte. Wahrscheinlich eine Insel der Bahamagruppe, sagte sich Dun-can.

Auch bei San Felipe hatte er solch kleine Inseln gesichtet, eine davon sogar seltsamerweise mit einem Kirchturm. Man hatte ihm gesagt, daß sich dort ein Missionsorden niedergelassen habe und in völliger Abgeschiedenheit lebe.

San Felipe war ursprünglich in spanischem Besitz gewesen, deshalb mochten diese Mönche durchaus ein Überbleibsel aus alten Zeiten sein. Duncans Laune begann sich zu bessern. Wenn er's recht überlegte, hatte er nur ausgeführt, was ihm befohlen worden war. Bolitho würde sich schon einen Reim auf alles machen können, was sein Fregattenkapitän auf San Felipe gesehen und gehört hatte.

«Ich gehe unter Deck, Mr. Palmer. Muß noch einen Brief beenden. Wer weiß, vielleicht können wir früher als gedacht Post in die Heimat schicken!»

Palmer lächelte. War der Kommandant guter Stimmung, war das Leben leichter für alle.

Als die Segel im Wind immer voller standen und die weiße Bugwelle allmählich wuchs, wurde auch das andere Schiff größer und größer; zielstrebig kam es auf konvergierendem Kurs heran.

Zu groß für eine Fregatte, überlegte Palmer, der in den Webeleinen in Luv hing und sein Teleskop auf den Fremdling richtete. Er leuchtete grell in der Sonne, und seine hell und dunkel gewürfelten LeeStückpforten schnitten fast unter, so krängte er im auffrischenden Wind, der die Sparrowhawk noch nicht erreicht hatte.

Wahrscheinlich ein Westindienfahrer, konstatierte Duncan. Die waren neuerdings so schnittig wie Kriegsschiffe. Nicht umsonst hieß es ja, daß so ein Gemüsekipper mit einer Fahrt me hr verdiente als ein Marineoffizier in zehn Jahren.

«Sie hißt ein Signal, Sir!»

«Das sehe ich selbst, verdammt!«Palmer hatte das lange Warten bei Hitze und Flaute zermürbt; so grob zu reagieren, war sonst nicht seine Art.

Der Signalfähnrich schluckte nur und richtete sein starkes Glas auf das andere Fahrzeug, beobachtete die bunten Flaggen, die an seiner Signalrah aufstiegen.

«Sie haben uns etwas mitzuteilen, Sir.»

Der Erste Offizier unterdrückte einen Fluch. Wahrscheinlich war die Mitteilung völlig bedeutungslos; aber während sie überflüssige Informationen austauschten, konnten sie den Wind wieder verlieren.

«Bestätigen Sie, Mr. Clements«, befahl er unwirsch und winkte den Midshipman der Wache heran.»Und Sie, Mr. Evans, melden dem Kommandanten, daß wir beidrehen müssen.»

Palmer wandte sich wütend ab; das würde dem Kommandanten die gute Laune rasch verderben.

Mit bis zum Gürtel offenem Hemd kam Duncan aus dem Kajütsniedergang und musterte wortlos das fremde Schiff. Es konnte ihnen eine für ihre Unternehmung wichtige Nachricht bringen; andererseits mochte der Kapitän auch nur Klatsch und Tratsch austauschen wollen. Wenn sich zwei Schiffe so fern der Heimat trafen, war das nicht ungewöhnlich.

«Kürzen Sie Segel, Mr. Palmer. Klar zum Beidrehen.»

Er verschränkte die Hände auf dem Rücken und sah zu, wie seine Leute auf ihre Stationen eilten.»Hart Luvruder!»

Duncan winkte nach dem Midshipman.»Ihr Glas bitte, Mr. Evans.»

Als er das Teleskop entgegennahm, fiel sein Blick auf den Jungen. Evans war erst dreizehn Jahre alt, der Jüngste in seiner Messe. Ein munteres Kerlchen, das schon mehr als einmal zur Strafe für seine Streiche in den Mast geschickt worden war.

Duncan hob das Glas und spreizte gleichzeitig haltsuchend die Beine, weil das Schiff gerade in ein Wellental sackte; vorn fierten die Seeleute die Stagsegelschoten, damit Sparrowhawk durch den Wind drehen konnte. Für eine Landratte mußte das Schiff jetzt einen völlig außer Kontrolle geratenen Anblick bieten; aber gleich würde es sich auf den anderen Bug legen und die Mannschaft noch mehr Segel auf-geien.

Duncan lächelte grimmig in sich hinein. Er führte sein Schiff gern mit fester Hand, zwang es ins Joch wie ein eigenwilliges Pferd.

Aber er erstarrte, als das andere Schiff riesenhaft in seiner Teleskoplinse auftauchte. Seine Rahen schwangen herum, die Segel blieben steif wie eiserne Brustpanzer, und es wechselte den Kurs, aber nicht um anzuluven, sondern nach Steuerbord. Donnernd füllte sich die Breitfock an ihrer Rah, und das Schiff schien einen Satz nach vorn zu machen, quer hinter dem Heck der Fregatte vorbei.

Duncan brüllte:»Belege das, Mr. Palmer! Anluven!«Aber es war zu spät, seinen letzten Befehl rückgängig zu machen.

An Deck herrschte Konfusion. Männer stürzten an Brassen, Halsen und Schoten, Blöcke und Winschen knarrten, und immer noch mehr Hände packten mit an, um die Rahen wieder herumzuholen.

Duncan kam ins Schwanken, als das Deck sich überlegte und das Schiff zu reagieren versuchte; aber sie hatten sich festgesegelt. Die Segel killten und schlugen wirkungslos gegen Masten und Spieren.

«Klar zum Gefecht!»

Mit wildem Blick starrte Duncan zu dem Fremden hinüber, trotz der Hitze fror er bis ins Mark. Er hätte es vorhersehen müssen! Jetzt war es zu spät, denn noch während er hinsah, flogen drüben die Stückpforten auf, die schwarzen Rohre reckten sich ins Licht, wohingegen auf der Sparrowhawk verwirrte Soldaten erst die Trommelstöcke wirbeln ließen; mehr Männer strömten aus den Niedergängen, zum Teil immer noch in Unkenntnis der drohenden Gefahr.

Duncan stand wie angewurzelt, dem regelmäßigen Einzelfeuer zugewandt, das jetzt aus der Bordwand des Fremden schoß und mit gelbroten Feuerzungen nach ihnen leckte, gefolgt von dick heranrollenden Rauchbänken. In der nächsten Sekunde krachte ein Eisenhagel mit infernalischer Gewalt in Rumpf und Rigg der Fregatte, mähte Männer um, zerfetzte Spieren und Taue, riß Löcher in die schlagenden Segel und — was am schlimmsten war — fuhr wie ein Sensenhieb vom Heck aus durch die ganze Länge des Batteriedecks, alles in blutiges Chaos verwandelnd.

Duncan krallte die Fäuste in die Webeleinen und schrie wie ein verwundeter Stier, als eine Kugel auf dem Achterdeck eine Kanone umriß und über die splitternden Planken weiterpflügte, eine Spur aus Blut und Leichen hinter sich herziehend.

Er spürte einen Schlag gegen seine Hüfte wie von einer Axt, und als er hinblickte, pulsierte Blut in breitem Strom an seinem Bein hinunter; dann kam der Schmerz, und er hörte sich aufstöhnen in Todesnot.

Ein gewaltiger Schatten glitt über ihn hinweg: der Besanmast, der mit Donnergetöse umstürzte und seine ganze Takelage mit allen Männern darin über Bord ins Verderben riß.

Wieder bockte der Rumpf und bäumte sich auf unter den Einschlägen einer feindlichen Breitseite. Duncan mußte sich an die Finknetze klammern, um nicht zu stürzen. Der Feind war ihrer Drehbewegung gefolgt, seine oberen Segel blähten sich über dem Rauch wie die Schwingen des Todesengels. Er feuerte pausenlos weiter, und immer noch war auf Sparrowhawk nicht eine einzige Kanone geladen. Das Deck war übersät mit Toten und Sterbenden, und als Duncans Blick auf das Ruder fiel, sah er, daß das große Rad gesplittert war; zu seinen Füßen lagen zerschmettert der Master und seine beiden Rudergänger.

«Mr. Palmer!»

Aber Duncans Schrei war nur ein Krächzen. Sein Erster Offizier kniete neben der Reling; den Mund in lautlosem Brüllen weit aufgerissen, starrte er auf seine beiden Hände nieder, die wie abgestreifte Handschuhe vor ihm lagen.

Bei den Einschlägen der nächsten Salve sank auch Duncan auf die Planken. Er hörte die Kugeln unten durch die Schottwände krachen und sah aus einer offenen Luke Rauch emporkräuseln. Die Sparrow-hawk brannte.

Er versuchte wieder aufzustehen, Wut und Verzweiflung weckten seine letzten Kräfte. Über und über blutbedeckt, war er ein schrecklicher Anblick. Doch er fühlte, wie das Blut alle Kraft aus seinem Körper schwemmte; es gerann auf den Planken zu den gräßlichen Mustern, die schon das ganze Deck überzogen.

«Ich helfe Ihnen, Sir!»

Duncan legte dem Jungen einen Arm um die Schultern. Es war nur der kleine Evans, aber sein Anblick richtete den Kommandanten etwas auf.

Er keuchte:»Bin fertig, Junge. Sieh nach den anderen. «Er spürte den Kadetten unter seinem Griff zusammenfahren und sah die nackte Angst in seinen Augen. Da packte er ihn noch fester mit seiner blutigen Faust.»Halte durch mein Sohn, jetzt bist du ein Offizier. Zeig's ihnen. «Und damit stürzte Duncan abermals, aber diesmal stand er nicht mehr auf.

Eine Handvoll Seeleute und Soldaten kam nach achtern gerannt und hätte sich über Bord gestürzt, wäre der dreizehnjährige Seekadett ihnen nicht entgegengetreten.

Er schrie:»Setzt das Boot aus! Bootsmann, übernehmen Sie das!»

Als ihn einer der Fliehenden beiseitestieß, griff er sich eine Pistole und feuerte in die Luft. Noch einen Augenblick starrten sie einander an wie Irre, und dann gewann die Disziplin die Oberhand. Sie warfen ihre Waffen weg und rannten zu dem Boot, um es zu Wasser zu lassen.

Immer noch schlugen vereinzelt Kugeln in den Rumpf, doch Spar-rowhawk hatte keine Widerstandskraft mehr. Sie lag schon tief im Wasser, die See schwappte bereits im Orlopdeck und stieg schnell höher; blank glitzerte Wasser am Fuß der Niedergangstreppe.

Evans rannte zu seinem Freund, dem Signalfähnrich, aber der war schon tot. In seiner Brust klaffte eine Wunde, so groß wie eine Männerfaust. Vorsichtig richtete Evans sich auf. Seine Füße glitten in den Blutlachen aus, als das Heck sich aus der See hob.

Er glaubte, eines der anderen Boote in der Nähe zu hören und die Stimme des Dritten Offiziers, der Überlebende zusammenrief und Ordnung herzustellen versuchte.

Noch einmal blickte Evans auf seinen toten Kommandanten nieder, den Mann, den er gefürchtet und bewundert hatte. Jetzt war er ein Nichts, und das verstörte Evans; er fühlte sich betrogen.

Ein vierschrötiger Marinesoldat hastete vorbei, einen verwundeten Kameraden wie einen Sack über die Schulter geworfen. Er verhielt kurz bei Evans und keuchte:»Kommen Sie, Sir, hier gibt's nichts mehr zu tun.»

Der Verwundete stöhnte, und sein Träger wollte sich abwenden, aber irgend etwas in Evans' Gesicht hielt ihn fest. Der Seesoldat hatte die Schlacht bei Abukir und auch die am Kap St. Vincent mitgemacht und schon viele Freunde sterben gesehen.

Grob fuhr er den Jungen an:»Du hast getan, was du konntest, also komm jetzt mit, ja?»

Ein Beben ging durch das Schiff. Die Sparrowhawk begann unterzuschneiden.

Der kleine Kadett folgte dem Seesoldaten zum Schanzkleid und zuckte nicht einmal zusammen, als der Großmast wie eine überhängende Klippe donnernd von oben kam.

«Ich bin soweit, danke. «Es klang seltsam in diesem schrecklichen Augenblick.

Kanonen rissen sich los und krachten, tote und wimmernde Männer zermalmend, der Länge nach durch die Decks. Sparrowhawk reckte noch einmal das Heck empor und ging dann steil nach unten. Wo sie versank, drehte sich ein Wirbel aus Wrackteilen, Menschen und Gliedmaßen — noch lange, nachdem der Angreifer mehr Segel gesetzt hatte und sich mit westlichem Kurs davonmachte.

Als Zeugen der Vernichtung blieben zwei Boote und ein flüchtig zusammengelaschtes Floß zurück, umdrängt von Überlebenden, die um einen Platz an Bord oder wenigstens um Halt für ihre Fäuste kämpften.

Eine Woche danach sichtete die amerikanische Brigg Baltimore Lady, unterwegs von Guadeloupe nach New York, ein treibendes Boot und drehte bei, um es sich näher anzusehen. Das Boot war voller Männer, alle von der Sonne verbrannt und ausgedörrt, einige tot, der Rest nur noch halb am Leben. Die Toten waren ihren Wunden erlegen oder verdurstet, die Überlebenden konnten kaum sprechen. Aber die Spuren von Haizähnen an der Außenhaut des Bootes waren beredt genug: Tiefe Riefen zeigten, wo die Bestien die Männer weggerissen hatten, die sich außen anklammerten. Eine Art Offizier führte das Kommando im Boot; der Maat der Brigg beschrieb ihn später als» halbes Kind».

Midshipman Evans hatte Duncans letztem Befehl gehorcht und >nach den anderen gesehen<. Aber das Erlebnis verfolgte ihn für den Rest seines Lebens.

Samuel Fane betrachtete Bolitho ohne jede Gefühlsregung.»Ich habe mit dem Präsidenten gesprochen«, sagte er.»Und außerdem habe ich die Angelegenheit San Felipe mit dem französischen Admiral diskutiert.»

Auch Bolitho war die Ruhe selbst. Es hatte keinen Sinn, Fane vorzuwerfen, daß er hinterrücks mit den Franzosen verhandelt hatte. Das war sein gutes Recht, wenn Boston als neutraler Boden galt.

Auch erwies es sich als hilfreich, daß er diesmal mit Fane an Bord seines eigenen Flaggschiffs verhandelte. An Land, als Gast in Chases prunkvollem Haus, war er der Fremdling gewesen. Doch jetzt, inmitten der vertrauten Umgebung, fühlte er Sicherheit und Zuversicht.

Er sagte:»Ehe ich nicht den Bericht meines Fregattenkapitäns vorliegen habe, können keine weiteren Schritte unternommen werden. Vielleicht läßt sich ein Kompromiß erarbeiten, aber nur auf der Grundlage der augenblicklichen Situation. Sir Humphrey Rivers ist der britische Gouverneur auf San Felipe, nicht mehr und nicht weniger.»

Jonathan Chase hatte schon zwei Gläser Weißwein geleert, wohl aus Sorge um den Verlauf der Besprechung, von der er sich diesmal einen besseren Ausgang erhoffte.»Das ist doch nicht unbillig, Sam, oder?«schaltete er sich vermittelnd ein.

Fanes tiefliegende Augen glitten über ihn hinweg.»Meine Regierung duldet in ihrer Einflußsphäre keinerlei Kriegshandlungen, die das amerikanische Interesse an freiem Handel und Verkehr beeinträchtigen würden. Ich halte es für die beste Lösung, daß die Insel amerikanisches Protektoratsgebiet wird, wenn die Bewohner eine Übergabe ablehnen. «Und abschließend, mit einem resignierten Seufzer:»Aber wenn der Admiral zuerst eine Demonstration der Stärke wünscht, dann müssen wir ihm wohl den Gefallen tun.»

Chase hielt Ozzard sein Glas zum Nachfüllen hin.»Herrgott, Sam, müssen Sie immer so tierisch ernst sein?«Fane lächelte verkniffen.»Meistens.»

An Deck oben erklangen Schritte, Befehle wurden gerufen. Das war Bolithos Welt, und nicht diese Doppelzüngigkeit hier unten. Er erhob sich und trat an die Heckfenster. Eine leichte warme Brise strich über die Massachusetts Bay und hatte den Himmel bis auf einige rosa Wölkchen leergefegt. Wie einladend doch die See aussah!

Fane sagte in seinem Rücken:»Es mag einige Monate dauern, bis die Angelegenheit bereinigt ist, aber was macht das schon? Die Franzosen bestehen nicht auf sofortiger Besetzung der Insel. Damit gewinnen wir alle mehr Zeit.»

Bolitho gewahrte draußen auf Reede plötzlich eine kleine bewaffnete Brigg, die in den Wind drehte, ihren Anker klatschend fallen ließ und routiniert die Segel barg. An ihrer Gaffel züngelte eine Flagge im Wind, die die gleichen Farben trug wie Achates' Nationale.

Bolitho erwiderte:»Ich bin von der Regierung Seiner Majestät beauftragt, die Insel zu übergeben, Sir. Niemand hat ein Interesse an einem Volksaufstand, schon gar nicht jetzt, da Westindien sich allmählich vom Krieg erholt.»

Die Brigg hatte ein Boot ausgesetzt, das bereits hastig in Richtung des Flaggschiffs pullte.

Bolitho spürte plötzlich einen Nerv an seiner Schläfe zucken. Was hatte diese Eile zu bedeuten? Brachte die Brigg bereits Neuigkeiten aus der Heimat oder.

Widerstrebend wandte er sich vom Fenster ab, zwang sich, dem anderen ins Gesicht zu sehen, obwohl seine von der Sonne geblendeten Augen in der Kajüte kaum etwas erkennen konnten.

«Ich werde Ihrem Präsidenten ein Schreiben senden. Wir wissen zu schätzen, daß er beabsichtigt. «Bolitho unterbrach sich und fuhr herum, weil Ozzard gemurmelt hatte:»Der Kommandant ist hier, Sir.»

Keen stand unter der Tür, den Hut in der Armbeuge.

«Bitte um Nachsicht für die Störung, Sir. «Sein Blick wanderte über die Anwesenden.»Aber der Kommandant der Brigg Electra ist an Bord gekommen — mit einer Nachricht für Sie, Sir. «Keens Blick wurde beschwörend.»Einer sehr ernsten Nachricht.»

Bolitho nickte.»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, meine Herren.»

Er folgte Keen aus der Kajüte und fand einen jungen Offizier vor dem Kartenraum warten. Gepreßt sagte Keen:»Dies ist Kapitänleutnant Napier, Sir. «Bolitho forderte ihn auf:»Berichten Sie.»

Napier mußte schlucken; die Electra war sein erstes Kommando, und er hatte noch nie zu einem Vizeadmiral gesprochen.

«Wir segelten mit südlichem Kurs, als wir eine amerikanische Brigg sichteten. Sie signalisierte um Hilfe, und als ich an Bord ging, stellte ich fest, daß sie britische Seeleute übernommen hatte. «Er senkte den Blick.»Schiffbrüchige.»

Bolitho sah Keen an, dessen Gesicht unter der Sonnenbräune bleich geworden war.

«Überlebende von der Sparrowhawk, Sir«, schloß der Kapitänleutnant gedämpft.

Bolitho verkrampfte die Hände auf dem Rücken, um sich seine Erschütterung nicht anmerken zu lassen. Insgeheim hatte er schon lange befürchtet, daß der kleinen Fregatte Schlimmes zugestoßen war. Aber er hatte an einen Orkan gedacht, an ein heimtückisches Riff oder an irgendeine der vielen anderen Gefahren, denen ein alleinsegelndes Schiff zum Opfer fallen konnte.

Napier berichtete weiter:»Sie wurden überfallen, Sir. Offenbar von einem Zweidecker, obwohl…»

Bolitho sah die Szene vor sich, als hätte er sie miterlebt: Ein Angriff wie damals auf Achates, ohne jede Vorwarnung. Nur war, das Opfer diesmal hoffnungslos unterlegen gewesen, selbst für den Fall, daß Duncan mit Feindseligkeiten rechnete.

«Wie viele Überlebende?»

Wieder konnte der junge Kommandant Bolitho nicht in die Augen sehen.»Fünfundzwanzig, Sir, und einige davon in hoffnungslosem Zustand.»

Bolitho überlief ein kalter Schauder. Fünfundzwanzig aus einer Besatzung von zweihundert Seelen.

«Offiziere darunter?«Fast erkannte er die eigene Stimme nicht.

«Keine, Sir. Nur ein Midshipman. Es war auch noch seine erste Fahrt.»

Also war Duncan mit seinem Schiff untergegangen, dachte Bolitho bitter. Er sah ihn noch vor sich als Gast auf seiner Hochzeitsfeier in Falmouth. Ein guter Offizier, charakterfest und verläßlich.

Es konnte nicht sein. Das träumte er nur.

Der Kapitänleutnant faßte Bolithos Schweigen fälschlich als Mißbilligung auf und fuhr hastig fort:»Der Midshipman berichtete, daß sich der Dritte Offizier in ein anderes Boot gerettet hatte, obwohl von Splittern in Gesicht und Hals getroffen. Während der Nacht trieben die Boote auseinander, und dann kamen die Haie.»

Napier blickte zu Boden.

«Bringen Sie den Midshipman zu mir. «Bolitho sah das Zögern des anderen.»Ist er verwundet?«»Nein, Sir.»

Keen befahl abschließend:»Also veranlassen Sie das.»

Als der Kapitänleutnant davoneilte, wies Bolitho Keen an:»Ve r-ständigen Sie meinen Adjutanten. Er muß sofort an Bord zurückkehren. Mit einem schnellen Pferd oder sonstwie.»

Aber Keen starrte Bolitho immer noch an.»Es war dasselbe Schiff, nicht wahr, Sir?»

«Ganz bestimmt. «Bolithos Blick blieb fest.»Stellen Sie unseren Arzt für die Verwundeten ab. Die Überlebenden der Sparrowhawk werden in unserer Stammrolle übernommen. Sie sollen dabeisein, wenn Achates mit diesem Schlächter abrechnet!»

Damit kehrte Bolitho in seine Kajüte zurück. Aber sein Äußeres mußte sich irgendwie verändert haben. Chases Hand mit dem halbleeren Glas blieb auf dem Weg zu seinen Lippen in der Luft hängen, Ozzard erstarrte mit der Karaffe in der Hand. Fanes Blick folgte Bo-litho zu den Heckfenstern, bevor er fragte:»Eine schlechte Nachricht, Admiral?»

Bolitho fuhr herum und musterte ihn; nur mit Mühe konnte er die weißglühende Wut unterdrücken, die in ihm aufwallte.

«Ich laufe aus, sowie alle meine Leute an Bord sind.»

Chase beugte sich im Stuhl vor, als wolle er Bolitho eingehender betrachten.»Also warten Sie doch nicht auf Ihre Fregatte?»

Bolitho schüttelte den Kopf.»Ich habe das Warten satt.»

Er sah das Boot der Brigg draußen ein zweites Mal heranpullen. Es war grausam, den jungen Midshipman nach allem, was er durchgemacht hatte, zum Rapport zu befehlen. Aber er mußte alles erfahren, was der Junge wußte.

Ruhig sagte er: «Sparrowhawk ist versenkt worden.»

Er hörte Chase überrascht nach Luft schnappen.

Zu Fane gewandt fügte er hinzu:»Sie sehen also, meine Herren, es könnte doch zu Kriegshandlungen kommen, ehe die Übergabe zur Zufriedenheit aller vollzogen wird.»

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