XIII Kein Pardon

«Noch etwas Kaffee, Sir?«Noddall hielt die Kanne über Bolithos Becher, ohne auf Antwort zu warten.

Bolitho trank langsam; die heiße Flüssigkeit durchrann ihn angenehm. Ein bißchen schmeckte sie auch nach Rum. Noddall tat wirklich sein Bestes.

Er ließ die Schultern sinken und zuckte zusammen. Jeder Knochen und Muskel tat ihm weh. Tatsächlich wie nach einem richtigen Gefecht. Oben an Deck stieg von den nassen Planken, aus den durchweichten Kleidungsstücken der müden Männer dichter Dampf auf. Seltsam geisterhaft sahen sie aus. Aber es war auch ein richtiges Gefecht ge wesen, überlegte er, obwohl kein Kanonenschuß gefallen war. Drei Tage und drei Nächte lang hatten sie gekämpft. Ihre schon engbegrenzte Welt wurde noch bedrängter durch die weißbeschäumten, aus endloser Weite donnernd anrollenden Wogen; ihre Sinne wurden stumpf im ständigen Geheul des Windes. Wie Bolitho selbst kaum noch Atem hatte, schien auch dem Schiff der Atem ausgegangen zu sein. Jetzt stand es unter fast schlaffen Besansegeln beinahe ohne Fahrt über seinem Spiegelbild. Dampfend unter dem wieder wolkenlosen Himmel, lag das Deck voller Fetzen, Enden, Späne, Splitter. An vielen Stellen war die Farbe abgeblättert, und das Holz trat nackt zutage, als wären die Zimmerleute eben erst fertiggeworden. Überall arbeiteten Matrosen mit Marlspiekern und Segelnadeln, Hämmern und Taljen, bemüht, ihr Schiff wieder in Ordnung zu bringen, das sie so treulich durch dieses Chaos getragen hatte. Selbst Mudge hatte erklärt, das sei so ziemlich der schlimmste Sturm gewesen, den er erlebt habe.

Eben kam der Alte über das Deck; auch aus seinem Mantel stieg Dampf auf, Wangen und Kinn verschwanden fast unter einem Wald von weißen Stoppeln.»Nach meiner Schätzung sind wir ein ganzes Stück über die Benua-Gruppe hinaus. Wenn wir das Mittagsbesteck aufgenommen haben, wird mir wohler sein. «Er blinzelte zu dem schlaff hängenden Wimpel hinauf, der im Sturm fast die Hälfte seiner Länge eingebüßt hatte.»Aber der Wind ist ausgeschossen, ganz wie ich mir das gedacht habe. Ich schlage vor, wir halten Ihren neuen Kurs, Nordnordwest, bis wir unsere Position einigermaßen festgestellt haben. «Er schnaubte sich heftig die Nase.»Und ich erlaube mir zu sagen, Sir, daß Ihre Schiffsführung erstklassig war. «Er blies die Backen auf.»Ein paarmal dachte ich tatsächlich, wir wären verloren.»

Bolitho blickte zur Seite.»Danke sehr. «Er dachte an die zwei Männer, die weniger Glück gehabt hatten. Der eine war in der zweiten Nacht über Bord gegangen. Weggewaschen, ohne daß jemand ihn gesehen oder gehört hatte. Der andere war vom Backbordbalken abgerutscht, als er eine durchgeriebene Zurring am Ankerstock auswechselte. Eine unvermutete einzelne Woge hatte ihn fast beiläufig von seinem Sitz gefegt, und Bolitho hatte noch eine Zeitlang gedacht, er würde gerettet werden. Eifrige Hände hatten nach ihm gegriffen, aber eine zweite Welle hatte ihn erfaßt und ihn nicht etwa weggeschwemmt, sondern hoch in die Luft geworfen wie einen Hampelmann, und ihn dann mit wilder Wut gegen den schweren eisernen Anker geschleudert. Bootsmannsmaat Roskilly schwor, er habe die Rippen des Mannes krachen und splittern gehört, ehe er schreiend in dem schäumend am Schiffsrumpf entlangwirbelnden Wasser verschwand. Und dann noch der Mann, der vom Mast gefallen war. Somit hatte der Sturm drei Tote gekostet, und dazu sieben Verletzte. Knochenbrüche, von der stoßenden, bockenden, klatschnassen Leinwand aufgerissene Finger, Hautentzündungen durch Salz und Wind; Wunden an den Handflächen von den Leinen, die durch die umklammernden Fäuste gerutscht waren — so lauteten die Eintragungen im Krankenjournal des Schiffsarztes.

Herrick kam nach achtern und sagte:»Ich lasse gerade einen neuen Klüver anschlagen, Sir. Der andere ist nur noch als Flickzeug zu gebrauchen. «Noddall reichte ihm einen dampfenden Becher, und er trank genüßlich.»Der Himmel helfe dem armen Seemann!»

Bolitho blickte ihn von der Seite an.»Sie wollen ja gar keinen anderen Beruf!»

Herrick schnitt eine Grimasse.»Hier und da hatte ich schon mal meine Zweifel darüber.»

Davy, der die Wache hatte, trat zu ihnen an die Reling.»Ob wir wohl bald Land in Sicht kriegen, Sir?«fragte er.

Davy sah älter aus, weniger selbstgefällig als beim Dienstantritt auf der Undine. Im Sturm hatte er sich gut bewährt; vielleicht dachte er immer noch, wirkliche Gefahr könne nur aus der Mündung einer Kanone kommen.

Bolitho überlegte.»Das hängt davon ab, wie genau wir unsere Position fixieren können. Wenn wir die Abdrift berücksichtigen und die veränderte Windrichtung, könnten wir, glaube ich, vor Einbruch der Dunkelheit die Inseln in Sicht haben.»

Er lächelte, und das tat ihm so weh, daß ihm erst richtig klar wurde, wie anstrengend die letzten Tage gewesen waren.

Mißmutig sagte Herrick:»Der verdammte Froschfresser wird uns schön auslachen. Sitzt gemütlich in seinem Hafen unter den Kanonen dieses verdammten Piraten!»

Bolitho blickte ihn nachdenklich an. Dieser Gedanke hatte ihn selbst während der ganzen Zeit kaum losgelassen, obwohl er weiß Gott anderes genug im Kopfe hatte. Mit dem französischen Kapitän zu parlamentieren, war eine Sache, Eine ganz andere war, daß dieser Muljadis Flagge fuhr. Das zu akzeptieren, bedeutete das offene Eingeständnis einer Niederlage: die Anerkennung der faktischen Souveränität Muljadis. Wenn Conway diese anerkannte, dann würde jedes andere europäische Land, das Handels- und Schutzrechte in Indien besaß, und ganz besonders die mächtige Niederländische Ostindien-Companie, das als den Versuch Englands betrachten, alle Vorteile für sich in Anspruch zu nehmen. Und das war genau, was Frankreich wollte.

Was aber sollte er tun, wenn der französische Kapitän auf Conways Botschaft nicht einging? Draußen vor den Inseln auf-und abpatrouillieren und die Argus in Kämpfe verwickeln? Das wäre eine sehr einseitige Angelegenheit. Le Chaumareys war ein alter Seefuchs und kannte in diesen Gewässern jedes Inselchen, jede Bucht, wo er sich in Kriegszeiten vor den britischen Fregatten verkrochen hatte. Und er brauchte weiter nichts zu tun, als irgendwo vor Anker liegen zu bleiben und sich von Land aus zu versorgen, bis die Undine wieder abzog.

Seine Müdigkeit verstärkte noch seinen Ärger. Wenn nur die Politiker mal hier wären und selbst sehen könnten, wie sich ihre

Träume von Weltstrategie in Fleisch und Blut, in Holz und Segelleinwand ausnahmen!» Land in Sicht! Steuerbord voraus!»

Davy rieb sich die Hände.»Da sind wir ja näher dran, als Sie dachten, Sir!»

«Auf gar keinen Fall!«warf Mudge dazwischen. Er zerrte seine Tafel aus der Tasche und machte ein paar blitzschnelle Berechnungen.»Da gibt es eine kleine Insel, etwa vierzig Meilen südlich der Benuas, Sir. «Er blickte sich suchend um, bis er Midshipman Penns winzige Gestalt an der Heckreling entdeckt hatte.»Rauf mit Ihnen, Mr. Penn, und nehmen Sie sich das große Glas zur Gesellschaft mit!«Er starrte ihn wild an.»Sehen Sie sich genau um, und machen Sie mir 'ne Zeichnung, wie ich's Ihnen beigebracht habe!«Er wartete, bis der Junge an die Hauptmastwanten gerannt war, und lachte dann leise.

«Capt'n Cook hatte die richtige Idee, Sir. Jedes verdammte Ding, das man sieht, abzeichnen und beschreiben. Die Zeit wird kommen, wo jedes verdammte Kriegsschiff 'n komplettes Bilderbuch zum Studieren hat. «Er sah hinter dem aufenternden Penn her.»Manche Leute werden sich natürlich doch nicht danach richten!»

«Besser als ich dachte«, sagte Bolitho lächelnd zu Herrick.»Wir setzen einen Mann auf Lotstation und lassen loten, sobald wir Mudges Insel passieren. Nach der Karte sind hier herum etwa neunzehn Faden, aber ich möchte lieber sichergehen.»

Nach zwanzig Minuten war Penn wieder an Deck, das braune Gesicht schweißbeperlt. Er reichte Mudge seinen fleckigen Notizblock und trat dann einen Schritt zurück, gespannt, was der Alte wohl dazu sagen würde. Davy blickte ihm über die Schulter.»Sieht ja wie ein Wal aus!«Mudge warf ihm einen kalten Blick zu.»Genau. «Und zu Penn gewandt:»Haben Sie gut gemacht. So hab ich's in Erinnerung. «Seine kleinen Augen gingen wieder zu Davy hinüber.»Genau wie ein großer steinerner Wal.«Und nach einer kaum merkbaren Pause:»Sir.»

«Irgendwas darauf?«Bolitho nahm ein Fernrohr und richtete es über das Geschützdeck auf die Insel. Zunächst sah er nur den gleichen schmerzhaft gleißenden Glanz wie überall. Einen Moment überlegte er, wo denn der Sturm eigentlich geblieben sei, wohin er nach diesem furchtbaren Toben verschwunden sein mochte.

«Lieber Gott, nein, Sir. «Mudge freute sich offensichtlich, daß er Davy eins ausgewischt hatte.»Bloß 'ne Handvoll Stein, wie die Spitze einer unterseeischen Klippe, was es zweifellos auch irgendwann mal war. Aber ich glaube schon, daß es bei starkem Wind einen ganz guten Schutz abgeben könnte.»

Eben zogen ein paar Matrosen ein langes neues Tau über die Decksplanken, von denen immer noch Dampf aufstieg. Sie mochten erschöpft und dreckig und stoppelig sein, aber da war noch etwas anderes an ihnen. Die Art, wie sie zusammenarbeiteten — sie vertrauten einander.»Wir wollen einen Strich abfallen, Mr. Davy«, sagte er,»damit Sie sich Ihren Walfisch genauer ansehen können.»

Davy stürzte an die Reling.»Mr. Penn! Pfeifen Sie» Alle Mann an die Brassen!««Lächelnd sah Herrick ihm nach.»Haben Sie einen besonderen Grund dafür, Sir?»

Bolitho zuckte die Achseln.»Mehr so ein Gefühl. «Er beobachtete die über das Deck stampfenden Männer. Es dampfte immer noch. Im Vorschiff sah er richtigen Rauch, denn Boyle, der Koch, bereitete eben die erste warme Mahlzeit seit dem Sturm.

Die Rahen schwangen unter dem Zug der Brassen herum, und der Rudergänger sang aus:»Nordost zu Nord, Sir!«Davy eilte nach achtern, um den Kompaß und den Stand der Segel zu kontrollieren.»Die Luv-Großbrasse noch ein Stück dichtholen, Mr. Shellabeer!«Er tupfte sich das schweißüberströmte Gesicht ab.»Recht so — belegen!«Bolitho lächelte wieder. Wenn Davy sich geärgert hatte, versah er aus irgendeinem Grund seinen Dienst besser.»Schicken Sie noch einen guten Ausguck hoch, bitte!«befahl er.»Die Insel soll scharf beobachtet werden, bis wir auf ihrer Höhe sind.»

Sanft hob und senkte sich der Bugspriet über einem Teppichmuster aus glitzernden Sonnenreflexen.»Ich gehe unter Deck, Mr. Herrick. Ich will mich rasieren lassen und Noddall ein sauberes Hemd entreißen.»

Als er dann im Stuhl zurückgelehnt saß und Allday mit seinem Rasiermesser an der Arbeit war, fand er Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, was er tun würde, falls er mit dem Kapitän der Argus zusammenträfe. Das eilig heißgemachte Wasser, das sanfte Gleiten der Klinge auf seiner Haut wirkten entspannend auf die Muskeln, und der leichte Luftzug von den offenen Heckfenstern fächelte um seine bloßen Schultern wie eine beschwichtigende Umarmung. Auf dem ganzen Erdball taten des Königs Kapitäne ihren Dienst, schlugen sich mit Skorbut und anderen Seuchen herum, beförderten Depeschen an einen Admiral oder an einen gottverlassenen Außenposten, der noch auf keiner Landkarte eines Schuljungen zu finden war. Oder sie hockten hinter einem Kabinenschott und hatten Angst vor einer Meuterei, oder dachten sich irgendwelche Ablenkungsmanöver aus, um eine zu verhindern. Vielleicht kämpften sie gegen irgendeinen abtrünnigen Herrscher, welcher Untertanen des Königs angegriffen hatte. Er lächelte. Und der eine oder andere würde in ähnlicher Lage wie er selbst sein: ein winziges Teilchen eines halbausgeformten Planes.

Durch das offene Oberlicht hörte er den Ausguck:»Deck ahoi! Schiff vor Anker dicht unter der Küste!«Er sprang auf, griff das saubere Handtuch und wischte sich damit den Schaum vom Kinn.

Allday trat zur Seite und grinste bewundernd.»Bei Gott, Captain, Sie müss'n ja schlauer sein als ein Bauernkater! Woher haben Sie bloß gewußt, daß da ein Schiff ist?»

Bolitho stopfte sich das zerknitterte Hemd in den Hosenbund.»Pure Magie, Allday!«Er rannte zur Tür, zwang sich dann aber zu warten, bis Midshipman Penn im Türrahmen erschien.

«Ein Schiff, Sir!«Mr. Davy läßt respektvoll melden, er glaubt, es ist ein Schoner.»

«Danke, Mr. Penn«, antwortete er und zwang sich, seine Erregung zu verbergen.»Ich komme an Deck, sobald ich mich umgezogen habe. Mein Kompliment an den Ersten Leutnant, und ich lasse ihn bitten, aufs Achterdeck zu kommen, sobald ich dort bin.»

Er wandte sich um und sah, daß Allday ein Lächeln verbarg.»Finden Sie irgend etwas amüsant?«fragte er.

«Aber nein, Captain«, erwiderte Allday und blickte ihm ganz ernsthaft ins Gesicht.»Ich höre immer gern zu, wenn feine Leute miteinander sprechen.»

«Hoffentlich lernen Sie was davon«, brummte Bolitho und trat auf den Gang hinaus.

Oben empfing ihn Herrick ganz aufgeregt.»Ein Schoner, Sir! Der Mann im Vortopp ist mein bester Ausguck, und ich habe ihm noch ein besseres Glas hinaufbringen lassen. «Er starrte Bolitho mit unverhohlenem Staunen an.»Das ist ja direkt unheimlich!»

Bolitho lächelte flüchtig.»Es war nur so eine Idee, um die Wahrheit zu sagen. Aber der Sturm war ja ziemlich schlimm, und als der Steuermann davon sprach, daß die Insel guten

Schutz bietet, habe ich mir eben gedacht, man müßte mal nachsehen.»

Er nahm Penns Fernrohr und spähte über den Bug. Dort lag das Eiland jetzt, ein unbestimmter graublauer Fleck. Der Ausguck im Masttopp würde viel mehr sehen können.

«Wie steht der Wind?»

«Aus Südwest, Sir«, sagte Davy. Dementsprechend traf Bolitho seine Entscheidung.»Kurs ändern. Auf Backbordbug gehen. «Er schritt zur Bussole. Neugierig blickte der Rudergänger ihn an.

«Ruder Nordnordwest!»

Ein Bootsmannsmaat beeilte sich,»Alle Mann an die Brassen «zu pfeifen.

Bolitho erläuterte Herrick, was er vorhatte:»Auf diese Weise bleibt die Insel zwischen uns und dem Schoner, und wir haben Raum in Luv. Setzen Sie Großsegel, aber lassen Sie die Oberbramsegel vorläufig noch angeschlagen.»

Herrick war sofort im Bilde.»Aye, Sir. Je weniger Leinwand wir zeigen, um so unwahrscheinlicher ist es, daß sie uns sichten.»

Bolitho warf einen Blick auf Mudge, der jetzt bei Fowlar am Ruder stand.»Sie selbst haben mir diese Idee in den Kopf gesetzt. Ich habe mir dauernd überlegt, wieso Muljadi immer so gut über unsere Bewegungen informiert ist. Ich glaube, wir werden bald wissen, wie er das macht. «Er schaute in den verwaschenen blauen Himmel hoch über den Masten, die in der heißen Luft verschwammen.»Wir wären direkt von Osten gekommen, wenn der Sturm nicht gewesen wäre. So haben wir wenigstens einen Vorteil von diesem Dreckwetter gehabt.»

«Und was ist mit den Instruktionen des Admirals?«fragte Herrick leise. Aber dann grinste er.»Ich kann Ihnen am Gesicht ansehen, daß Sie sich den passenden Moment selbst aussuchen wollen.»

Bolitho lächelte.»Bettler können sich gar nichts aussuchen. Das habe ich längst gelernt.»

Die Undine schwang mit krachenden, schauernden Segeln nach Backbord auf den neuen Kurs. Das kleine bucklige Inselchen schwamm in Luv vom Bugspriet weg, als habe es Anker gelichtet.

«Nordwest liegt an, Sir! Voll und bei!»

«Jetzt 'ran mit dem Großsegel!«befahl Bolitho und gab Davy das Handzeichen.»Mr. Mudge, wie lange noch, Ihrer Meinung nach?»

Mudge schob nachdenklich die Lippen vor.»Zwei Stunden,

Sir.»

«Gut. Dann können wir beide Wachen zum Essen schicken, sobald die Segel richtig ziehen.»

Eilig kletterten die Matrosen die Rahen entlang; andere standen unten an Deck bereit, um die mächtigen Großsegel von Haupt- und Fockmast dichtzuholen. Wohlgefällig nickte Herrick.»Die haben sich ein bißchen verändert seit damals, als sie an Bord kamen, Sir!»

«Das wird wohl für die meisten von uns zutreffen«, erwiderte Bolitho und merkte dabei plötzlich, daß er furchtbaren Hunger hatte. Er schritt zum Kajütniedergang. Bestimmt war das unbekannte Schiff harmlos, vielleicht ein schon längst aufgegebenes Wrack. Vielleicht wieder ein Trick, um ihn aufzuhalten und irrezuführen.

Noddall blickte ihm ängstlich entgegen.»Wieder Salzfleisch,

Sir.»

«Ausgezeichnet. «Er übersah die Verwunderung in Noddalls Nagetiergesicht.»Aber etwas Wein zum Anfeuchten!«Er lehnte sich über das Bord des Heckfensters und starrte auf das schäumende Kielwasser unter dem Steven. Zufall oder Glück, wie man es nun nennen mochte — nur darauf konnte er rechnen. Und er würde es zu nutzen wissen!

«Siebzehn Faden!«sang der Mann am Lot aus. Seine Stimme übertönte das Flappen der Leinwand. Die Großsegel waren jetzt wieder aufgegeit, und die Undine glitt stetig auf die kleine Insel zu. Eben tippte Shellabeer dem Mann auf die Schulter und ließ sich das Lot geben. Er befühlte das talggefüllte Bodenstück und meldete dann:»Felsiger Grund, Sir.»

Bolitho nickte. Das Inselchen war so, wie Mudge es beschrieben hatte: eine isoliert stehende Felsenklippe, kein eigentlicher Teil des Meeresgrundes.

«Klarmachen zum Ankern, Mr. Herrick!«Er ließ sich von Penn ein Fernglas geben und suchte sorgfältig die Felszacken der Insel ab. Sie lagen jetzt etwa fünf Kabellängen entfernt, aber es war nahe genug um zu sehen, daß der erste Eindruck falsch gewesen war. Die Insel sah jetzt keineswegs mehr wie ein glatter Walfischrücken aus. Die Felsen waren bläulichgrau wie die Schiefergebirge in Cornwall. Wind und Wetter hatten tiefe

Klüfte hineingegraben, so als hätte ein Riese versucht, die Insel in Stücke zu hacken. Abgesehen von ein paar Büschen Stechginster und sonstigen Steinpflanzen sah sie kahl und unwirtlich aus, aber in vielen kleinen Spalten hockten zahllose Seevögel, und andere kreisten hoch oben in der Luft, etwa dreihundert Fuß über dem Wasser, seiner Schätzung nach.

Herrick gab mit lauter Stimme seine Befehle; die Takelung knarrte und krachte, als die Undine in einer plötzlich aufkommenden Dünung rollte. Das Wasser sah tief aus, aber das war Täuschung. Am Fuße der nächstgelegenen Klippe gab es ein paar schmale, steinige Strände; vermutlich war der sicherste Ankerplatz auf der anderen Seite, dort wo sich das unbekannte Schiff versteckt hatte. Hier auf dieser Seite lief auch eine Brandung; steil und bösartig schäumte sie um die einzig sichtbare Stelle, wo eine Landung möglich schien.

«Ruder nach Lee!«Das Schiff glitt leicht in den Wind; er fing die Bewegung mit dem Glase ab und suchte nach irgendeinem Zeichen von Leben, einer geringfügigen Bewegung, die anzeigte, daß man sie gesehen hatte.

«Fallen Anker!»

Das Aufplatschen des Ankers klang ungebührlich laut; diese gottverlassenen Klippen schienen den Schall ärgerlich zurückzuwerfen.»Lebhaft, Jungens!«rief Herrick.»Boote klar zum Aussetzen, Mr. Davy!»

«Mr. Herrick«, warf Bolitho dazwischen,»der Mann am Lot soll jetzt genau aufpassen, ob der Anker hält. Wenn er auf dem felsigen Grund rutscht, müssen wir mehr Kette stecken.»

«Aye, Sir. «Und Herrick eilte davon. Er hatte alle Hände voll zu tun.

Trag schwojte und zerrte das Schiff an der Kette; es wurde jetzt ruhiger, einige Seevögel verließen ihre luftigen Plätze und zogen über den Masttopps ihre Kreise. Schwer atmend kam Herrick wieder.»Es scheint, wir liegen ziemlich sicher, Sir. Aber ich habe die Ankerwache angewiesen, scharf aufzupassen. «Er spähte mit zusammengekniffenen Augen zur Küste hinüber.»Das sieht ja wie ein Kirchhof aus.»

«Zwei Boote brauchen wir«, sagte Bolitho nachdenklich.»Gig und Kutter sind genug. Die müssen flott durch die Brandung. Steiler Strand, anscheinend. Teilen Sie also einen guten Bootsmann für den Kutter ein. «Er sah, daß Allday bereits durch Handzeichen das Anhieven und Aussetzen der Gig dirigierte, und fügte lächelnd hinzu:»Ich denke, me in Boot ist in guten Händen.»

Herrick fragte betroffen:»Wollen Sie denn mit an Land, Sir?»

«Nicht weil es mich nach Ruhm gelüstet, Thomas. «Er senkte die Stimme. Die eingeteilten Besatzungen traten jetzt bei den Waffenkisten zur Musterung an.»Aber ich muß zum mindesten wissen, womit wir es zu tun haben.»

Herrick war anscheinend nicht überzeugt.»Aber wenn das andere Schiff zu den Piraten gehört — was dann, Sir? Dann werden Sie doch sicher wenden wollen und den Kerl unter Feuer nehmen, wenn er versucht freizuschlippen.»

«Nein. «Er schüttelte bestimmt den Kopf.»Der liegt da hinten sicher vor Anker. Und dort ist das Wasser zu flach, als daß ich nahe genug herankönnte, um ihn unter Feuer zu nehmen. Wenn er erst mal auf hoher See ist, dann kann er uns zum Besten haben, wie er will — ich fürchte, wir sind unter diesen Umständen einfach nicht beweglich genug. Und außerdem«, fügte er hart hinzu,»will ich ihn entern.»

«Boote liegen längsseits, Sir!«meldete Davy. Ein krummer Entersäbel baumelte an seiner Seite. Bolitho faßte seinen eigenen Degen. Indessen betrachtete Hauptmann Bellairs die Boote, die ohne ihn fahren sollten, mit wachsendem Ärger.

«Hauptmann Bellairs«, rief Bolitho,»ich wäre Ihnen verbunden, wenn ich für jedes Boot drei Ihrer allerbesten Scharfschützen haben könnte. «Bellairs wurde zusehends heiterer und blaffte Sergeant Coaker an:»Äh — Beeilung, Sa'rnt! Eigentlich müßten sie ja allesamt erstklassige Scharfschützen sein, wie?»

Herrick grinste.»Sie denken auch an alles, Sir.»

Bolitho ließ das Glas aufs neue über die Insel gleiten, dort wo eben ein paar Seevögel elegant auf einer Klippe landeten. Das würden sie nie tun, wenn Menschen in der Nähe wären.»Kann ja sein, daß Seeleute besser klettern können, aber eine gutgezielte Kugel im richtigen Moment ist nun mal nicht zu schlagen.»

Er nickte Davy zu.»Mannschaften in die Boote!«Und dann zu Herrick, ganz beiläufig:»Wenn etwas schiefgeht, finden Sie die Befehle des Admirals in meiner Kajüte.»

«Sie können sich auf mich verlassen, Sir«, antwortete Herrick und machte wieder sein besorgtes Gesicht.»Aber ich bin sicher, daß. .»

Lächelnd tippte Bolitho ihm auf den Arm.»Ja. Aber denken Sie trotzdem an die Befehle. Wenn es nötig ist, führen Sie sie aus — nach Ihrem eigenen Ermessen!»

Langsam schritt er zum Fallreep an den angetretenen Matrosen und Seesoldaten vorbei. Jetzt kannte er sie; von jedem einzelnen wußte er, wie er hieß und was er taugte.

Midshipman Armitage schien verwirrt und außer Fassung zu sein.»Sir! Die Scharfschützen wollen ihre Uniformröcke nicht ausziehen. «Ein paar von den Matrosen stießen einander grinsend in die Rippen, und Armitage bekam einen roten Kopf.

Bellairs krähte:»Äh — meine Männer können schließlich nicht wie die verdammten Landstreicher rumlaufen, wie?«Und zu Bolitho mit einem raschen, entschuldigenden Blick:»Das geht doch nicht, Sir, nicht wahr?»

Bolitho schlüpfte aus seinem blauen Rock und warf ihn Noddall zu, der sich bei der Achterdecksleiter herumtrieb.»Ist schon in Ordnung. «Ernsthaft nickte er den Marineinfanteristen zu.»Wenn ich ein bißchen Autorität ablegen kann, dann können Ihre Leute das bestimmt auch. «Der Sergeant sammelte die roten Röcke und die Tschakos ein, und der Ehre war offenbar Genüge getan. Trotzdem fügte er noch hinzu:»Außerdem wird es eine schwierige Kletterei geben, und wer weiß, was danach kommt.»

Einen Moment noch überblickte er die schwankenden Boote und dachte nach, was er wohl vergessen haben könnte. Halblaut sagte Herrick:»Viel Glück, Sir.»

Bolitho warf noch einen Blick auf die Männer am Fallreep und in den Wanten.»Auch Ihnen, Thomas. Halten Sie die Leute in Alarmbereitschaft, Wache um Wache. Sie wissen, was Sie zu tun haben. «Er sah, wie Armitage zwischen den Rudergasten in der Gig herumstolperte. Es war beinahe grausam, ihn mitzunehmen. Und obendrein ein Risiko. Aber irgendwann mußte er ja mal anfangen. Wenn jemand so eine Mutter hat wie Armitage, dachte er, dann ist es überhaupt ein Wunder, wenn er zur See geht. Wäre Keen an Bord gewesen, hätte er den mitgenommen. An der Reling stand Penn und sah sehnsüchtig auf die Boote hinunter. Der wäre mit Freuden mitgefahren.»Tiger «nennen ihn die Matrosen, dachte Bolitho amüsiert.

Dann kletterte er in die Gig. Diesmal wurde nicht Seite gepfiffen. Ein Gefühl der Spannung überkam ihn, als die Boote ablegten.»Nehmen Sie die Spitze, Allday!«befahl er. Bei jedem Schlag der Riemen stiegen die felsigen Klippen höher und höher aus dem Wasser, und Bolitho konnte die starke Unterströmung spüren. Die Dünung brach sich und sprang als schäumende Brandung auf den Strand. Achteraus stampfte der Kutter durch das glitzernde Sprühwasser; über den Schultern der Rudergasten schwankte Davys Kopf. Auch der Leutnant spähte aufmerksam zur Insel hinüber. Woran mochte er denken? Daß er auf diesem gottverlassenen Fleck seinen Tod finden könnte? Oder daß er dem so dringend benötigten Prisengeld einen Schritt näher sein mochte? Bolitho wischte sich die Spritzer vom Gesicht und konzentrierte sich auf die schnelle Anfahrt. Im Augenblick war die Gefahr des Ertrinkens größer als jede andere.

Allday stand halbgebückt, umfaßte eisern mit der einen Hand die Ruderpinne, visierte über Heck und Bug, berechnete den Rhythmus der wütenden Brandungswellen, die schräge Linie der Brecher, die brüllend zwischen die dunklen Klippen schlugen. Ihn brauchte man nicht zu warnen. Jedes Dreinreden würde ihn nur verwirren, und das könnte katastrophale Folgen haben.

«Mächtig steile Küste, Captain«, warf er hin. Sein kraftvoller Körper glich die Schwankungen des Bootes aus.»Am besten schnell rein, im letzten Moment 'rum mit dem Bug, und dann mit der Welle breitseits auf den Strand. Was halten Sie davon, Captain?»

«Sehr schön«, lächelte Bolitho. Dann würden sie überdies Zeit haben, um auszusteigen und dem nachkommenden Kutter zu helfen.

Ihm wurde plötzlich kühl. Sie waren bereits im Schatten der Klippen; der Wellenschlag, das Knirschen der Riemen in den Duchten hallte von den Steinen wider. Es hörte sich an, als sei ein drittes unsichtbares Boot in der Nähe.

Sie rutschten beinahe über die letzte Welle; verzweifelt versuchten die Rudergasten, Schlag zu halten.

«Jetzt!«brüllte Allday und riß die Ruderpinne herum.»Stauwasser an Backbord«, meldete er.

Gefährlich dümpelnd und krängend setzte die Gig beinahe breitseits auf den Strand, der Kiel pflügte mit protestierendem Knirschen und Zittern durch Kiesel und Tang. Doch schon sprangen die Männer in den Schaum, packten das Dollbord und brachten die Gig mit purer Muskelkraft ins Sichere.

«Alles raus!«Allday stützte Bolitho am Arm, als sie alle miteinander durch die Wellen aufs feste Land wateten.

Bolitho eilte zum Fuße der Klippe und überließ Allday die Aufsicht über die Sicherung des Bootes. Er winkte den drei Marineinfanteristen.»Ausschwärmen! Seht zu, ob ihr einen Weg zum Gipfel findet!«Sie begriffen sofort und eilten, ohne sich nach dem näherkommenden Kutter umzublicken, den geröllbedeckten Abhang empor, die geladenen Musketen schußfertig im Arm.

Gespannt sah Bolitho zu dem gezackten Felsgrat empor. Blaßblau wölbte sich der Himmel darüber. Keine spähenden Köpfe tauchten auf, keine plötzliche Musketensalve prasselte herab. Sein Atem ging jetzt ruhiger. Er wandte sich um und beobachtete den ankommenden Kutter, der herumschwang und mit dumpfem Aufschlag zwischen den wartenden Matrosen auf den Strand setzte.

Nach Atem ringend stolperte Davy ihm entgegen; doch waren seine Finger, als er die Pistole lud, bemerkenswert ruhig.

«Mustern Sie die Männer«, sagte Bolitho,»und schicken Sie Ihre drei Seesoldaten hinter den anderen her!«Er sah sich nach Armitage um, aber der war nirgends zu erblicken.

«Himmeldonnerwetter, wo ist… «Aber Davy grinste — eben kam Armitage, sich die Hose zuknöpfend, hinter einem Felsblock hervor. Unwillig sagte Bolitho:»Wenn Sie sich schon ausgerechnet jetzt erleichtern müssen, Mr. Armitage, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie wenigstens in Sicht blieben!»

Der Midshipman ließ den Kopf hängen.»P..pardon, Sir. «Bolitho lenkte ein.»Es ist sicherer für Sie; und ich werde mich bemühen, es Sie nicht merken zu lassen, wenn ich schockiert sein sollte.»

Allday kam mit knirschenden Schritten über die Kiesel und lachte in sich hinein, während er ein paar Pistolen mit frischem trockenem Pulver lud.»Wissen Sie, Mr. Armitage, ich kann verstehen, wie Ihnen zumute war.»

Der Junge starrte ihn unglücklich an.»Sie?»

«Na klar. Ich hab mich mal auf 'nem Heuboden versteckt. «Er blinzelte dem Bootsmann des Kutters zu.

«Vor so 'nem lausigen Preßkommando; und, ob Sie's glauben oder nicht, ich konnte nichts anderes denken, als daß ich furchtbar pissen mußte!»

«Na, hoffentlich hilft ihm das ein bißchen«, sagte Bolitho zu Davy. Dann vergaß er Armitages Privatsorgen und befahl:»Vier Mann bleiben bei den Booten!»

Wie ein wunderhübsches Schiffsmodell schwojte die Undine vor Anker; die Heckfenster glänzten im Sonnenlicht. Wahrscheinlich sah Herrick zu, wie sie vorgingen. Wenn die auf Strand gesetzten Boote angegriffen wurden, konnte er Hilfe schicken. Er blickte wieder an den Klippen hoch. Feucht, dumpf, trügerisch kühl. Oben auf dem Grat, in der Sonne, würde es brühheiß sein. Er wartete, bis Davy wieder bei ihm war.

«Also dann los!»

Allday gab dem Landungskommando ein Handzeichen, in Richtung auf die Klippen vorzugehen. Bolitho musterte die Männer prüfend. Außer Davy und Armitage hatte er an Chargen noch einen Steuermannsmaat namens Carwithen mitgenommen, der es furchtbar übelgenommen hätte, wenn er an Bord hätte bleiben müssen, nachdem Fowlar sich so hatte auszeichnen können. Carwithen stammte wie Bolitho aus Cornwall und war ein dunkelhaariger, selten lächelnder Mann aus dem Fischerdorf Looe.

Bolitho wartete, bis sie ihre Waffen nachgesehen hatten: alles Männer, die seinem Befehl gehorchten — an Bord oder an Land, das galt ihnen gleich.

Carwithen sagte:»Hoffentlich gibt's was zu trinken auf der anderen Seite. «Es fiel Bolitho auf, daß kaum jemand bei dieser Bemerkung lächelte. Carwithen war als harter Mann bekannt, der leicht zuschlug, wenn er gereizt wurde. Er verstand seine Arbeit, aber zu mehr reichte es nach Meinung des Steuermanns nicht. Ganz anders als Fowlar, dachte Bolitho.

«Gehen Sie mit Ihrer Abteilung nach links, Mr. Davy, aber die Seesoldaten sollen das Tempo angeben. Sie, Mr. Armitage, bleiben bei mir.»

Einer der Marineinfanteristen gab soeben ein Zeichen — er hatte einen Kletterpfad entdeckt, der zu einer ersten Felskante führte.

Seltsam, wie unangenehm den Matrosen jedesmal der Moment war, wenn sie die See hinter sich ließen. Als ob eine Leine am Gürtel sie zurückzerrte. Bolitho schob seinen Degen etwas beiseite und packte den nächsten Felsvorsprung. Endloser Regen und Wind hatte die Steine glattgeschliffen, Millionen von Seevögel sie mit ihrem Kot bedeckt. Kein Wunder, daß die Schiffe diese Insel mieden.

Vorsichtig kletterte er über Felsbrocken und Geröll. Er spürte einen kleinen Druck an seinem Schenkel — die Uhr, die sie ihm in Madras geschenkt hatte. Plötzlich mußte er daran denken, daß sie ihm noch viel mehr gegeben hatte. Und er hatte es bedenkenlos genommen. Welch ein Gefühl, als sie in seinen Armen lag, sanft und doch voller Leben…

Seine Finger faßten in frischen Vogelkot, und er verzog das Gesicht. Wie schnell sich die Verhältnisse ändern können, dachte er grimmig.

Das Vorgehen auf der kleinen Insel erwies sich als schwieriger und anstrengender, als sie erwartet hatten. Sobald sie die erste Klippe überwunden hatten und die Sonne mit voller Glut auf sie niederbrannte, sahen sie, daß sie erst eine tückische Schlucht passieren mußten, ehe sie die nächste Höhe in Angriff nehmen konnten. Und so ging es weiter, bis sie endlich über eine fast kreisrunde Hochfläche stapften, die, wie Bolitho annahm, die Mitte der Insel bildete. Dort fing sich die Hitze; keine Seebrise drang bis hierher, und der Vormarsch wurde noch durch den klebrigen Teppich aus Vogelmist erschwert, der das Plateau von einem Ende zum anderen bedeckte.

Allday keuchte:»Machen wir Rast, wenn wir auf der anderen Seite sind, Captain?«Seine Arme und Beine waren, ebenso wie die der anderen, voller Vogelschmutz, und eine dünne Lage Staub bedeckte sein Gesicht wie eine Maske.»Ich bin trocken wie ein Henkerauge!»

Bolitho wollte nicht schon wieder auf die Uhr sehen. Wie er am Stand der Sonne erkannte, war es bereits tiefer Nachmittag. Das dauerte alles viel zu lange!

An der anderen Seite des umschlossenen Plateaus konnte er Davys Abteilung sehen, die mühsam im Gänsemarsch vorging. Die Scharfschützen der Marineinfanterie schritten mit geschulterten Musketen wie Jäger voran.»Ja«, antwortete er auf Alldays Frage,»aber wir müssen mit den Wasserrationen sparen.»

Ihm kam es so vor wie der Gipfel der Welt. Die gekrümmten Ränder des Plateaus verbargen alles außer der Sonne und dem leeren Himmel. Wie er an den langgestreckten, schwankenden Schatten sehen konnte, war hinter ihm einer der Männer in den mehrere Zoll hoch liegenden Vogelmist gefallen; Bolitho brauchte sich nicht umzudrehen; er wußte auch so, daß es Armitage war.

Heiser rief ein Matrose:»Hier, fassen Sie meine Hand! Mensch, Sie sehen vielleicht aus… Pardon, Sir!»

Der arme kleine Armitage! Bolitho starrte blicklos die gelblichweißen Kniehosen des Marineinfanteristen vor ihm an, der vor Staub und Hitze förmlich qualmte. Vor dem Seesoldaten lagen ein paar Felsen; wahrscheinlich war die Hochebene dort zu Ende. Da konnten sie Rast machen, eine kurze Ruhepause im Schatten; sich ein bißchen erholen.

Er wandte sich um und sagte zu dem Matrosen, der Armitage aufgeholfen hatte:»Hast du noch Atem genug, um der Vorhut einen Befehl zu überbringen, Lincoln?»

Eifrig nickte der Mann. Er war klein und drahtig; sein Gesicht entstellte eine schreckliche Narbe — sie konnte von einem Seegefecht stammen oder auch von einer Kneipenschlägerei. Auf alle Fälle mußte er an einen Pfuscher von Wundarzt geraten sein, denn der eine Mundwinkel war ständig in schiefem Grinsen hochgezogen.

«Aye, Sir«, sagte er und beschattete seine Augen.

«Dann sag ihnen, sie sollen am Felsen haltmachen.»

Schon eilte Lincoln vorwärts. Seine flatternden, zerfetzten Hosenbeine wirbelten Wolken von Staub hoch.

Sie brauchten dann noch eine Stunde bis zu dem felsigen Rand der Hochebene, und es kam Bolitho vor, als machten sie immer einen Schritt vor und zwei zurück.

Davys Abteilung erreichte den Plateaurand fast zur gleichen Zeit; und während die Männer sich keuchend und hustend in den wenigen Schattenstellen zu Boden warfen, winkte Bolitho den Leutnant beiseite und sagte:»Wir wollen uns umsehen. «Müde nickte Davy. Sein Haar war so gebleicht, daß es aussah wie Stroh in der Sonne.

Jenseits der Felsen hockte ein Seesoldat und musterte mit zusammengekniffenen Augen und sachverständigem Interesse den sanft abfallenden Abhang, der sich ungebrochen bis zum Meer erstreckte. Und dort, an der schmälsten Stelle der Insel, dem» Schwanz des Walfisches«, lag der Schoner versteckt.

Er lag so weit landeinwärts, daß Bolitho im ersten Moment dachte, er wäre im Sturm aufgelaufen. Dann aber sah er Rauch von einem Feuer am Strand und hörte gedämpfte Hammerschläge — anscheinend führte die Mannschaft Reparaturen aus. Vielleicht hatten sie den Schoner sogar trockenfallen lassen, um Schäden an Rumpf oder Kiel auszubessern. Doch jetzt schien das Schiff ganz in Ordnung zu sein, soweit auf den ersten Blick zu erkennen war.

Winzige Gestalten bewegten sich an Deck, andere waren am Strand und zwischen den Felsen verstreut. Anscheinend war die Hauptarbeit inzwischen getan.

Davy sagte:»Sie stochern in den Priels zwischen den Felsen herum, Sir. Suchen wohl Muscheln oder dergleichen.»

«Wieviele, meinen Sie, sind es?«fragte Bolitho.

Davy runzelte die Stirn.»Zwei Dutzend, schätzungsweise.»

Bolitho sagte nichts darauf. Es war eine lange Strecke den Abhang hinunter, und gänzlich ohne Deckung. Man mußte seine Männer bemerken, lange bevor es zum Nahkampf kam. Nachdenklich biß er sich auf die Lippen. Ob der Schoner wohl einen Tag oder auch länger hier bleiben würde?

Carwithen war zu ihnen gekommen und sagte heiser:»Die sind noch nicht fertig, Sir. «Er flüsterte, als sei die Mannschaft des Schoners in Hörweite.»Ihre Boote haben sie mächtig weit auf den Strand gezogen.»

Davy hob die Schultern.»Müssen sich wohl sicher fühlen.»

Bolitho zog ein kleines Teleskop aus der Tasche und stützte es sorgfältig auf einen Fels. Eine falsche Bewegung, und ein Sonnenreflex würde aufblitzen, der gewiß meilenweit zu sehen war.

Ein Ausguckposten… Mindestens einer mußte am Strand so plaziert sein, daß er die kleine Bucht gut überblicken konnte, aber nicht die andere Seite der Insel, wo jetzt die Undine lag. Bolitho lächelte grimmig. Bei diesem langen, beschwerlichen Anmarsch war es kein Wunder, daß sie hier oben keinen Posten aufgestellt hatten.

Bolitho fuhr zusammen und erstarrte. Jenseits der Bucht, fast in einer Linie mit dem reglos liegenden Schoner, bewegte sich etwas auf einer Felskante. Langsam stellte er sein Glas darauf ein: ein weißer, breitkrempiger Hut, darunter ein dunkles Gesicht.

«Auf dem Felsrand gegenüber sitzt ein Ausguck. Dort — fast genau über dem Priel.»

«Kein Problem«, sagte Carwithen.»Von See her geht's nicht, aber von hinten könnt' ich ihn leicht fertigmachen. «Kampfeslust klang aus seiner Stimme.

Unten krachte ein Schuß, und sie duckten sich; hinter sich hörte Bolitho Waffenklirren, als seine Leute in Deckung gingen.

Etwas Weißes, Flatterndes fiel vom Himmel und blieb reglos am Strand liegen. Die muschelsuchenden Matrosen des

Schoners blickten kaum auf, als einer der Ihren hinging und es aufnahm.

«Er hat einen Tölpel geschossen«, sagte Carwithen.»Schmeckt ganz gut, wenn man nichts Besseres hat. «Der Seesoldat meinte:»Muß 'n verdammt guter Schütze sein,

Sir.»

Der Soldat hatte recht. Das Gleiche hatte auch Bolitho gedacht. Ein Frontalangriff war also zu riskant, dabei wären sie alle umgekommen.

Er sagte:»Ich schicke Nachricht zum Schiff, wir müssen warten, bis es dunkel ist. Hier«, sagte er zu dem Seesoldaten,»nimm das Glas, aber deck' es gut ab. «Er brauchte nichts weiter zu erklären. Der Mann hatte soeben bewiesen, daß er nicht nur schießen, sondern auch denken konnte.

Die anderen lagerten weiter hinten noch zwischen den Felsen. Allday hielt ihm eine Feldflasche hin:

«Trinken Sie, Captain. Schmeckt wie Bilgewasser.»

Bolitho kritzelte etwas auf seinen Block und gab das Blatt einem Matrosen.»Bring das zur Küste und übergib es dem Deckoffizier dort. «Er sah das verzweifelte Gesicht des Mannes und fügte beruhigend hinzu:»Du brauchst nicht zurückzukommen. Wenn du bei der Undine bist, hast du eine Ruhepause verdient.»

Da krachte noch ein Schuß, diesmal durch die Felsen gedämpft, und dann folgte ein anderer Ton: etwas Weiches fiel zu Boden. Carwithen sprang auf.»Noch 'n Vogel, Sir!»

Bolitho schlich mit ihm zu dem Ausschau haltenden Seesoldaten zurück. Der starrte verwirrt auf den großen Tölpel nieder, der ihm mit ausgebreiteten Schwingen und blutiger Brust fast direkt vor die Füße gefallen war.

Ärgerlich sagte Davy:»Also, wie in drei Teufels Namen hat er… »

Bolitho hob die Hand, und sie erstarrten in Schweigen. Schwach erst, dann deutlicher, hörte man Scharren und das Rollen loser Steinchen — jemand kam eilig herauf, um den toten Vogel zu holen.

Bolitho blickte sich blitzschnell um. Hinter diesen paar kleinen Felsen konnte er seine dreißig Mann nicht verstecken. Er sah, wie Allday ihnen Zeichen machte, ganz still zu sein, sah die Angst in Armitages Augen, der wie gebannt auf die letzte Felsbarriere starrte.

Die Geräusche wurden lauter; Bolitho konnte hören, wie sich der Mann keuchend das letzte Stück Abhang hinauf kämpfte.

Niemand bewegte sich. Der Seesoldat blickte starr seine Muskete an, die zwei Fuß von seiner Hand entfernt lag. Das geringste Geräusch, und sie waren alle verloren.

Da handelte Carwithen, der am dichtesten bei der Felsenbarriere war. Fast lautlos ergriff er den toten Vogel und zog ihn ein paar Zoll unter die Kante des nächsten Felsens. Mit der anderen Hand zerrte er etwas unter seinem kurzen blauen Überrock hervor, die Augen ohne zu blinzeln auf den Vogel gerichtet.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis etwas geschah. Aber dann ging es so schnell, daß man kaum folgen konnte.

Das dunkle Gesicht des Fremden starrte offenen Mundes auf sie herab, sein Blick flog von dem Vogel zu Carwithen, als er sich mit dem Oberkörper über die Felskante zog, um nach seiner Beute zu greifen. Der Bootsmannsmaat ließ den Lockvogel fallen; die Bewegung war so schnell, daß sie den Fremden überraschte, er schwankte, tastete im Gürtel nach dem blanken Griff einer Pistole.

«So nicht, mein Hübscher«, murmelte Carwithen ruhig, beinahe freundlich. Dann schoß seine andere Hand unter dem Rock hervor, ein Enterbeil blitzte auf. Carwithen schlug kurz und brutal zu — der Pickel der Axt grub sich in den Nacken des Mannes. Mit einem mächtigen Ruck zog Carwithen den schon Bewußtlosen ganz über die Felskante, riß das Beil heraus, drehte es um und durchschlug mit der Schneide seine Kehle. Nochmals hob sich das Beil und schlug zu.

Blut spritzte über Armitages Seesoldaten. Wieder riß Carwithen das Beil hoch, aber Bolitho fiel ihm in den Arm. Er fühlte den irren, aufgestauten Haß in den Muskeln des anderen, der ihn abzuschütteln versuchte.

«Halt! Genug, verdammt noch mal!»

In schreckerfülltem Schweigen starrten die Männer einander und den Toten an, der über dem toten Seevogel lag. Heiser flüsterte Carwithen:»Dieser Mistkerl treibt keine Seeräuberei mehr!»

Bolitho zwang sich, den Leichnam näher anzusehen: ein Javaner vermutlich, bekleidet mit irgendwelchen Fetzen, aber eine Pistole mit dem Wappen der Ostindischen Handelskompanie.»Hat er wahrscheinlich einem armen, ehrlichen Seemann abgenommen, der Bastard!«murmelte Carwithen.

Niemand sah ihn an. Bolitho kniete mit seinem Teleskop hinter einem Felsblock und suchte sorgfältig die Bucht unten ab. Carwithen hatte schnell und nachdrücklich getan, was getan werden mußte. Aber es hatte ihm Spaß gemacht, das entwertete die Tat.

Bolitho beobachtete den fernen Ausguck in seinem felsigen Versteck und die winzigen Gestalten, die noch immer in den Prielen herumstocherten.»Sie haben nichts gesehen«, sagte er leise.

Mit einem Blick auf den immer noch schluchzenden Armitage fragte Davy:»Ändert das etwas für uns, Sir?»

Bolitho schüttelte den Kopf.»Höchstens wenn der Mann von seinen Leuten vermißt wird. «Er studierte die länger werdenden Schatten der Felsen.»Wir müssen abwarten und können nur hoffen, daß es bald dunkel wird.»

Carwithen wischte sein Enterbeil an einem Fetzen ab, den er von der Kleidung des Toten gerissen hatte. Sein Gesicht drückte nur Befriedigung aus — sonst nichts.

Davy gab seinen Männern ein Zeichen.»Schafft das da beiseite! Mit Steinen bedecken!«Er schluckte.»Diesen Tag werde ich so bald nicht vergessen.»

Bolitho faßte den Midshipman bei der Schulter und zog ihn vom Felsen weg.»Hören Sie zu, Mr. Armitage!«Er schüttelte ihn heftig, da die Augen des Jungen immer noch an der roten Spur hafteten, die der Leichnam hinterlassen hatte.»Reißen Sie sich zusammen! Ich weiß, das war ein schrecklicher Anblick, aber Sie sind nicht bloß zum Zusehen hier, verstanden?«Er schüttelte ihn nochmals; es tat ihm weh, den Schmerz und Abscheu in den Augen des Jungen zu sehen.»Schließlich sind Sie einer meiner Offiziere und sollen ein Vorbild für unsere Leute sein!»

Armitage nickte benommen.»Jawohl, Sir. Ich werde versuchen, mich…«Wieder überfiel ihn Brechreiz.

«Ich weiß, das werden Sie«, sagte Bolitho freundlich. Er merkte, daß ihn Allday über die zitternde Schulter des Jungen hinweg anbückte und leise den Kopf schüttelte.»Nun weg mit Ihnen, sehen Sie nach, ob der Kurier schon unterwegs ist!»

«Armer Kerl«, sagte Allday leise.»Der wird sich nie an diese Dinge gewöhnen.»

Bolitho blickte ihn ernst an.»Ich auch nicht. Sie etwa?»

Allday zuckte die Schultern.»Wir haben gelernt, uns nicht anmerken zu lassen, was wir denken. Mehr kann ein Mann nicht tun.»

«Mag sein. «Er sah, daß Davy mit dem Fuß Sand über das trocknende Blut scharrte. Dann blickte er Carwithen in das schwärzliche Gesicht, der eben die Pistole des Toten untersuchte.»Doch es gibt manche, die haben überhaupt keine Gefühle, und ich fand immer, daß sie keine richtigen Menschen sind.»

Er trat in den Schatten zurück, und Allday kam hinterher. Beim ersten Anzeichen, daß es losging, würde sich Bolithos Stimmung schon ändern, dachte er; im Moment war es besser, wenn man ihn in Ruhe ließ.

Загрузка...