XI Kriegsglück

Bolitho beobachtete aufmerksam den im Topp wehenden Wimpel und schritt dann nach achtern zum Kompaß. Nordwest zu West. Es war Nachmittag, und trotz des unbewölkten Himmels reichte die Brise aus, um die Hitze etwas erträglicher zu machen. Die Undine hatte tags zuvor noch bis fast zur Dämmerung in der Pendang Bay vor Anker gelegen, weil es bei den Küstenströmungen und dem stetigen Südost zu gefährlich gewesen wäre, nachts zu segeln. Aber im letzten Moment hatte der Wind stark gekrimpt, und die Undine hatte, den schlanken Rumpf unter dem Segeldruck neigend, die Bay und den Stützpunkt mit all seinen grimmen Erinnerungen in einem purpurnen Schatten hinter sich gelassen.

Aber wenn der Wind auch aufgefrischt hatte, so mußte die Undine doch fast gegen ihn ansegeln, alle Rahen vierkantgebraßt, damit jedes Segel richtig zog und das Schiff möglichst weit von Land freikam. Falls der Wind unvermittelt umsprang, solange sie noch so dicht unter dieser unsicheren Küste waren, konnten sie leicht auf Legerwall und damit in ernste Schwierigkeiten geraten.

«Wie lange behalten wir den Kurs bei, Sir?«fragte Herrick.

Bolitho antwortete nicht gleich. Er beobachtete aufmerksam die winzigen, dreieckigen Segel ihres eigenen Kutters, der vorsichtig zwischen ein paar felsigen Inselchen kreuzte. Dann wandte er den Blick zum Großtopp, wo Midshipman Keen saß, das eine nackte Bein herabbaumeln ließ und das Teleskop auf das ferne Boot gerichtet hielt. Davy befehligte den Kutter und würde sofort signalisieren, wenn er etwas Verdächtiges sichtete. Es hatte keinen Sinn, mit dem Schiff zu nahe heranzugehen, wenn die Sicht gut blieb.

Schließlich sagte Bolitho:»Wir haben das südwestliche Kap gerundet, soweit ich das berechnen kann. Da ist alles Marsch und Sumpf, wie Mr. Mudge und Fowlar schon sagten. Wenn Hauptmann Vegas' Informationen stimmen, müssen Muljadis Schiffe in nächster Nähe sein. «Er drehte das Gesicht in den Wind, der ihm den Schweiß auf Stirn und Hals trocknete.»Die Benua-Inseln liegen etwa hundert Meilen westlich. Das ist ein schönes Stück offenes Wasser, wenn wir das Glück haben sollten, diese Piraten zu stellen.»

Herrick sah ihn skeptisch an; aber der offenbare Optimismus seines Kommandanten machte auch ihn zuversichtlich.»Was wissen wir eigentlich von Muljadi, Sir?«fragte er.

Bolitho schritt das krängende Deck hinan zur Luvreling und zog sich das an den Rippen klebende Hemd ein Stückchen aus dem Hosenbund.»Wenig oder nichts. Er stammt aus Nordafrika — aus Marokko oder von der Barbareskenküste, heißt es. Die Spanier schnappten ihn, und er kam als Sklave auf eine ihrer Galeeren. Er konnte fliehen, wurde aber wieder gefaßt.»

Herrick stieß einen leisen Pfiff aus.»Da wird er bei den Dons einiges mitgemacht haben.»

Bolitho mußte plötzlich an den ältlichen Oberst Pastor und seine unerfüllbare Mission denken.»Sie schnitten ihm eine Hand und ein Ohr ab und setzten ihn an irgendeiner wüsten Küste aus.»

Herrick schüttelte den Kopf.»Und doch gelangte er irgendwie bis nach Indien und kann jetzt seinen ehemaligen Herren Angst einjagen.»

«Und jedem anderen«, ergänzte Bolitho unbewegt,»der sich zwischen ihn und sein Ziel stellt — was das auch sein mag.»

Da fuhren sie beide herum und blickten nach oben, denn Keen schrie:»An Deck! Der Kutter hat signalisiert, Sir! Mr. Davy segelt nach Norden.»

Bolitho griff nach einem Fernglas.»Natürlich. Das hätte ich wissen müssen. «Er richtete das Glas erst auf den Kutter und dann jenseits von diesem auf das sanft abfallende Vorgebirge. Winzige Inseln, zerbröckelnde Klippen und Felsen, und überall das ungebrochene Grün des Urwalds. Jedes kleine Fahrzeug konnte sich da hindurchwinden, genauso wie Davys Kutter es eben tat.

Herrick hieb eine Faust in die andere Handfläche.»Wir haben sie, bei Gott!»

Knapp befahl Bolitho:»Wir bleiben zunächst auf diesem Kurs. Heißen Sie das Rückkehrsignal für Mr. Davy, und lassen Sie auf Gefechtsstationen trommeln. «Er lächelte, vielleicht bloß, um die Spannung etwas zu lockern.»Vielleicht schaffen Sie es diesmal in zehn Minuten?»

Herrick wartete, bis Keen an einer Pardune heruntergerutscht kam und wieder bei seinen Signalgasten stand. Dann rief er:»Alle Mann an Deck! Klar Schiff zum Gefecht!»

Ein einsamer Trommeljunge tat sein Bestes und ließ die Schlegel im Doppeltakt zum Signal wirbeln, und schon kamen die Männer aus den Niedergängen an Deck gerannt und stürzten sich an die Grätings.

«Damit könnten wir sie verjagen, Sir«, warf Mudge ein, der beim Rudergänger stand. Seine Kiefer malmten auf einem Stück Fleisch oder auf einem Priem.

«Ich glaube kaum«, erwiderte Bolitho und beobachtete kritisch die Matrosen, die mit nacktem Oberkörper an die Geschütze rannten, die Persennings abwarfen und nach ihrem Gerät griffen. Die kleine Restabteilung Seesoldaten unter Führung eines Korporals marschierte über das Achterdeck; und ein paar andere enterten in den Vormast auf, wo ein Drehgeschütz montiert war.

Der Kutter hatte inzwischen gewendet. Die Segel waren niedergeholt, das Boot arbeitete sich nur mit der Kraft seiner Riemen durch die landeinwärts laufende Dünung.

«Die hatten es bestimmt nicht oft mit einer Fregatte zu tun«, fuhr Bolitho, zu Mudge gewandt, fort.»Ihr Anführer wird versuchen, das offene Meer zu erreichen und an uns vorbeizukommen, ehe er es riskiert, daß wir ihn blockieren oder eine Abteilung Seesoldaten in seinem Rücken landen. «Er faßte Mudge beim Arm.»Der Kerl wird schon nicht wissen, wie wenig wir von solchen Dingen verstehen — eh?»

Mudge verzog unwillig den Mund.»Ich kann nur hoffen, daß dieses Aas von Muljadi selbst der Anführer ist. Der braucht eine Lektion, und das bald!»

«An Deck!«Der Ausguck im Masttopp wartete, bis das Gerenne auf dem Geschützdeck aufgehört hatte.»Segel in Lee voraus!»

«Beim Himmel, tatsächlich!«Midshipman Keen ergriff einen Matrosen beim Arm und fügte aufgeregt hinzu:»Ein Schoner, nach dem Umriß zu urteilen!«Der Matrose — zehn Dienstjahre auf dem Buckel und schon graue Haare im Zopf — sah ihn von der Seite an und grinste:»Mein Gott, Sir, was ihr jungen Herren so alles gelernt habt — beneidenswert!«Aber seine Ironie ging im Trubel des Augenblicks unter.

Herrick hob die Hand, als sich der letzte Geschützführer ihm zuwandte. Aus der Luke unter dem Achterdeck dröhnte die Stimme eines Bootsmannsmaaten:»Achtern alles klar, Sir!«Herrick fuhr herum und sah, wie Bolitho seine neue Uhr zu Rate zog.»Schiff klar zum Gefecht, Sir«, meldete er.

«In zwölf Minuten. Ausgezeichnet, Mr. Herrick! Sie können es der Mannschaft weitersagen. «Dann schritt er wieder über das krängende Deck und richtete sein Fernrohr durch die Netze: zwei schräge Masten mit großen dunklen Segeln wie Vogelschwingen. Sie schienen stillzustehen; der Schiffsrumpf war noch hinter einer vorspringenden Landspitze verborgen. Doch das war Täuschung. Das Fahrzeug umrundete eben die letzte gefährliche Klippe. Hatte es die hinter sich, mußte es außer Schußweite sein. Aber dazu würde es noch eine ganze Weile brauchen.

Bolitho drehte sich um.»Wo bleibt dieser verdammte Kutter?»

Mowll, Waffenmeister und mit Abstand der unbeliebteste Mann an Bord, rief aus:»Kommt rasch auf, Sir!»

«Na, dann signalisieren Sie Mr. Davy, er soll sich beeilen. Sonst muß ich ihn zurücklassen!»

«An Deck! Noch ein Segel in Lee voraus!»

Wortlos suchte Herrick die zweite Segelpyramide mit seinem Fernrohr.»Noch ein Schoner. Wahrscheinlich Schiffe der Company, die der Pirat gekapert hat.»

«Zweifellos.»

Jetzt war der Kutter längsseits, rundete den Bug der Undine unter dem Bugspriet und stieß mit einem lauten Knirschen gegen den Schiffsrumpf. Flüche und schlagende Riemen übertönten Davys Schimpfen; dann gab Bootsmann Shellabeer, der das ganze Manöver vom Decksgang her mit unverhohlenem Abscheu beobachtet hatte, gelassen den Befehl zum Fieren.

Allday stand hinter Bolitho und flüsterte:»Ein Glück, daß der junge Mr. Armitage nicht das Kommando hat. Der hätte den Kutter bestimmt glatt durch die Rumlast[16] gerannt. «Bolitho lächelte und hob die Arme, damit Allday ihm den Degen umschnallen konnte. Er hatte seinen Bootsführer seit dem Frühstück, also kurz nach Sonnenaufgang, nicht gesehen.

Aber im Augenblick der Gefahr, bei der leisesten Aussicht auf Feindberührung, war Allday zur Stelle, ruhig und gelassen wie immer; kaum daß er sich durch ein Wort bemerkbar machte.

«Kann sein.»

Midshipman Armitage und Soames standen am Vormast und strichen auf ihren Listen die Geschützbedienungen ab, die Soames während der Überfahrt nach Indien neu zusammengestellt hatte. Bolitho erübrigte eine Sekunde, um sich auszumalen, was Armitages Mutter wohl sagen würde, wenn sie ihr geliebtes Söhnchen jetzt hätte sehen können: abgemagert, tief gebräunt, das Haar zu lang und ein Hemd, das eine gründliche Wäsche verdammt nötig hatte. Wahrscheinlich würde sie wieder in Tränen ausbrechen. Aber in einer Hinsicht hatte sich der junge Mann nicht verändert: er war immer noch so ungeschickt und unsicher wie an seinem ersten Tag an Bord.

Der kleine Penn dagegen, der wichtig an den Zwölfpfündern der Steuerbordbatterie entlangstolzierte und auf Leutnant Davy wartete, als dessen Adjutant er fungierte, war von diesem Fehler frei. Dafür versuchte er sich allerdings gern an Aufgaben, die für die Erfahrung seiner zwölfeinhalb Jahre ein paar Nummern zu groß waren.

Davy duckte sich unter dem schwingenden Schatten des an Bord gehievten Kutters, der schnell in seinen Halterungen auf dem Geschützdeck festgezurrt wurde, und rannte nach achtern. Er war klitschnaß vom Sprühwasser, aber äußerst zufrieden mit sich.

«Das haben Sie gut gemacht«, lobte Bolitho.»Durch Ihr schnelles Signal werden wir diese beiden Fahrzeuge vielleicht nehmen können.»

Davy strahlte.»Bißchen Prisengeld, möglicherweise?»

«Bleibt abzuwarten«, erwiderte Bolitho und verbarg ein Lächeln.

Herrick wartete, bis Davy bei seiner Geschützmannschaft war, und sagte dann:»Nur die beiden Schoner, sonst nichts weiter in Sicht. «Er rieb sich geräuschvoll die Hände.

Bolitho ließ das Teleskop sinken und nickte.»Sehr schön, Mr. Herrick. Sie können jetzt laden und ausrennen lassen. «Zum hundertsten Male blickte er nach dem Verklicker im Topp.»Wir werden gleich mehr Segel setzen und diesen Piraten zeigen, mit wem sie es zu tun haben.»

«Beide Schoner halten sich dicht unter Land, Sir. «Herrick nahm das Rohr vom Auge und wandte sich fragend zu Bolitho um.»Mit dieser Takelung können sie eben hoch am Wind segeln.»

Bolitho trat zum Kompaß und behielt das Bild der beiden Fahrzeuge scharf im Gedächtnis. Seit mehr als einer halben Stunde arbeiteten sie sich langsam und methodisch durch die kleinen Inseln voran und folgten nun der Küstenlinie in Richtung auf eine abfallende, schmale Landzunge. Dahinter lag eine weitere Bucht mit noch mehr vorspringenden Landzungen; aber die Schoner würden sich bestimmt sehr sorgfältig den rechten Moment aussuchen: rasch wenden und dann auf das offene Meer hinaus, wahrscheinlich so weit wie möglich auseinander, so daß die Undine nur einen von ihnen angreifen konnte.

Beide Schiffe wurden sehr geschickt geführt. Durchs Fernrohr erkannte Bolitho eine gemischte Auswahl von kleinen Kanonen und Drehgeschützen; die Mannschaft schien ähnlich zusammengewürfelt.

Mudge sah ihn düster an.»Der Wind hat einen Strich gekrimpt, Sir. Könnte sich eine Weile so halten.»

Bolitho wandte sich um, ließ seine Blicke langsam über das Schiff gleiten und wog dabei Risiko und Vorteil gegeneinander ab. Die grüne Landzunge schien fast den Steuerbordbug der Undine zu berühren; in Wirklichkeit lag sie noch gut drei Meilen querab. Die beiden Schoner standen schwarz gegen die kabbelige, weißbemützte See und überlappten jetzt einander, so daß sie wie ein einziges Schiff von grotesker Bauart wirkten. Die großen Segel standen wie eingraviert vor dem niedrigen Land.

«Bramsegel setzen! Ruder zwei Strich Steuerbord!«befahl Bolitho.

Zweifelnd sah Herrick ihn an.»Das wird aber knapp, Sir. Wenn der Wind ausschießt, haben wir alle Hände voll zu tun, um von der Küste klarzukommen.»

Aber Bolitho antwortete nicht; und so hob der Erste mit resigniertem Seufzer seine Sprechtrompete.

«An die Brassen!»

Achtern ließen die Rudergänger das Rad spielen und schielten nach den killenden Segeln und dem kardanisch aufgehängten Kompaß, bis sogar Mudge zufrieden war.

«Nordwest zu Nord, Sir!»

«Recht so.»

Bolitho sah sich die Landzunge noch einmal genau an: eine Falle für die beiden Schoner oder die letzte Ruhestätte der Undine, wie Herrick zu glauben schien?

Herrick beobachtete die Männer auf den Rahen; er wartete darauf, daß die Bramsegel frei fielen und dann an den unteren Rahen festgezurrt wurden, bis sie sich wie stählerne Brustpanzer im Wind wölbten. Die Undine machte schnelle Fahrt, sie lag jetzt fast vor dem Wind, der schräg von Backbord über das Achterdeck fegte; mit vollen Groß- und Vorbramsegeln holte sie deutlich auf.

Besorgt erkundigte sich Mudge:»Glauben Sie, daß sie eine Wende versuchen werden, Sir?»

«Kann schon sein. «Eine Wand von Sprühwasser stieg hoch, brach sich am Luvschanzkleid und weichte Bolitho bis auf die Haut durch, so daß er erschauerte und seine Erregung noch stieg.»Sie werden so dicht unter Land bleiben, wie sie es riskieren können, und dann in der nächsten Bucht über Stag gehen. Aber wenn einer den Kopf verliert oder vielleicht sogar alle beide und sie schon diesseits der Landzunge auf den anderen Bug gehen — dann werden wir ihnen eins verpassen.»

Er blickte prüfend zum Geschützdeck hinüber, musterte die Männer an den Zwölfpfündern. Eine gute Breitseite sollte für so einen Schoner mehr als ausreichen. Dann bekam der andere vielleicht Angst und strich die Segel, damit es ihm nicht ebenso ging. Aber daran durfte er jetzt nicht denken. Der Kampf hatte noch nicht einmal begonnen.

Er stellte sich vor, wie Conway in seinem fernen Herrschaftsbereich lebte. Er wußte bestimmt besser als Puigserver oder Raymond, was auf dem Spiel stand. Hatte die Undine einigermaßen Glück, so bedeutete das für ihn eine gewisse Periode der Sicherheit, in der er seine Tüchtigkeit als Gouverneur beweisen konnte.

Ein schwacher Knall tönte über das Wasser, und eine weiße Gischtfeder stieg ein paar Sekunden hoch, aber ziemlich weit voraus an Steuerbord; gellendes Hohngeschrei von den ungeduldig wartenden Geschützbedienungen quittierte den Versuch.

«Flagge zeigen, Mr. Keen!»

Im Vormast richteten die Marineinfanteristen ihr Schwenkgeschütz aus. Eine andere Abteilung nahm mit

Musketen an den Finknetzen Aufstellung, die Gesichter starr vor Konzentration.»Der eine bricht aus, Sir!»

Bolitho hielt den Atem an. Der ihnen nächste Schoner begann stark zu krängen, sein mächtiges Großsegel fegte über Deck wie eine riesige Vogelschwinge, und er steuerte hart Backbord.

«Jesus! Der Kerl hat sich festgesegelt! Seht euch das an!«brüllte jemand.

Der Kapitän des Schoners hatte sich übel verschätzt. Denn während er sein Schiff durch den Wind bringen wollte, um auf neuem Bug mehr Raum zu gewinnen, war es aufgeschossen und lag nun mit chaotisch schlagenden Segeln unbeweglich da.

«Den nehmen wir zuerst!«rief Bolitho.»Backbordbatterie klar zum Feuern!»

Soames rannte an seinen Kanonen entlang, die Geschützführer hockten geduckt wie startende Läufer, visierten hinter den Verschlüssen durch die Stückpforten nach dem aufkommenden Ziel und hielten die Abzugsleinen straff.

Breitbeinig versuchte Bolitho, das nähere Schiff im Blickfeld zu behalten. Schon trieb es ungelenk quer zum Wind, deutlich war zu sehen, wie die Mannschaft auf dem schmalen Deck verzweifelt arbeitete, um es wieder unter Kontrolle zu bekommen. Die Undine kam so schnell auf, daß es jetzt nur noch zwei Kabellängen backbords vorauslag und zusehends größer wurde. Bolitho sah die fremdartige Flagge an der Gaffel: schwarz, mit einem roten Emblem in der Mitte — eine auf den Hinterbeinen stehende, die Tatzen hebende Raubkatze. Er schob das Glas mit einem so lauten Schnappen zusammen, daß Keen der Schreck in die Glieder fuhr.

Allday grinste.»Noch zwei Minuten, Captain — gerade richtig. «Er nickte zum Bug, wo der andere Schoner steten Kurs auf die Landzunge hielt.»Der läßt seinen Genossen anscheinend ruhig untergehen.»

Soames spähte angestrengt nach achtern. Sein gebogenes Entermesser blitzte in der hellen Sonne, als er es langsam über den Kopf hob. Er mußte genau in die Sonne blicken und verzog das Gesicht so stark, daß er wie irre zu grinsen schien.

Bolitho blickte zu Mudge hinüber.»Lassen Sie noch einen Strich abfallen!«Er rang sich ein Lächeln ab.»Keine Sekunde länger als unbedingt nötig, das verspreche ich Ihnen.»

Er zog seinen Degen und legte ihn lässig über die Schulter, fühlte den eiskalten Stahl durch das verrutschte Hemd.

Heiser meldete der Rudergänger:»Nordnordwest liegt an,

Sir!»

Zum Fieren der Brassen blieb keine Zeit mehr, als die Undine noch näher auf die Küste zuhielt, so daß der schwer kämpfende Schoner endlich ins Schußfeld der gespannt lauernden Geschützführer kam.

«Feuer frei, Mr. Soames!«rief Bolitho.

«Achtung!«blaffte Soames. Mit großen Sprüngen rannte er nach achtern und blieb bei jedem Geschütz kurz stehen, um die Ausrichtung des Rohres zu kontrollieren. Offenbar zufrieden, sprang er zur Seite.

«Feuer!»

Bolitho erstarrte, als der Schiffsrumpf die Breitseite unregelmäßig und erschauernd aushustete. Soames hatte gute Arbeit geleistet. Er hatte eine plötzliche Bö, welche die Fregatte ein Stück weiter nach Lee schob, sehr geschickt mit einkalkuliert und in dem Moment gefeuert, als die Undine sich wieder hob, so daß die Salve das gesamte Deck des Feindes bestrich.

Bolitho griff nach einem Stag; seine Augen waren voller Pulverqualm, den der Wind auch durch die Pforten ins Schiff drückte. Überall fluchten hustende Männer im dicken, braunen Dunst; aber Befehle und Drohungen brachten sie dazu, daß sie trotzdem unverzüglich die Rohre auswischten und neu luden, für den Fall, daß eine weitere Breitseite nötig wurde.

Endlich hatte sich der Qualm vom Achterdeck verzogen, und Bolitho konnte den Schoner sehen. Was für ein Anblick: kein Mast stand mehr, und das Deck war fast begraben unter einem Chaos von gefallenen Spieren und zerfetzter Leinwand. Der Schoner war ein Wrack.

«Gehen Sie wieder auf Nordwest zu Nord, Mr. Mudge!»

Bolitho konnte nicht sehen, was der Steuermann für ein Gesicht machte: erleichtert und bewundernd. In seinen Ohren dröhnte noch der Donner der Kanonen und der schärfere, stechende Knall der Sechspfünder auf dem Achterdeck. Hoffentlich hatten die weniger Erfahrenen unter den Geschützbedienungen daran gedacht, sich die Halstücher um die Ohren zu wickeln. Ein Mann, der in ungünstigem Winkel zum Geschütz stand, konnte von einem einzigen Schuß taub werden — oft für sein ganzes Leben.

«Ausrennen!«Soames blickte zu den Stückführern hinüber, die einer nach dem anderen die pulvergeschwärzte Faust hoben, um zu signalisieren, daß ihr Geschütz feuerbereit war.

«Jetzt auf den anderen!«brüllte Herrick. Er winkte Davy, der bei seiner Steuerbordbatterie stand; es war eine impulsive, ihm kaum zu Bewußtsein kommende Bewegung. Davy winkte zurück, verkrampft und marionettenhaft. Als sie hinter dem zweiten Schoner hersegelten, schob sich Midshipman Penn sachte ein Stückchen zur Seite, um gegebenenfalls hinter seinem Leutnant Deckung zu finden.

Herrick lachte laut auf.»Bei Gott, der junge Penn hat die richtige Idee, Sir. «Er blickte zu dem steif stehenden Wimpel empor.»Der Wind ist uns immer noch wohlgesonnen, das hebt die Stimmung der Leute.»

Bolitho sah ihn nachdenklich an. Später würden sie darüber reden. Aber wenn man mittendrin steckte, zwischen allen anderen, dann hatten Diskussionen wenig Sinn. Man wußte nie vorher, wie sich ein Mann verhalten würde, wenn es wirklich hart auf hart ging. Alles war drin: Stolz, Wut, Wahnsinn — und weiß Gott was noch. Selbst Herricks vertrautes Gesicht hatte sich verändert — und auch sein eigenes, zweifellos.

«Wir folgen ihm so dicht es geht unter Land«, sagte er.»Dann muß er sich entscheiden: streichen oder kämpfen. «Er nahm die Degenklinge von seiner Schulter. Jetzt war die Eiseskälte einer Hitze gewichen, als sei der Stahl ein heißgeschossener Flintenlauf.

«Der Steuermann ist ein Narr«, bemerkte Mudge.»Er hätte viel früher wenden sollen. Ich hätte es so gemacht. Vor unserem Bug vorbeikreuzen, ehe wir ihn hätten wegputzen können. «Er grunzte verächtlich.»Eine zweite Chance kriegt er nicht.»

Bolitho blickte zu ihm hinüber. Mudge hatte natürlich recht. Die Undine trieb ein gefährliches Spiel, indem sie so leichtsinnig eine Leeküste ansegelte; aber die beiden Schoner hatten noch viel mehr riskiert.

Eben sagte Herrick:»Prisenkommando auf den einen, und den anderen nehmen wir in Schlepp, wie? Wir sollten ganz schönes Geld für die beiden Schoner bekommen, Sir, auch wenn der eine kaum mehr als eine Hulk ist.»

Bolitho beobachtete den zerschossenen Schoner und erwiderte nichts. War Muljadi an Bord gewesen? Sterbend oder vielleicht schon tot unter seinen Männern? Das wäre immer noch besser für ihn, dachte er, als Puigserver in die Hände zu fallen.

«An Deck!«Der Ruf des Ausgucks ging fast unter im Brausen der Gischt und dem Rauschen des Windes.»Schiff achteraus an Backbord!»

Bolitho fuhr herum und dachte eine Sekunde lang, der Ausguck sei zu lange in der Sonne gewesen. Erst konnte er nichts sehen, aber dann erkannte er Fock und Vormarssegel eines anderen Schiffes, das gerade die letzte Landspitze rundete, von der sie sich vorhin so vorsichtig in Verfolgung des Schoners freigehalten hatten.

«Wer ist das?«fragte Herrick bestürzt und starrte Bolitho an.»Die Argus!»

Der nickte grimmig.»Ich befürchte es, Mr. Herrick.»

Er versuchte, gleichmütig zu sprechen, obwohl alles in ihm danach schrie, etwas zu unternehmen, das Unmögliche zu wagen. Wie leicht er es ihnen gemacht hatte! Er hatte sich von den beiden Schonern ablenken lassen wie ein Fuchs, der zwei Hasen auf einmal jagen will. Le Chaumareys mußte ihnen längs der Küste gefolgt sein — er hatte Bolithos Gedankengänge erraten, ohne ihn auch nur zu sehen.

«Dann, bei Gott«, rief Herrick aus,»werden wir diesen Franzosen zum Teufel jagen! Der hat hier gar nichts zu suchen!»

«Sie kommt schnell auf, Sir!«rief Keen.

Bolitho spähte hinüber. Die Argus war an Bäckbord schon fast in Höhe ihres Achterdecks, nahm ihnen den Wind weg, genau wie er selbst es mit den Schonern hatte machen wollen. Jetzt saß die Undine in der Falle. Sollte er auflaufen oder versuchen, sich nach Luv durchzukämpfen? Die Sonne blitzte auf der ihnen zugekehrten Rumpfseite der mächtigen Fregatte, und über ihrem milchigen Fahrwasser wurden kleine Schattenstriche sichtbar — sie rannte ihre Breitseite aus. Bolitho dachte an den Mann, der diese Kanonen befehligte. Wie mochte ihm in diesem Augenblick zumute sein?

Leise fragte Herrick:»Achtzehnpfünder, nicht wahr, Sir?«Gespannt blickte er Bolitho ins Gesicht, als hoffe er, sein Kapitän würde die Stärke des Gegners bestreiten.

«Ja«, sagte Bolitho und holte Atem, denn an der Gaffel des Franzosen stieg eine Flagge hoch: schwarz und rot wie die auf den beiden Schonern. Also fuhr er mit Kaperbrief. Als Mietling einer fremden Macht, und die Flagge sollte den Anschein der Legalität wahren.

Keen setzte sein Teleskop ab und sagte hastig:»Sie ist jetzt fast in Höhe des entmasteten Schoners, Sir. «Es gelang ihm, in ruhigem Ton zu sprechen, aber seine Hände zitterten heftig.»Es sind ein paar Männer im Wasser. Vermutlich über Bord gegangen, als die Masten runterkamen.»

Bolitho nahm das Glas. Ihm wurde kalt, als er sah, wie die Fregatte mitten durch die Schiffbrüchigen segelte und einige sogar überrannte. Wahrscheinlich sah der Kapitän nur die Undine und hatte die Unglücklichen überhaupt nicht bemerkt.

Er sprach lauter als sonst und hoffte nur, die anderen würden nicht gänzlich den Mut verlieren, weil seine Stimme so seltsam klang.»Wir ändern gleich den Kurs. «Den unausgesprochenen Protest in Mudges finsterem Gesicht ließ er unbeachtet.»Aber jetzt — Bramsegel weg, Mr. Herrick. Das erwartet der Franzose von uns, als Vorbereitung zum Kampf. «Und mit einem Blick auf Mudge:»Mit etwas weniger Tuch bleibt uns etwas mehr Platz, um ihm die Stirn zu bieten.»

«Das heißt also, wir segeln vor ihrem Bug vorbei, Sir«, erwiderte Mudge heiser.»Aber selbst wenn wir durch den Wind kommen, ohne daß es uns die Rahen abreißt — was dann? Dann überholt uns die Argus achtern und verpaßt uns dabei eine Breitseite ins Heck!»

Bolitho blickte ihm kühl ins Gesicht.»Ich rechne darauf, daß er unbedingt den Windvorteil behalten will, denn sonst werden die Rollen vertauscht. «Aber in Mudges winzigen Augen las er kein Begreifen.»Oder wollen Sie lieber, daß ich die Flagge streiche, he?»

Mudge wurde rot vor Wut.»Das war nicht fair, Sir!»

Bolitho nickte.»Ein Seegefecht ist es auch nicht.»

Mudge wandte den Blick ab.»Ich werde mein Bestes tun, Sir. Ich bringe sie so hart an den Wind wie noch nie. «Er tippte auf die Kompaßbussole.»Wenn der Wind hält, sollten wir fast genau West steuern können. «Er trat zum Ruder.»Mit Gottes

Hilfe!»

Eben rutschten die Toppmatrosen wieder an Deck, und Bolitho spürte, wie die Undine unter Mars- und Vorsegeln ins Stampfen geriet. Mit einem raschen Blick stellte er fest, daß sein Gegner desgleichen tat. Der brauchte sich keine Sorgen zu machen; die Undine mußte sich zum Kampf stellen, sie hatte gar keinen Seeraum zur Flucht. Langsam schritt er auf und ab, trat, ohne hinzusehen, über die Zugleinen der Sechspfünder, streifte im Vorbeigehen den gebeugten Rücken eines Matrosen am Geschütz. Sicherlich beobachtete der Kapitän der Argus jede seiner Bewegungen. Seine Chance — wenn er überhaupt eine bekam — würde nur Sekunden, bestenfalls wenige Minuten dauern. Er blickte zur Landzunge hinüber. Sie wirkte jetzt sehr nahe, öffnete sich an Backbord wie ein riesiger Schlund, der das Schiff als Ganzes verschlingen wollte.

Dann trat er an die Achterdeckreling und rief:»Mr. Soames! Ich brauche eine Breitseite, sowie wir wenden! Die Chance, daß Sie ihn treffen, ist nur gering, aber die plötzliche Attacke wird ihn vielleicht verwirren. «Langsam glitten seine Blicke über die emporgewandten Gesichter auf dem Geschützdeck.»Das Nachladen und Ausrennen muß schneller gehen als je zuvor. Die Argus ist ein starkes Schiff und wird ihr schweres Kaliber voll einsetzen. Wir müssen nahe heran. «Sein Grinsen fühlte sich wie eingefroren an.»Zeigt ihnen, daß wir besser sind, ganz egal, unter welcher Flagge sie fahren!»

Ein paar Mann schrien hurra, aber es war kein beeindruckender Salut.

Gelassen sagte Herrick:»Klar zur Wende, Sir.»

Stille. Bolitho blickte noch einmal hinauf, der Wimpel stand wie vorhin. Wenn der Wind etwas rückdrehen wollte, wäre das eine kleine Hilfe. Aber ein Ausschießen wäre katastrophal. Eben stapfte Soames nach achtern und verschwand unter Deck. Er wollte die Heckzwölfpfünder inspizieren, die, sobald das Schiff auf dem neuen Bug lag, als erste den Gegner vor die Pforten bekommen würden. Davy stand am Fockmast und schickte einige Leute seiner Geschützbedienungen als Verstärkung der Backbordbatterie nach achtern. Wenn die Achtzehnpfünder der Argus erst Ernst machten, würden sie viele Ersatzleute brauchen, dachte Bolitho grimmig.

Er blickte Herrick an und lächelte.»Na, Thomas?»

Der zuckte die Schultern.»Ich sage Ihnen, was ich davon halte, wenn es vorbei ist, Sir.»

Bolitho nickte. Es war ein enervierendes Gefühl. Selbstverständlich war es das immer, doch leider jedesmal schlimmer als beim letztenmal. In einer Stunde, in Minuten, konnte er tot sein. Und dann würde sein Freund Thomas Herrick eine Schlacht ausfechten müssen, die er nicht gesucht hatte; oder vielleicht tödlich getroffen im Orlopdeck liegen und sich die Seele aus dem Leib brüllen.

Und Mudge — ein großartiger Seemann mit einem reichen Schatz an Erfahrungen. Er hätte bereits den Dienst quittiert; wenn ihm diese Einberufung nicht dazwischengekommen wäre, würde an Land bei seinen Kindern leben.

«Also dann«, befahl Bolitho kurz.»Ruder legen!»

«An die Brassen! Aber lebhaft!»

Die Undine erschauerte und stöhnte protestierend unter dem donnernden Druck des Windes und dem wilden Schlagen der Segel. Bei dem harten Kurswechsel krängte sie so stark, daß Gischt in die offenen Stückpforten sprühte. Aus den Augenwinkeln sah Bolitho, wie die Bramsegel der Argus über seinen Finknetzen emporwuchsen und ihr Umriß sich verkürzte, als die Undine um ihren Bug bog. Ein Geschütz krachte, aber die Kugel fuhr jaulend hoch über ihnen davon. Jemand mußte zu früh abgezogen haben, oder vielleicht hatte der französische Kapitän auch schon gemerkt, was sie vorhatten.

Soames war bereit und wartete auf freies Schußfeld. Und dann erzitterte das ganze Deck unter dem Krachen der ersten Geschütze. Qualm wirbelte auf und stieg als zerflatternde Wolke über die Finknetze. Geschütz nach Geschütz feuerte, den ganzen Rumpf entlang, vom Heck bis zum Bug. Auch die Sechspfünder mischten sich ein, als die Argus an jeder einzelnen der schwarzen Mündungen vorbeiglitt. Bolitho sah, wie ihre Fock unter den Einschlägen bebte. Soames' Geschützbedienungen feuerten, luden, feuerten nochmals, und wie durch Zauber erschienen Löcher in den Segeln der Argus. Nun sah Bolitho auch, daß die Landzunge bereits an Steuerbord achteraus lag. Der Schoner, der sich in die nächste Bucht schlich, war schon ganz winzig.

«West zu Nord, Sir — voll und bei!«brüllte Mudge. Er hielt sich an der Nagelbank des Besan fest und wischte sich die Augen mit seinem Taschentuch.»So hoch am Wind, wie es geht, Sir!«fügte er hinzu und deutete zum Topp, wo der Wimpel beinahe mittschiffs flatterte.

Bolitho fuhr zusammen, als die Sechspfünder wieder krachten. Dicht neben ihm stieß ein Rohr auf seiner Lafette zurück, bis es von der Halterung gebremst wurde. Schon war die Bedienung dabei, es auszuwischen, der Geschützführer holte vom Kugelrack ein neues Geschoß, weiß starrten die Augen und Zähne in den pulvergeschwärzten Gesichtern, die Stimmen gingen unter im Krachen und Brüllen der Geschütze, die schweren Rohre quietschten beim Ausfahren wie wilde Eber.

Endlich folgte die Argus Bolithos Manöver. Mit hartgebraßten Rahen schwang sie herum, um den Wind einzufangen und die Undine in Lee zu halten. Und da sah er auch schon die langen, gelb-roten Feuerzungen aus ihren Stückpforten fahren; gelassen, ohne Eile, sorgfältig gezielt, kam Schuß auf Schuß durch den Wirbel aus Pulverdampf und Gesicht. Eine Kugel jaulte über das Achterdeck, durchschlug das Großmarssegel und klatschte querab ins Wasser. Andere aber trafen den Rumpf — ob über der Wasserlinie oder darunter, wußte Bolitho nicht. Er hörte Schreie hinter dem beißenden Qualmvorhang, sah Männer hierhin und dorthin rennen wie verlorene Seelen in der Hölle, sah sie neue Ladungen in die Rohre rammen und ihre schweißglänzenden, pulvergeschwärzten Körper in die Zugleinen werfen, wieder und immer wieder.

Über dem Krachen vernahm er Soames' tiefe, schimpfende und anfeuernde Stimme, die die Männer an ihren Geschützen hielt. Vom Vormast krachte das Drehgeschütz; vermutlich feuerten die Seesoldaten mehr, um ihre Angst abzureagieren, als in der Hoffnung, etwas zu treffen. Unter dem Achterdeck schien eine Stückpforte in einem mächtigen Flammenausbruch zu explodieren, und Bolitho sah, wie Männer und Körperteile in alle Richtungen geschleudert wurden; die Kugel hatte auch das Schanzkleid zerrissen, lauter spitzige Splitter schwirrten wie furchtbare Pfeile umher.

Heulend, die Hände vor dem, was von seinem Gesicht übriggeblieben war, stürzte ein Seesoldat von den Netzen weg. Andere standen oder knieten bei ihren gefallenen Kameraden, schössen, luden, schössen aufs neue, solange noch Leben in ihnen war.

Eine Fallbö wirbelte den Qualm hinweg, und Bolitho erblickte die Rahen und die durchlöcherten Segel der feindlichen Fregatte kaum fünfzig Meter entfernt. Gedämpftes Sonnenlicht spielte auf den Haken und Messern des Gegners, der sich zum Entern fertigmachte oder zur Abwehr ihres Angriffs. Noch eine Reihe feuriger Zungen stieß durch den Qualm, zusammenzuckend spürte er, wie sich die Planken unter seinen Füßen bogen. Mit dumpfem Krach stürzte ein Geschütz um oder zersprang in Stücke.

Das Großbramsegel oben war nur noch ein Fetzen, aber Spieren und Rahen schienen intakt. Ein verwundeter Matrose klammerte sich an die Großbramrah, Blut rann an seinem Bein entlang und tropfte hinunter aufs Deck. Ein anderer hatte ihn erreicht und zog ihn in Sicherheit; beide duckten sich unter die Rah; sie hingen in den zerrissenen Tauen wie zwei Vögel mit gebrochenen Schwingen.

«Er will uns manövrierunfähig schießen und dann als Prise aufbringen!«brüllte Herrick.

Bolitho hatte eben einen Verwundeten von einem Sechspfünder weggezogen. Er nickte, denn er konnte sich schon denken, was die Argus wollte: ein weiteres Schiff für Muljadis Flotte, vielleicht um die Argus abzulösen, damit sie nach Frankreich zurückkehren konnte. Der bloße Gedanke fuhr ihm wie ein Messer durchs Herz.

«Hart Ruder legen! Wir rammen!«Seine Stimme kam ihm selbst ganz fremd vor.»Davy soll die Enterhaken klarmachen!«Er faßte Herrick beim Arm.»Wir müssen entern! Er schießt uns sonst in Fetzen. «Eine Kugel flog dicht an seinem Kopf vorbei; er hörte sie in das gegenüberliegende Schanzkleid einschlagen, und eine Wolke von Splittern flog wie tausend Pfeile über das Deck. Herrick schrie Mudge etwas zu, dann den Männern an den Brassen; durch den Qualm sah Bolitho den schattenhaften Umriß der Argus turmhoch über ihrer Back stehen und die Männer auf dem Vorschiff durcheinanderrennen, als die beiden Schiffe aufeinander zuhielten. Das Prasseln des Musketenfeuers wurde vom Schlagen der Segel übertönt, die jetzt aus dem Wind gerieten. Lustlos fiel ihr Schiff ab.

Herrick war in einer Blutlache ausgerutscht; er keuchte:»Hat keinen Zweck! Zu weit für die Enterhaken!»

Bolitho starrte an ihm vorbei. Der Gegner schob sich bereits vor, er lag quer vorm Bug der Undine; ein paar Schüsse krachten, die Argus drehte vor den Wind, änderte leicht den Kurs und nahm Fahrt auf, während die Undine, hilflos und mit fast backstehenden Segeln weiter abtrieb.

Die Argus wollte anscheinend die Undine nochmals aus allen Rohren beharken, aber dann Bolitho Zeit geben, die Flagge zu streichen, ehe sie sein Heck kreuzte und ihm den Gnadenstoß gab.

Herrick zog ihn am Ärmel.»Was ist?»

Herrick deutete nach oben, wo ein paar Sonnenstrahlen einen Weg durch den wirbelnden Rauch fanden.»Der Ausguck, Sir! Er hat Segel westlich voraus gemeldet!«Seine Augen glänzten hoffnungsvoll.»Der Franzose zieht ab!»

Wie betäubt blickte Bolitho ihn an. Es stimmte; er mußte die Meldung wohl überhört haben, halb taub wie er war vom Donnern der Geschütze oder von seiner Verzweiflung umnebelt. Jedenfalls hatte die Argus bereits ihr Großsegel gesetzt und hielt vor dem Wind rasch auf die offene See zu.

«Alle Mann an, die Brassen, Mr. Herrick!«befahl Bolitho.»Gehen Sie wieder auf Backbordbug. Wenn wir mit dem Schiff dort Signalverbindung bekommen, können wir vielleicht die Verfolgung aufnehmen.»

Er hörte einen unterdrückten Schrei, wandte sich um und sah zwei Matrosen bei Keen knieen, der auf den Planken lag. Der Midshipman versuchte, sich an den Leib zu fassen, aber der eine Matrose hielt ihm die Handgelenke fest, während der andere ihm die blutige Hose mit seinem Dolch aufschlitzte und die Hälften zur Seite klappte. Ein paar Zoll über der Leistenbeuge ragte etwas wie ein gebrochener Knochen heraus; aber es war etwas weit Schlimmeres: ein Holzsplitter vom Deck, wahrscheinlich so zerfasert, daß er wie ein Widerhaken festsaß.

Bolitho kniete nieder und tastete vorsichtig danach; Blut pulsierte über den Schenkel des Jungen, der die Schmerzensschreie zurückhielt und nur leise stöhnte. Bolitho dachte an Whitmarsh; aber der war weit weg in Pendang Bay und behandelte die Kranken und Verwundeten der Garnison.

Der eine Matrose sage:»Ohne Hilfe schafft er's nicht, Sir. Ich hole einen Sanitätsgasten.»

Aber da kniete Allday neben ihm.»Ich mach' das schon«, sagte er grimmig entschlossen.»Ruhig, Mr. Keen. Gleich sind Sie wieder auf den Beinen.»

Bolitho stiegen vor Wut und Verzweiflung die Tränen in die Augen. Was hatte er ihnen allen angetan? Er berührte die nackte Schulter des Midshipman, sie war so glatt wie die einer Frau. Der Junge hatte noch nicht richtig zu leben begonnen.

«Schaffen Sie das, Allday?«fragte er kurz.

Gelassen blickte der Bootsmann auf.»So gut wie die anderen Schlächter auch.»

Davy kam eilig nach achtern und faßte an seinen Hut.»Ausguck meldet, das Schiff ist die Bedford, Sir. Der Franzose muß sie für ein Kriegsschiff gehalten haben. «Da sah er Keens Wunde.»Mein Gott!«murmelte er heiser.

Die Finger des Verletzten krümmten sich wie gefangene Tiere unter dem starken Griff des Matrosen. Schwerfällig stand

Bolitho auf.»Also gut, Allday, schaffen Sie ihn in meine Kajüte. Ich komme selbst, sobald ich hier fertig bin.»

Allday sah zu ihm hoch.»Machen Sie sich keine Vorwürfe, Captain. So was ist eben Glückssache. Wir kommen auch noch dran. «Er nickte den beiden Matrosen zu.»Nehmt ihn hoch!»

Keen stieß einen scharfen Schrei aus, als sie ihn zum Kajütniedergang trugen, und ehe er unter Deck verschwand, sah Bolitho noch, daß seine Augen in den Himmel über den zerfetzten Segeln starrten. Wollte er sich daran festhalten? Und durch dieses Bild am Leben selbst?

Bolitho bückte sich und nahm Keens Dolch von dem blutbesudelten Deck auf. Er gab ihn Davy und sagte:»Wir werden mit der Bedford Kontakt aufnehmen. Im Augenblick können wir nichts weiter tun, als zum Stützpunkt zurückzukehren.»

«Gerettet durch die alte Bedford!«sagte Herrick bitter.»Ein lausiges Transportschiff aus Madras, vollgestopft mit seekranken Soldaten und ihren Weibern!»

Sorgfältig brachte der Rudergänger die Undine auf Kurs zurück, wobei er geschickt den Kraftverlust ausglich, der durch die Löcher in den Segeln entstand.

«Wenn die Argus das gewußt hätte«, sagte Bolitho,»dann hätte sie uns alle beide fertiggemacht. «Er sah die Bestürzung in ihren Gesichtern und fügte kurz hinzu:»Aber dabei wäre sie selbst draufgegangen. «Er warf einen Blick nach oben, zum Wimpel am Masttopp, und dann auf seine Uhr. Das ganze Seegefecht hatte weniger als zwei Stunden gedauert, und schon war die Argus fast in dem Dunst verschwunden, der vor der Küste lag und das Nahen des Abends verkündete. Er beschattete die Augen und schaute nach der Bedford aus; wie kleine gelbe Muscheln standen ihre Bramsegel an der Kimm.

Dann blickte er sich um. Zersplitterte Planken; die Toten, die unter dem Luv-Decksgang aufgereiht worden waren. Es gab viel zu tun; er durfte die Zügel keine Minute lockerlassen, wenn die Männer ihren Kampfeswillen behalten sollten — sie würden ihn noch brauchen. Wieder brachten sie einen Toten von der Kampanje herbei. Er mußte sich mit den Schadensmeldungen befassen, die Ausfälle ersetzen, Reparaturen anordnen. Und die Bestattungen.

Aus dem Oberlicht der Kapitänskajüte drang ein scharfer Schrei — dort unten lag Keen, und Allday versuchte, den Splitter herauszuholen.

«Ich gehe nach unten, Mr. Herrick«, sagte er.»Befassen Sie sich mit den Schadens — und Verlustmeldungen!»

Bolitho eilte am Wachtposten vorbei und blieb dann stehen. Es war sehr still in der Kajüte. Keen lag still und nackt auf dem Fußboden. War es schon zu spät?

«Alles vorbei, Captain«, sagte Allday und hielt den blutigen Holzsplitter mit einer Pinzette hoch.»Für so einen jungen Bengel hat er sich tapfer gehalten.»

Bolitho blickte auf Keens aschgraues Gesicht hinunter. Seine Lippen waren blutig. Ein Matrose hatte ihm einen Lederriemen zwischen die Zähne gezwängt, damit er sich nicht die Zunge durchbiß. Noddall und der zweite Matrose legten ihm einen Verband an, und es roch stark nach Rum.

«Danke, Allday«, sagte Bolitho leise.»Ich wußte nicht, daß Sie auch davon etwas verstehen.»

Allday schüttelte den Kopf.»Hab's auch nur einmal gemacht, bei einem Schaf. Das arme Vieh war von einer Klippe auf einen jungen Baumstumpf gefallen. Kein großer Unterschied.»

Bolitho trat zum Heckfenster und füllte sich die Lungen mit frischer Luft.»Das müssen Sie Mr. Keen erzählen, wenn er wieder zu sich kommt. «Er wandte sich um und sah Allday ins Gesicht.»Wird er wieder ganz gesund?»

Allday nickte.»Ja. Einen Zoll weiter, dann wäre es aus gewesen. «Er sah, wie Bolitho zusammenzuckte, und rang sich ein Grinsen ab.»Jedenfalls was die Mädchen betrifft.»

Die Tür ging auf, und Herrick meldete:»Wir sind auf Signaldistanz mit der Bedford, Sir.»

«Ich komme an Deck. «Bolitho hielt inne und warf noch einen Blick auf Keen. Der Junge atmete schon leichter, das sah man deutlich.»Die Verluste?»

Herrick senkte den Kopf.»Zehn Tote, Sir, und zwanzig Verwundete. Ein Wunder, daß wir nicht mehr verloren haben. Der Zimmermann und seine Leute sind schon unten, aber die meisten Löcher scheinen über der Wasserlinie zu liegen. Die Undine hat Glück gehabt, Sir.»

Bolitho blickte von Herrick zu Allday. »Ich habe Glück gehabt. «Dann ging er aus der Kajüte.

Allday schüttelte den Kopf und seufzte, und es roch noch stärker nach Rum.»Wenn Sie mich fragen, lassen Sie ihn lieber in Ruhe, Mr. Herrick, Sir.»

Herrick nickte.»Ich weiß. Aber er nimmt sich diesen Rückschlag sehr zu Herzen, obwohl ich keinen Kapitän kenne, der sich besser aus der Affäre gezogen hätte.»

Allday senkte die Stimme.»Aber ein Kapitän war heute besser. Und unserer wird nicht ruhen, bis er ihn wieder vor den Rohren hat.»

Keen stieß einen leisen Seufzer aus, und Allday schnauzte die Matrosen an:»Los, ran, ihr Faulpelze! Eine Schüssel neben seinen Kopf! Ich habe ihm so viel Rum in die Eingeweide gepumpt, daß er die ganze Kajüte vollkotzen wird, wenn er wieder aufwacht!»

Herrick schritt lächelnd zur Tür. Die Matrosen zurrten die Geschütze wieder fest und grinsten ihn an, als er vorbeiging. Einer rief:»Den Scheißkerlen haben wir's aber gezeigt, Sir, wie?»

Herrick blieb stehen.»Jawohl, das haben wir, Jungs. Der Captain ist stolz auf euch.»

Die Matrosen grinsten noch breiter.»Aye, Sir. Ich hab ihn gesehen. Mitten im dicksten Beschuß ist er rumspaziert, als ob er in Plymouth wäre. Hoho! Da hab' ich gewußt, wir schaffen es.»

Herrick kletterte nach oben in die Sonne und starrte auf die zerfetzten Segel. Wenn ihr wüßtet, dachte er trübe.

Die anderen Leutnants und die Deckoffiziere waren bereits auf dem Achterdeck versammelt und gaben ihre Meldungen ab. Bolitho lehnte am Großmast. Als er Herrick sah, meinte er:»Uns bleibt noch eine ganze Weile Tageslicht. Wir werden die zerschossenen Segel und das laufende Gut auswechseln lassen, so lange es noch hell ist. Ich habe Befehl gegeben, daß in der Kombüse Feuer gemacht wird. Die Leute sollen anständig zu essen bekommen. «Er deutete auf das schwerfällige Transportschiff, das nun knapp eine Meile entfernt war.»Wir könnten uns sogar von denen ein paar Helfer ausleihen, was?»

Herrick sah, daß die anderen nur halb zuhörten; sie waren noch abgestumpft von der Anstrengung und dem Schock, den sie erst jetzt richtig spürten. Vermutlich war es dieser andere Bolitho — kühl, selbstsicher, den Kopf schon wieder voll neuer Ideen — , den jener Matrose von der Geschützbedienung während des Gefechtes zu sehen geglaubt hatte.

Aber daß er, Herrick, den richtigen Bolitho kannte, der sich hinter dieser Maske verbarg, das machte ihn plötzlich so stolz, daß alle Erschöpfung von ihm abfiel.

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