17. Kapitel


Zwar besaß die Rhabwar dieselbe Deltaflügelkonstruktion und die Flugeigenschaften wie die eine leichten Kreuzers des Monitorkorps, aber nicht dessen Bordwaffen. Sie gehörte zur größten im Einsatz befindlichen Schiffsklasse, die sowohl zu Flugmanövern innerhalb einer Atmosphäre als auch zu Landungen imstande war, ohne dabei größere Schäden auf der jeweiligen Planetenoberfläche anzurichten. Letzteres schien jedoch hier auf Etla kein wichtiger Gesichtspunkt zu sein, denn soweit Hewlitt blicken konnte, war die Gegend, in der er in seiner Kindheit herumgetollt war, noch immer so, wie er sie in Erinnerung behalten hatte: ein von Wildwuchs und verrosteten Wrackteilen überwuchertes Brachland. Während das Schiff zur Landung auf einer freien Fläche ansetzte, die sich zwischen seinem ehemaligen Elternhaus und den hohen Baumgruppen befand, durch die die Schlucht hindurchführte, konnte er auf dem Hauptbildschirm mit dem Zeigefinger den Pfad verfolgen, den er vor all den Jahren entlanggegangen war.


Die Lagebesprechung wurde auf dem Unfalldeck abgehalten, da es sich um den größten Schiffsabschnitt handelte. Neben dem medizinischen Team nahmen Captain Fletcher und Hewlitt daran teil sowie das per Bildschirm zugeschaltete graubehaarte Gesicht von Colonel Shech-Rar, dem Kommandanten der auf Etla stationierten Einheit des Monitorkorps. Auf dem Monitor vermittelte der Offizier den Eindruck eines sehr beschäftigten und ungeduldigen Orligianers.


»Der Ruf der Rhabwar und der Ihrer Mannschaft eilt Ihnen voraus Doktor«, unterbrach er Prilicla, noch bevor dieser seine freundlich und ungezwungen vorgetragene Begrüßungsrede beenden konnte. »Lassen Sie uns keine Zeit verlieren. Das Orbit Hospital hat um meine volle Unterstützung während Ihres hiesigen Aufenthalts gebeten. Worum geht es bei Ihrem Einsatz? Wieviel Zeit und welche Form der Unterstützung werden Sie dafür benötigen?«


Hewlitt, der dem Orligianer als ein nichtmedizinischer Berater vorgestelltworden war, fragte sich, ob der Colonel während seiner Dienstzeit lediglich mit zu vielen Kelgianern und zu wenigen Cinrusskern zusammengekommen war, oder ob es sich bei seinem schlechten Benehmen sogar um eine angeborene Charaktereigenschaft handelte.


»Bedauerlicherweise darf ich die genauen Einzelheiten unseres Auftrags nicht preisgeben, Colonel«, antwortete Prilicla ohne feststellbare Veränderung seines freundlichen Auftretens. »Ich kann Ihnen nur sagen, daß er die Untersuchung von Vorfällen umfaßt, die hier auf Etla vor über zwanzig Jahren stattgefunden haben und im wichtigen Zusammenhang mit einem medizinischen Forschungsprojekt stehen könnten, das wir zur Zeit durchführen. Natürlich steht dabei kein galaktisches Geheimnis oder gar die Sicherheit der ganzen Föderation auf dem Spiel, und es handelt sich auch nicht um eine besonders bedeutende oder heikle Angelegenheit. Wenn das der Fall wäre, dann hätte man Sie mit Sicherheit in die Geschichte eingeweiht. Aufgrund der ärztlichen Schweigepflicht können wir zur Zeit allerdings nur begrenzt Informationen preisgeben. Sobald die Untersuchung beendet und ausgewertet ist, wird man Sie bestimmt über die Ergebnisse in Kenntnis setzen.«


»Besteht die Gefahr, daß Ihre Nachforschungen für mein Personal oder für die Einheimischen ein Gesundheitsrisiko bergen?« erkundigte sich Shech-Rar argwöhnisch. »Bedenken Sie bitte, daß Etla früher nicht umsonst als der › kranke Planet‹ bezeichnet wurde. Vor vielen Jahren ist es uns endlich gelungen, ihn von all seinen grauenvollen Krankheiten zu befreien. Außerdem wäre es für unseren immer noch geltenden Kulturkontaktauftrag nicht gerade förderlich, wenn man die Einheimischen unnötigerweise an ihre unrühmliche Vergangenheit erinnern würde. Versuchen Sie bitte nicht, Ihre wahren Absichten hinter einer Fassade komplizierter medizinischer Fachausdrücke zu verbergen, Doktor. Also, können Sie mir wirklich versichern, daß nichts dergleichen passieren wird?«


»Ja«, antwortete Prilicla bestimmt.


Shech-Rar entblößte die Zähne – Hewlitt war sich nicht sicher, ob es sich dabei um ein Lächeln oder um eine mürrische Grimasse handelte -,dann fuhr er fort: »Gut. Das war eine klare und einsilbige Antwort. Wenn ein Raumschiff wie die Rhabwar in vertraulicher Mission hier eintrifft, auch wenn es sich dabei um keinen sonderlich bedeutenden oder heiklen Auftrag handelt, dann macht es einen trotzdem ziemlich neugierig… na ja, mich zumindest. Ist auch nicht so wichtig, Doktor. Also gut, was brauchen Sie von mir, und wie kann ich Ihnen sonst noch behilflich sein?«


Prilicla hatte innerhalb kurzer Zeit die benötigten Dinge aufgezählt, doch konnte man eindeutig an Shech-Rars Stimme erkennen, daß die anfängliche Ungeduld des Orligianers in Mißtrauen umgeschlagen war.


»Ich bin erst fünf Jahre nach diesen tragischen Ereignissen hierher versetzt worden, also trage ich für diese Angelegenheiten auch nicht die direkte Verantwortung«, sagte der Colonel. »Die Ursachen des Flugzeugunglücks, bei dem die Eltern des Patienten ums Leben gekommen sind, was meiner Meinung nach das einzig Wichtige daran ist, sind bereits ausführlich ermittelt worden. Die Untersuchungen haben damals ergeben, daß mehrere Faktoren dafür verantwortlich gewesen waren: ungünstige Witterungsverhältnisse, ein Defekt des Antriebssystem – der sich auch auf sämtliche Kontrollfunktionen auswirkte – und ein Fehlverhalten des Piloten, der nicht gewartet hatte, bis das Unwetter vorüber war. Sie können gern eine Kopie des Berichts haben. Warum nehmen junge Leute, denen noch ein langes Leben bevorsteht, eigentlich immer wieder solch unnötige Risiken in Kauf, während die alten Leute, denen viel weniger Zeit bleibt, so vorsichtig sind?«


Der Colonel gab ein unübersetzbares Geräusch von sich, als würde er sich über seinen Abstecher in philosophische Gefilde ärgern, und fuhr dann fort: »Auch wenn Sie mir etwas anderes versichert haben: Allein die Ankunft der Rhabwar und Ihres Teams hier sagt aus, wie wichtig der Auftrag in Wahrheit ist. Sollten Sie jedenfalls während Ihrer Nachforschungen auf irgendwelche Hinweise stoßen, die auf ein fahrlässiges Verhalten seitens einiger meiner Offiziere seinerzeit schließen lassen könnten, werde ich Ihnen nicht erlauben, diese zu befragen, bevor ich mich nicht davon überzeugt habe, daß sie sich mit einem Rechtsbeistanddes Monitorkorps zu diesen Vorwürfen äußern. Haben Sie das verstanden, Doktor?«


Der zerbrechliche Körper und die streichholzdünnen Beine des Empathen zitterten kurz, als ob er die emotionale Ausstrahlung von Shech-Rar trotz der großen Entfernung wahrnehmen würde, dann erwiderte er: »Ich versichere Ihnen, daß es bei den Untersuchungen überhaupt nicht darum geht, irgendwelche Schuldfragen neu zu klären. Wir bitten lediglich um die Erlaubnis, die Gegend genau erkunden zu dürfen, in der die Vorfälle stattgefunden haben, und darum, die beteiligten Wesen zu befragen, soweit sich diese noch auf Etla befinden. Wir möchten nur wissen, woran sie sich noch erinnern können, nichts weiter, wobei wir etwaige Gedächtnislücken selbstverständlich einkalkulieren werden. Der ungefähre Zeitpunkt des Unglücks ist uns zwar bekannt, aber wir werden Ihre Hilfe benötigen, die betreffenden Leute ausfindig zu machen. Im Augenblick kennen wir noch nicht einmal deren Namen.«


»Diese Informationen stehen bestimmt in der Akte meines Vorgängers«, meinte der Colonel. »Warten Sie einen Moment.«


Als Shech-Rar vom Bildschirm verschwand, blieb die Verbindung zwar bestehen, doch sein Bild wurde von dem Symbol des Monitorkorps auf dunkelblauem Hintergrund ersetzt, was daraufhindeutete, daß der Colonel nicht lange auf sich warten lassen würde. Auf der Rhabwar herrschte absolutes Schweigen; offenbar wollte niemand ein Gespräch anfangen, das mit Sicherheit unterbrochen werden würde.


Und tatsächlich tauchte kurz darauf das haarige Gesicht des Colonels auf dem Bildschirm wieder auf, der ohne lange Vorrede direkt zur Sache kam »Die von Ihnen gewünschten Namen lauten wie folgt: Major Stillman, ehemaliger Stabsarzt, der zwar im Ruhestand ist, aber immer noch als etianischer Kulturberater für den Stützpunkt tätig ist, und Doktor Hamilton, Spezialist für ET-Zahnmedizin. Falls Sie mit Oberstabsarzt Telford, dem damaligen medizinischen Offizier, sprechen möchten, dann müssen Sie nach Dutha fliegen, denn er ist vor drei Jahren dorthin versetzt worden. Der jetzige Amtsinhaber, Stabsarzt Krack-Yar, wird Ihnen dieKrankenhausakten zur Verfügung stellen und sie auf Anfrage mit Ihnen gemeinsam durchgehen.«


»Nun, die Angelegenheit ist nicht wichtig genug, als daß ein Flug nach Dutha gerechtfertigt wäre«, meinte Prilicla. »Sobald es Ihnen recht ist, wäre es schön, wenn Sie uns eine Kopie der Akten des damaligen medizinischen Offiziers und den offiziellen Ermittlungsbericht des Flugzeugunglücks aushändigen könnten.«


Shech-Rar warf jemandem einen Blick zu, der sich außerhalb der Bildschirmkamera befand, nickte dann zustimmend und sagte schließlich: »Sind Ihnen fünfzehn Minuten schnell genug?«


»Sie halten wahrlich nichts von Zeitverschwendung, Colonel«, schmeichelte ihm Prilicla. »Selbstverständlich ist das früh genug, danke sehr!«


»Statt Ihnen die Namen, Standorte und eine Landkarte zu übermitteln, könnten Sie viel Zeit sparen, wenn Ihnen Major Stillman als Führer und Begleiter zur Seite stehen würde«, schlug Shech-Rar vor. »Er ist ortskundig und kann Sie den betreffenden Leuten vorstellen. Vor allem wird er mir dann hoffentlich verraten können, was Sie hier nun wirklich treiben… «


Ganz offensichtlich hat der Oberst wirklich sehr viel Zeit mit Kelgianern verbracht, dachte Hewlitt.


»… das Haus, das Sie eben erwähnt haben, wird übrigens nicht mehr von Terrestriern bewohnt. Wollen Sie es trotzdem aufsuchen?«


Für einen kurzen Augenblick geriet der schwebende Cinrussker etwas aus dem Gleichgewicht, doch fing er sich rasch wieder und sagte: »Ja, Colonel, und sei es nur zu dem einen Zweck, daß wir uns bei den Bewohnern des Hauses für unsere ungebetene Landung in deren Hinterhof entschuldigen können.«


Da Prilicla sehr sensibel war, versuchte er unter allen Umständen zu vermeiden, irgend etwas zu tun oder zu sagen, das bei jemand anderem eine unangenehme Reaktion hervorrufen könnte, da der Empath den Zorn oder den Kummer seines Gegenübers mitfühlen würde. Auch wenn derColonel weit außerhalb seiner empathischen Reichweite lag, so war die Gewohnheit, stets die Wahrheit zu sagen, bei dem Cinrussker doch sehr stark ausgeprägt. Nichtsdestoweniger hatte Hewlitt bereits einige Male herausgefunden, daß es durchaus Momente gab, in denen das zerbrechliche Wesen nur sehr sparsam mit der Wahrheit umzugehen pflegte, und er hatte das Gefühl, daß dies auch jetzt der Fall war.


»Major Stillman wird in etwa drei Stunden an Ihrer Luftschleuse eintreffen. Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie behilflich sein, Doktor?«


Noch bevor Prilicla nein sagen und sich nochmals bedanken konnte, hatte sich Shech-Rar bereits ausgeblendet.


»Ich hätte Sie auch ohne Stillmans Hilfe zu dem Grundstück und dem Haus führen können«, sagte Hewlitt. »Warum wollen Sie überhaupt dorthin? Ich meine, ich würde gern den wirklichen Grund hören und nicht die höflich umschriebene Erklärung, die Sie dem Colonel gegeben haben.«


»Wenn wir die Hilfe der hier stationierten Einheit des Monitorkorps ablehnen, dann würde der Colonel mit Sicherheit annehmen, daß wir etwas zu verheimlichen versuchen, Freund Hewlitt«, erklärte ihm Prilicla. »Dabei verheimlichen wir gar nichts, denn wir wissen ja noch nicht einmal, ob es überhaupt etwas zu verheimlichen gibt – mit Ausnahme unserer eigenen Verlegenheit vielleicht, in die wir uns demnächst bringen könnten.


Der einzige Grund, das Haus aufzusuchen, besteht darin, altes Terrain zu erforschen, in der Hoffnung, daß uns oder Ihnen währenddessen etwas Hilfreiches einfällt. Ich spüre, daß Sie mit Skepsis vermischte Enttäuschung ausstrahlen. Vielleicht haben Sie einen triftigeren Grund erwartet. Die Wahrheit ist, daß wir keine klare Vorstellung von dem haben, was wir dort, falls überhaupt, finden werden.


Und jetzt lassen Sie uns mit der Einsatzbesprechung fortfahren… «


Selbst wenn angeblich niemand weiß, wonach gesucht werden soll, so sind Captain Fletcher und das ganze medizinische Team für dieses Vorhaben zumindest gut ausgerüstet, dachte Hewlitt etwas spöttisch. Auch wenn sein Kommunikator eingeschaltet war, so verlief das Gesprächdoch viel zu speziell und zu technisch, als daß er etwas hätte verstehen oder dazu beitragen können. Deshalb hörte er nur zu, ohne etwas zu sagen, bis die Besprechung durch eine Ansage aus dem Wandlautsprecher unterbrochen wurde.


»Ich habe eine Mitteilung für Sie. Das von Colonel Shech-Rar versprochene Material ist eingetroffen. Wie lauten die Anweisungen?«


»Spielen Sie es auf unserem Repeaterschirm ab, Freund Haslam, und lassen Sie bitte als erstes den Unfallbericht ablaufen«, ordnete Prilicla an, wobei er sich Hewlitt so weit näherte, bis sich dessen Haare durch den Luftzug des Flügelschlags bewegten. »Sie können gern bleiben, Freund Hewlitt. Sollten Sie das Material oder unsere Unterhaltung allerdings als zu bedrückend empfinden, dann gehen Sie ruhig zu Ihrem Bett zurück, und errichten Sie ein schalldichtes Feld um sich herum.«


»Das alles liegt schon sehr lange zurück«, erwiderte Hewlitt. »Ich bin damals noch viel zu jung gewesen, als daß man mir alle Einzelheiten erzählt hätte, aber jetzt will ich Bescheid wissen. Ich werde das schon verkraften. Trotzdem danke für Ihr Mitgefühl.«


»Nun, ich werde ja merken, wie es Ihnen dabei ergeht, Freund Hewlitt. Also legen Sie los, Freund Haslam«, forderte er den Lieutenant auf.


Der Bericht begann mit den Fotos auf den offiziellen Dienstausweisen seiner Eltern. Hewlitt staunte nicht schlecht, denn auf den Bildern sahen seine Eltern nicht älter aus, als er heute war. Er hatte sie längst nicht so jung und natürlich auch viel größer in Erinnerung gehabt. Während die persönlichen und physiologischen Daten aufgeführt wurden, dachte er immer noch darüber nach, daß die beiden sehr ernst in die Kamera geschaut hatten; es mußte sich um einen der wenigen Augenblicke gehandelt haben, in denen sie einmal nicht gelächelt hatten. Viele Erinnerungen kehrten zurück, klar und deutlich, und sie deckten sich mit den aufgeführten Details des von den Ermittlern rekonstruierten Unfalls.


In jenem schicksalsschweren Augenblick war sein Vater viel zu beschäftigt gewesen, als daß er ihn auch nur hätte ansehen können, doch seine Mutter hatte ihn angelächelt und ihm gesagt, er brauche keine Angstzu haben. Dann war sie über die Rückenlehne des Copilotensitzes gestiegen, um sich neben ihn zu zwängen. Mit einem Arm hatte sie ihn auf ihrem Schoß festgehalten und mit der freien Hand den Sicherheitsgurt um sie beide herumgelegt. Damals konnte er durch die Flugzeugkuppel hindurch sehen, wie sich der Himmel und die bewaldeten Berge drehten und sie den Bäumen so nahe kamen, daß selbst einzelne Zweige zu erkennen waren. Dann drückte ihn seine Mutter kopfüber auf ihren Schoß, so daß sein Hinterkopf zwischen ihre Brüste gepreßt wurde. Plötzlich gab es einen heftigen Ruck – das Flugzeug kippte auf die Seite und wurde auseinandergerissen. Schließlich krachte es laut, und während er durch die Luft geschleudert wurde, spürte er den Regen und die kalte Luft im Gesicht.


Zwar erinnerte er sich noch an den heftigen Schmerz, den er beim Aufprall auf den Boden empfunden hatte, aber an nichts mehr, was danach geschah, bis er von einem Angehörigen des Rettungstrupps, der auf das automatische Notsignal hin reagiert hatte, gefragt wurde, wo er sich verletzt habe.


Dem Bericht zufolge war die Flugzeugkanzel von einer Baumkrone durchbohrt worden. Als die Maschine gefunden wurde, steckte das Cockpit immer noch in den oberen Zweigen fest, während der Rest des Flugzeugs auf den Boden gekracht und den Berg hinuntergerollt war, wo es fünfundvierzig Meter weiter zerschellt liegengeblieben war, bevor es Feuer gefangen hatte. Da das bewaldete Gebiet durch heftige Regenfälle an jenem Tag durchweicht war, hatten die Flammen nicht bis zu dem Teil des Hangs hinauf dringen können, wo sich der einzige Überlebende befunden hatte – ein sieben Jahre alter Junge. Danach wurde der Bericht mit einer ausführlichen Erörterung der technischen Beweise fortgesetzt, die von den Ermittlern zusammengetragen worden waren. Diesen Abschnitt überging Prilicla jedoch, da sich Captain Fletcher später damit befassen sollte. Der Bericht endete mit einigen kurzen Angaben über die Autopsie und die Behandlung der Unfallopfer.


Seine Eltern hatten schwere Verletzungen erlitten, und alles wies darauf


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hin, daß sie wahrscheinlich schon tot, zumindest aber bewußtlos gewesen waren, bevor sie von den Flammen verschlungen worden waren, so daß sie nichts mehr gespürt hatten. Als Hewlitt damals gefunden wurde, stand er noch unter Schock und war völlig verwirrt, doch ansonsten war er unverletzt geblieben, und man nahm an, daß die kleinen Blutflecken auf seiner Kleidung von seiner Mutter stammten. Dennoch behielt man ihn für neun Tage zur Beobachtung im Krankenhaus, genau die Zeit, die seine nächste Angehörige, seine Großmutter, zum Anreisen benötigte, um die Beerdigung der sterblichen Überreste seiner Eltern zu arrangieren und ihn dann mit auf die Erde zu nehmen.


Wie ihm erst jetzt bewußt wurde, hatte es seine Großmutter damals nicht zugelassen, daß er seine Eltern noch ein letztes Mal zu sehen bekam, weil der Vorgang der Einäscherung bereits im brennenden Flugzeug begonnen hatte.


Für einen Moment kehrten der alte, aber nie richtig überwundene Schmerz und die Trauer über den Verlust wie eine schwarze Leere zurück und schnürten ihm die Brust zusammen. Hewlitt gab sich jedoch redlich Mühe, seinen Gefühlen keinen freien Lauf zu lassen, denn Prilicla beobachtete ihn und begann bereits, in der Luft hin und her zu schwanken. Also verdrängte er die schmerzliche Erinnerung und versuchte, sich auf den nächsten Bericht zu konzentrieren, der auf dem Bildschirm erschien.


»Vielen Dank, Freund Hewlitt«, merkte der Empath an und fuhr dann in geschäftsmäßigem Ton fort: »Wie wir sehen können, bezieht sich dieser Bericht auf den Gesundheitszustand, die medizinische Behandlung und das Verhalten des Überlebenden während seines neuntägigen Krankenhausaufenthalts. Offenbar bereitete der kleine Hewlitt schon damals seinen Ärzten einiges Kopfzerbrechen.


Diese Probleme tauchten zum ersten Mal auf, als der damals noch den Rang eines Stabsarzt bekleidende Telford ein oral einzunehmendes Beruhigungsmittel verordnete. Obwohl unverletzt, war der Patient einer physischen Erschöpfung nahe und durch den Verlust seiner Eltern völlig verstört und außerstande zu schlafen. Die Folge war eine heftige, aberuntypische Reaktion: Er bekam Magenschmerzen, Atembeschwerden und Hautausschläge auf Brust und Rücken. Während der Stabsarzt immer noch die Ursachen herauszufinden versuchte, klangen die Symptome bereits wieder ab. Es wurde ein anderes Beruhigungsmittel verschrieben, das vorsichtshalber anfangs nur in minimalen Dosen subkutan injiziert wurde. Dieses Mal folgte ein exakt zwei Komma sechs Minuten andauernder Herzstillstand, begleitet von wiederholt auftretender Beeinträchtigung der Atemtätigkeit. Beides blieb ohne feststellbare Auswirkungen.«


Prilicla deutete mit einem seiner vier Greiforgane auf den unteren Bildschirmabschnitt, wo sich eine Zusammenfassung der Behandlung befand. »Wie Sie sehen können, hat Doktor Telford damals eine hyperallergische Reaktion mit unbekannter Ursache diagnostiziert und jede weitere medikamentöse Behandlung untersagt. Die seelischen Probleme wurden statt dessen der Obhut einer Krankenschwester derselben Spezies anvertraut, die sich kurz vorm Ruhestand befand. Sie versuchte, dem Patienten mit beruhigenden Worten Trost zu spenden. Außerdem wurde dem weder kranken noch verletzten Kind gestattet, sich nach Belieben abzulenken, um sich über den Verlust ein wenig hinwegzutrösten, indem er andere Patienten besuchen und sich mit ihnen unterhalten durfte. Dazu gehörten auch einige weltraumerfahrene Offiziere des Monitorkorps, die viele spannende Geschichten zu erzählen hatten… «


»Diese Schwester ist immer sehr nett zu mir gewesen«, erwähnte Hewlitt, wobei seine Stimme durch die wiederkehrende Trauer, von der er viele Jahre nichts mehr verspürt hatte, sehr bedrückt klang. »Heute ist mir natürlich klar, daß einige dieser Geschichten höchstwahrscheinlich nicht immer ganz der Wahrheit entsprochen haben. Trotzdem funktionierte diese Behandlungsmethode irgendwie … Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbrochen habe, Doktor Prilicla. Eigentlich wollte ich meine Erinnerungen für mich behalten.«


»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Freund Hewlitt, zumal Ihre Erinnerungen an diese Zeit sehr wertvoll für uns sind«, ermunterte ihn Prilicla und fuhr nach einer kurzen Pause fort: »Es gibt hier einen Vermerk,daß der damalige Stabsarzt Telford aufgrund Ihrer atypischen Reaktion auf zwei einfache und bewährte Beruhigungsmittel vor einem absoluten Rätsel stand. Leider hatte er vor dem Eintreffen Ihrer Großmutter keine Gelegenheit mehr gehabt, die allergenen Substanzen festzustellen, von denen er annahm, daß sie diese Reaktion ausgelöst hatten. Außer seiner unbefriedigten Neugier gab es für Doktor Telford also keinen Anlaß, ein ansonsten gesundes Kind im Krankenhaus zu behalten.


Möchte sich jetzt jemand von Ihnen zu diesem Bericht äußern?« erkundigte sich Prilicla abschließend.


Zwar gab es einige Dinge, die Hewlitt gern dazu gesagt hätte, doch wußte er, daß diese Frage nicht direkt an ihn gerichtet war.


Pathologin Murchison meldete sich als erste zu Wort und sagte: »Auch wenn die Form, in der die Symptome mit ungewöhnlicher Geschwindigkeit aufgetaucht und wieder abgeklungen sind, anormal erscheinen mag, so ist Telfords Diagnose bezüglich dessen, was eine schwere und dennoch in ihrem Verlauf untypische Allergie zu sein schien, unter den gegebenen Umständen vernünftig gewesen. Ebenso verhält es sich mit seiner Entscheidung, die medikamentöse Behandlung einzustellen, solange er nicht genau wußte, was vor sich ging. Im Grunde genommen war es nichts anderes als das, was auch die Ärzte auf der Erde und später im Orbit Hospital getan haben. Kurz gesagt: nichts … «


»Pathologin Murchison!« fuhr Naydrad aufgebracht dazwischen, deren Fell sich vor lauter Ungeduld stachelig aufrichtete. »Sie stellen das uns längst bekannte Problem lediglich noch mal auf eine andere Weise dar, ohne eine Lösung anzubieten.«


Murchison kannte ihre kelgianische Kollegin viel zu gut, als daß sie sich über deren Bemerkung geärgert hätte, und fuhr unbeirrt fort: »Das mag zwar sein, aber das, was ich klarzumachen versuche, ist, daß die allergischen Reaktionen in einem sehr jungen Alter aufgetreten sind und sich mit nur sehr geringfügigen Veränderungen hier auf der Erde und im Orbit Hospital wiederholt haben. Deshalb frage ich mich, ob der Patient bereits mit dieser Veranlagung geboren wurde und ob wir nach einer genetischenUnstimmigkeit suchen sollten. Es ist kein Fall bekannt, daß jemand auf die synthetisch hergestellte Nahrung, die von den außerplanetarischen Besuchern auf Etla am häufigsten zu sich genommen wird, allergisch reagiert hätte, und das gilt natürlich auch für Säuglings-Milchpräparate. Und es würde auch keine allergische Reaktion hervorrufen, wenn… Sind Sie als Baby eigentlich gestillt worden, Hewlitt?«


»Wenn ja, dann bin ich wohl noch zu klein gewesen, um mich daran erinnern zu können«, antwortete Hewlitt, nachdem er tatsächlich kurz versucht hatte, sich in die Zeit als Säugling zurückzuversetzen.


Murchison lächelte. »Schade, aber möglicherweise ist das auch gar nicht so wichtig. Wenn Sie allerdings gestillt und später mit synthetischer Nahrung entwöhnt worden sind, dann könnte das vielleicht erklären, warum die erste allergische Reaktion durch die Medikamente ausgelöst worden ist. Es gibt noch eine andere Möglichkeit. Die Symptome traten zum ersten Mal einige Stunden nach dem Flugzeugunglück im Krankenhaus auf. Auch wenn Sie unverletzt geblieben sind, so ist doch anzunehmen, daß Sie infolge des Sturzes auf den weichen und durchnäßten Boden, der zweifellos durch die Zweige abgebremst worden ist, vorübergehend bewußtlos gewesen sind. Der Schockzustand, in dem Sie sich befunden haben, läßt zum Beispiel auf eine kurz zuvor erlittene Gehirnerschütterung schließen. Darüber hinaus ist es durchaus möglich, daß Sie sich kleinere Rißwunden oder Hautabschürfungen zugezogen haben, die unter den gegebenen Umständen als zu geringfügig angesehen worden sind, als daß sich die Rettungsleute die Mühe gemacht hätten, diese aufzuzeichnen. Jedenfalls hätte dadurch irgend etwas in Ihren Blutkreislauf gelangen können, das später die allergischen Reaktionen ausgelöst hat. Zum Beispiel etwas, das auf dem Baum oder am Boden lebt – eine Spore oder ein Insekt, vielleicht sogar ein kleines Tier, das Sie gebissen hat, oder eine giftige Substanz mit unbekannten Eigenschaften, die aus einem zerquetschten Blatt ausgetreten ist und durch einen Hautriß eindringen konnte. Deshalb schlage ich vor, daß wir die Absturzstelle genauer untersuchen. Falls solche Kleinstlebewesen oder Substanzen auf Etla in der Natur vorkommen, dann wird es sie dortauch heute noch geben.


Und Sie können ruhig damit aufhören, Ihr Fell in Knoten zu legen, Naydrad«, merkte sie eher beiläufig an. »Ich weiß selbst, daß die einheimischen Krankheitserreger von Etla kein Wesen befallen können, das sich auf einem anderen Planeten entwickelt hat. Und ich weiß auch, daß die Etlaner und Terrestrier fast identisch sind. Sie ähneln sich sogar so sehr, daß es Theorien über ein prähistorisches Kolonisationsprogramm gemeinsamer raumreisender Vorfahren gibt. Die Fortpflanzungsversuche einiger Angehöriger des Stützpunktpersonals, die sich aus emotionalen Gründen gezwungen sahen, die Kulturkontakte durch die Heirat etlanischer Männer oder Frauen auszuweiten, waren allerdings nicht von Erfolg gekrönt. Falls es jedoch in der genetischen Struktur der beiden Spezies irgendwelche Überschneidungen gibt, auch wenn sie noch so gering sein sollten, dann müßten auch diese untersucht werden. Und wenn sich Patient Hewlitt streng überwachten Tests unterziehen und zur Minderung des Risikos nur geringe Mengen einheimischer etlanischer Medikamente einnehmen würde, könnten wir auf die berühmte Ausnahme stoßen, die die Regel bestätigt.«


»Keine Tests, Freundin Murchison«, widersprach Prilicla sofort, bevor Hewlitt die Gelegenheit hatte, dasselbe mit Kraftausdrücken zu sagen. »Keinerlei Medikamente, weder etlanische noch andere, bis wir eine klarere Vorstellung von dem haben, wonach wir suchen. Vielleicht haben Sie schon vergessen, daß Freund Hewlitt bereits als Vierjähriger mit etlanischer Vegetation in Berührung gekommen ist, als er, bevor er von demPenissithbaum stürzte, hochgiftiges Obst gegessen hat.«


»Nein, ich weiß sehr wohl, daß Patient Hewlitt als Kind insgesamt zwei Stürze völlig unverletzt überstanden hat«, entgegnete Murchison. »Wahrscheinlich geschah das rein zufällig, könnte aber auch bedeutsam sein, wenn wir davon ausgehen, daß in der Frucht, die er vor dem ersten Sturz verzehrt hat, eine Substanz war, die die hyperallergische Reaktion nach dem Flugzeugunglück ausgelöst hat. Die Schilderung der Ereignisse, die während und nach dem zweiten Sturz stattgefunden haben, werdendurch objektive medizinische Beweise belegt, aber die Darstellung der Begleitumstände des ersten Sturzes ist rein subjektiv und wird nur durch Kindheitserinnerungen gestützt, die sich als wenig glaubwürdig herausstellen könnten.


Berücksichtigt man die geringe Körpergröße des Patienten zur damaligen Zeit, dann könnte die Absturzhöhe übertrieben worden sein. Bei der Frucht, die der Junge damals verzehrt hat und die später von anderen als hochgiftig identifiziert worden ist, könnte es sich um eine optisch zwar ähnliche, ansonsten aber ungiftige Sorte gehandelt haben. Die anschließende Bewußtlosigkeit hätte also lediglich eine natürliche Ermüdung nach einem langen Spielnachmittag gewesen sein können. Kinder können großartige Geschichten erzählen, und im nachhinein glauben sie sogar selbst daran. Solange wir aber keine objektiven Beweise haben, die uns … Patient Hewlitt, bitte halten Sie Ihre emotionale Ausstrahlung unter Kontrolle!«


Da Priliclas zerbrechlicher Körper durch Hewlitts Wut und tiefe Enttäuschung emotional erfaßt und wie von einem Sturm durchgerüttelt wurde, versuchte er verzweifelt, seine Gefühle zu unterdrücken. Murchison war die einzige von den an Bord befindlichen Ärzten, die derselben Spezies wie Hewlitt angehörte. Er hatte sie als eine freundliche, entspannte und kompetente Persönlichkeit kennengelernt, die einem sehr viel Vertrauen einflößen konnte, wenn sie sich nicht wie jetzt als betont sachlich unterkühlte Pathologin gab. Eigentlich hatte er sie gemocht und ihr vertraut, und er war davon ausgegangen, daß sie ihm immer mehr Glauben schenkte. Doch jetzt mußte er zu seiner tiefen Enttäuschung feststellen, daß sie wie all die anderen war.


»Ich habe Sie übrigens nicht als Lügner bezeichnet, Hewlitt«, beruhigte ihn Murchison, als ob sie seine Gedanken gelesen hätte. »Ich will damit lediglich klarstellen, daß ich gegenwärtig mehr Beweise brauche, um den Wahrheitsgehalt Ihrer Darstellungen zu untermauern.«


Hewlitt wollte gerade etwas darauf antworten, als ihm die Stimme des Kommunikationsoffiziers das Wort abschnitt.


»Wir haben soeben die Mitteilung erhalten, daß das Bodenfahrzeug mitMajor Stillman an Bord den Stützpunkt verlassen hat«, verkündete Lieutenant Haslam. »Er läßt Ihnen ausrichten, daß er in ungefähr achtzehn Minuten eintreffen wird.«


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