20. Kapitel


Hewlitt brach in Schweiß aus, was jedoch nicht am Einfluß der Sonnenwärme lag, und wich instinktiv einen Schritt zurück, doch zu seinem großen Erstaunen blieben alle anderen ganz ruhig. Entweder mangelte es ihnen allen an Vorstellungsvermögen, was eher unwahrscheinlich war, oder aber gegenwärtig bestand wirklich keine Gefahr. Dennoch trat er vorsichtshalber einen weiteren Schritt zurück.


»Unseres Wissens nicht, Captain«, antwortete Stillman. »Es gibt auch keine historischen Überlieferungen, daß solche Waffen jemals in etlanischen Planetenkriegen eingesetzt worden sind, und in einem Weltraumkrieg wären sie auch ziemlich unwirksam. Außerdem ist diese Welt schon krank genug gewesen. Allerdings sind sie vielleicht heimlich von den Wissenschaftlern des Imperators entwickelt worden, der gegen Ende der Rebellion verzweifelt genug gewesen sein könnte, um alles zu verwenden, was ihm zu Verfügung stand, aber meiner Meinung nach ist das nicht der Fall gewesen. In den Verletztenlisten aus jener Zeit wurden durch Explosionen und Granatsplitter hervorgerufene Verwundungen sowie Schußwunden erwähnt, jedoch keine durch chemische oder biologische Waffen verursachte Verletzungen.«


Er hielt lange genug inne, so daß Fletcher die Möglichkeit hatte, Murchison drei weitere Splitter zu übergeben, bevor er fortfuhr: »Unabhängig davon sind solche Waffen dafür vorgesehen, sie beim Aufprall oder in der Luft über dem Ziel explodieren zu lassen. Offensichtlich ist diese Granate, oder was auch immer das ist, mit Hilfe eines Fallschirms weich gelandet. Der Auslösemechanismus hat versagt, und sie ist erst explodiert oder aufgebrochen, als sie von etwas getroffen wurde.«


»Oder von jemandem«, wandte Prilicla ein.


Einer nach dem anderen drehte sich um und starrte Hewlitt an, denn sie waren über die Worte des Empathen genauso überrascht wie er selbst. Schließlich brach Stillman als erster das entstandene Schweigen.»Wenn Sie damit sagen wollen, daß ein Kind namens Hewlitt auf dieses Ding da gefallen ist und es dabei zerschlagen und den geheimnisvollen Inhalt freigegeben hat, dann kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Der Junge lag zwar damals direkt daneben, aber ich war zu sehr mit seiner Untersuchung beschäftigt, und darüber hinaus war es viel zu dunkel, als daß ich herumliegende Glasscherben hätte bemerken können. Wie wir alle außerdem wissen, können etlanische Krankheitserreger nicht auf Fremdweltler übertragen werden. Tja, und dann sieht unser Freund hier sowieso so aus, als wäre er in seinem ganzen Leben noch nie einen Tag lang krank gewesen.«


Priliclas Gliedmaßen zitterten leicht, weil es ihn enorme Anstrengung kostete und er seinen ganzen Mut zusammennehmen mußte, jemand anderem zu sagen, daß dieser falsch liege.


»Freund Hewlitts lange Leidensgeschichte ist eine Ansammlung nur schwer zu bestimmender Krankheiten, die darüber hinaus auf sämtliche Behandlungsmethoden negativ reagiert haben«, sagte er. »Aus diesem Grund sind bis heute sämtliche Diagnosen äußerst vage ausgefallen, und die seltsame Aneinanderreihung der bei ihm aufgetretenen Symptome wurde anfänglich und vielleicht irrtümlicherweise auf rein psychologische Ursachen zurückgeführt. Unsere vorläufige Diagnose lautet, daß er auf jede medikamentöse Behandlungsform, die bisher bei ihm angewandt worden ist, hyperallergische Reaktionen gezeigt hat. Wir sind uns ziemlich sicher, daß es sich dabei um keinen lebensbedrohlichen Zustand handelt, es sei denn, ihm wird ein Medikament oral verabreicht oder gespritzt oder auch in die Haut eingerieben. Medizinisch gesehen ist das Ganze ziemlich verwirrend.«


Stillman schüttelte den Kopf und deutete auf den Torpedo. »Und hilft Ihnen dieses Ding dabei, Ihre Verwirrung ein wenig zu verringern?«


Der Körper des Empathen zitterte schwach, als ob irgend jemand – vielleicht sogar Prilicla selbst – eine unangenehme emotionale Ausstrahlung erzeugte. Anstatt auf die Frage einzugehen, sagte er: »Freund Stillman, seitdem ich das gastfreundschaftlich gemeinte Angebot im Haus derTralthaner abgelehnt habe, spüre ich sowohl Ihren als auch den Hunger der anderen. Ich habe das schlicht und einfach nur aus dem Grund getan, weil der Nahrungssynthesizer der Rhabwar erst vor kurzem von Gurronsevas höchstpersönlich neu programmiert worden ist und ich es für eine gute Idee gehalten habe, wenn wir unseren Hunger gemeinsam auf dem Schiffstillen. Würden Sie mit uns zusammen an Bord speisen?«


»Ja, gern«, willigte Stillman sofort ein.


»Allerdings nehme ich auch ablehnende Gefühle und höchste Neugier von jemandem aus dem Team wahr. Gibt es noch ein Problem, Freund Fletcher?«


»Und ob! Das Problem steckt im Detail dieses Flugkörpers«, antwortete der Captain. »Ich würde gerne einen genaueren Blick auf den Mechanismus werfen, durch den der Kolben ausgelöst wird. Für diese im Grunde einfache Aufgabe scheint er mir nämlich unnötig kompliziert zu sein. Da ich die Konstruktion aber nicht beschädigen und nicht anrühren möchte, müßte ich Danalta hinzuziehen, damit er die dazu speziell benötigten Gliedmaßen und Finger ausstülpt, die uns ermöglichen, den Mechanismus auseinanderzunehmen und zu untersuchen. Es liegt mir wirklich fern, Ihnen zu widersprechen, Doktor, aber bei mir müßten Sie vielmehr bis zum Zerbersten gespannte Neugier spüren als irgendwelche Hungergefühle.«


Prilicla gab einen tiefen, trällernden Laut von sich, der nicht übersetzt wurde, bevor er ungeduldig antwortete: »Na schön, Sie sind beide entschuldigt. Freundin Murchison, möchten Sie sich diesen Meuterern etwa anschließen?«


Die Pathologin schüttelte den Kopf. »Ich kann hier zur Zeit sowieso nichts mehr tun. Bei der Schicht auf den Plastikglassplittern handelt es sich ja um eine synthetische Nahrungssubstanz, deren Verwendung sich für eine große Bandbreite verschiedener warmblütiger Sauerstoffatmer eignet. Es sind eine ganze Reihe unbekannter Organismen vorhanden, die zu dem ursprünglichen Inhalt des Behälters gehört haben könnten oder aber auch auf Etla heimisch sind oder eben beides. Eine vollständige Analyse ist mit dieser tragbaren Ausrüstung nicht möglich, also müssen wir sowieso damitwarten, bis wir zum Schiff zurückgekehrt sind und zu Mittag gegessen haben.«


Prilicla fing mit seinen schillernden Flügeln das Sonnenlicht ein, von denen es in allen Spektralfarben reflektiert wurde, dann flog er hoch hinauf über den Rand der Schlucht hinweg und verschwand in Richtung des Schiffs. Fletcher und Danalta blieben vor Ort, um ihre Untersuchung zu vervollständigen, und die anderen kehrten so zurück, wie sie gekommen waren.


Der Empath schien in furchtbarer Eile zu sein, dachte Hewlitt, und es war das erste Mal, daß er bei dem Cinrussker ein solch übernervöses, fast an Unhöflichkeit grenzendes Verhalten festgestellt hatte.


»Manchmal wünsche ich mir, ich könnte fliegen!« rief Stillman Murchison mit keuchender Stimme zu, die neben ihm den Abhang hinaufkletterte. »Oder noch besser: daß ich es nicht zugelassen hätte, auf meine alten Tage so ausgeprägt dreidimensional zu werden.« Murchison lächelte freundlich, schwieg jedoch, bis sie oben angekommen waren, und sagte dann: »Würden Sie mir bitte eine Frage beantworten, Oberstabsarzt Stillman?«


»Du meine Güte! Warum schlagen Sie plötzlich einen solch formalen und ernsten Ton an, Frau Doktor?« reagierte der Major etwas verdutzt. »Das kann ja nur bedeuten, daß Ihre Frage ähnlich ausfallen wird. Wenn ich kann, werde ich sie natürlich trotzdem beantworten.«


»Danke.« Murchison machte drei lange, raschelnde Schritte durch das hohe Gras und fuhr fort: »Es muß hier etwas sehr Eigenartiges während der Rebellion geschehen sein. Ich weiß zwar, daß die Informationen und Berichte aus jener Zeit nicht geheim sind, aber als ich mich über das Thema informieren wollte, mußte ich feststellen, daß das Monitorkorps sie nur anerkannten Historikern und Gelehrten zur Verfügung gestellt hat, und wie ich weiterhin herausgefunden habe, hat es keiner von denen besonders eilig gehabt, damit an die Öffentlichkeit zu treten.


Der Grund dafür war, daß der Integrationsprozeß der ehemaligen Planeten des etlanischen Imperiums in die galaktische Föderation behindert worden wäre. Hätte man nämlich die wahren Ursachen für die Rebellioninsbesondere hier auf diesem Planeten veröffentlicht, wären sie lediglich von neugierigen Journalisten für Sensationsstories ausgeschlachtet worden oder hätten, schlimmer noch, als billige Vorlagen für Drehbücher gedient, um letztendlich als verfälschte und seichte Dokumentarsendungen über die Unterhaltungskanäle zu flimmern. Wie man mir erzählt hat, leiden die Einheimischen immer noch enorm unter den von ihrem Imperator begangenen Kriegsverbrechen und sollten nicht unbedingt daran erinnert werden.


Aber um welche Verbrechen handelte es sich eigentlich dabei genau? Gehörten chemische Kriegsführung oder biologische Experimente an intelligenten Wesen etwa auch dazu? Wenn wir das wüßten, könnte uns das bei unseren Untersuchungen nämlich sehr behilflich sein. Oder ist es Ihnen etwa auch nicht gestattet, darüber zu sprechen?«


Stillman schüttelte den Kopf. »Nein, Murchison. Leuten wie Ihnen kann ich diese Informationen durchaus preisgeben, denn Sie werden sie ja nicht mißbrauchen. Dennoch teile ich sie Ihnen nur auf strikt vertraulicher Basis mit, denn der Imperator und die auserwählten Familien, die traditionsgemäß als seine Berater fungierten, waren sehr kranke, fast pervers veranlagte Leute.


Möchten Sie mir vielleicht noch eine weitere Frage stellen, Murchison?« fügte er lächelnd hinzu. »Vielleicht eine ganz nette und harmlose – eine, die nicht so viel Zeit in Anspruch nimmt und die sich nicht um einen solch scheußlichen Teil der Geschichte dreht, daß sie einer förmlichen Antwort bedarf?«


Murchison schwieg so lange, bis sie die Rhabwar erreicht hatten, und erst als sie die Bordrampe hinaufstiegen, antwortete sie: »Ja, ich habe noch eine zweite Frage. Wissen Sie zufällig, ob Snarfe irgendwann einmal in Hewlitts Schlucht auf Entdeckungsreise gegangen ist?«


Captain Fletcher und Doktor Danalta, deren Neugier bezüglich des Flugobjektes in der Schlucht immer noch ihren Hunger übertraf, hörten Stillman per Kommunikator zu, als dieser nach dem Essen ausführlich auf Murchisons erste Frage einging. Natürlich waren die beiden genauso wieHewlitt bei dem einzigen und aufopferungsvoll geführten Schiffsgefecht des Krieges nicht dabeigewesen – bei der entscheidenden Schlacht um das Orbit Hospital.


»… aus politischen Gründen bezeichnet das Monitorkorps den etlanischen Konflikt nicht als Krieg«, berichtete Stillman weiter, während er den Gürtel des Kilts lockerte, um den Druck auf den Bauch zu entlasten, dessen Umfang sich erst vor kurzem um einiges vergrößert hatte. »Die Tatsache, daß ein fünfzig Planeten umfassendes Imperium, das irgendwo verborgen in einem bis dahin unerforschten galaktischen Sektor steckte, gegen eine völlig unvorbereitete galaktische Föderation einen nicht offiziell erklärten Krieg eröffnen konnte, hätte sich, nun ja, gelinde gesagt, destabilisierend auswirken können und mußte deshalb heruntergespielt werden.


Bis dato hatte es nur einen interstellaren Krieg gegeben, und zwar den zwischen der Erde und dem Planeten Orligia, dessen Beendigung letztlich zur Gründung der galaktischen Föderation führte. Seither gilt es als eine unumstößliche Tatsache, daß ein interstellarer Krieg aus wirtschaftlichen oder territorialen Interessen schon aus rein logistischen und ökonomischen Gründen heraus nicht durchführbar ist. Die Kosten sind schlichtweg zu hoch, und außerdem gibt es unendlich viele unbewohnte Planeten, die nur auf eine Kolonisation warten. Wenn eine kriegerische Bevölkerung oder deren Anführer wahnsinnig genug wären, allein aus blindem Haß heraus zu handeln, dann könnten sie ihren Opferplaneten durch eine Explosion vernichten oder sonstwie dafür sorgen, ihn unbewohnbar zu machen. Doch keine Kultur entwickelt Techniken, um ins Weltall zu gelangen, und noch weniger führt sie erfolgreiche interstellare Kolonisationsprojekte durch, ohne zuvor die Grundregeln der Zivilisation erlernt zu haben – wodurch man ja bekanntlich die Fähigkeit erlangt, einander zu verstehen, zusammenzuarbeiten und in Frieden miteinander zu leben. Also war es für uns selbstverständlich, daß jede neu entdeckte Spezies, die zu Interstellarreisen befähigt war, sowohl zivilisiert, als auch technisch fortgeschritten sein mußte.Dennoch mußte das Monitorkorps damals die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß es sich beim etlanischen Imperium um jene berühmte Ausnahme handelte, welche die Regel bestätigt. Bis wir uns wirklich sicher waren, wurde alles mögliche getan, um die Standorte und Positionen der Raumstationen und Planeten der Föderation vor ihnen zu verbergen und um gleichzeitig so viel wie möglich über ihre Kultur zu erfahren, doch dabei haben wir das wahre Ausmaß der Bedrohung unterschätzt. Das ist auch der Grund, weshalb das Monitorkorps, das polizeiliche Aufgaben wahrnimmt und dem Gesetz der Föderation Geltung verschafft, das aber beileibe keine militärische Einrichtung ist, dieses Ereignis lieber als einen großen Polizeieinsatz betrachtet … «


Naydrads Fell richtete sich vor Wut stachelig auf, als sie zornig fauchte: »Doktor, als sich draußen im All Hunderte mit schweren Geschützen ausgerüstete Schiffe überall um uns herum bekämpften und durch Torpedos und Granaten riesige Brocken aus der Außenwand des Hospitals herausgerissen wurden, da hatte man schon das Gefühl gehabt, daß man sich mitten in einem Krieg befand und nicht bloß Zeuge irgendeines x-beliebigen Aufruhrs war! Sind Sie eigentlich selbst dabeigewesen?«


»O ja«, seufzte Stillman nachdenklich. Unangenehme Erinnerungen schienen in ihm wach zu werden, denn er fuhr in einem ruhigen und ernsten Ton fort: »Ich bin damals Assistenzarzt auf der Vespasian gewesen, und als unser Schiff mit einem etlanischen Transporter zusammengestoßen ist, habe ich dabei geholfen, die Opfer ins Hospital zu schaffen. Als Conway, der damals noch den Rang eines Chefarztes bekleidete, sah, daß ich mir lediglich ein paar blaue Flecken zugezogen hatte, teilte er mir mit, daß sie viel zu wenig Personal hätten, um alle Verletzten versorgen zu können, und setzte mich kurzerhand auf irgendeiner ET-Station ein. Der Übersetzungscomputer des Krankenhauses war außer Funktion, und die Verständigung völlig zusammengebrochen… Nun ja, auch wenn es einem damals wirklich wie ein Krieg vorgekommen sein mochte, so ist dieser Vorfall in den Akten offiziell nur als ein Polizeieinsatz festgehalten worden, der sich gegen organisiert vorgehende, schwerbewaffnete Gesetzesbrecherrichtete.«


In der darauffolgenden Stille blickte Hewlitt von Stillman zu Murchison und dann zu Prilicla, denen man ansehen konnte, wie sehr sie auch noch in der Erinnerung unter diesem gemeinsam geteilten, schrecklichen Erlebnis litten. Zwar fühlte er sich ausgeschlossen, doch war er zum ersten Mal in seinem Leben dankbar dafür, ein Außenseiter zu sein.


Nach einem abrupten Kopfschütteln, erzählte Stillman weiter: »Die eigentlichen Probleme begannen, als einer Ihrer ehemaligen Patienten, ein hochintelligentes Wesen namens Lonvellin, etwas entdeckte, das es als ›den kranken Planeten Etla‹ bezeichnete …«


»Ich bin mit Lonvellins Fall durchaus vertraut«, unterbrach ihn Prilicla. »Er war seinerzeit Patient des damaligen Chefarztes Conway, und als Lonvellin bewußtlos war, assistierte ich bei der Messung der emotionalen Ausstrahlung… Entschuldigen Sie Freund Stillman, bitte fahren Sie fort.«


Nachdem Lonvellin damals aus dem Orbit Hospital entlassen worden war, ging er an Bord seines Raumschiffs und nahm die unterbrochene Suche nach einem Planeten wieder auf, der sich, wie es hieß, in einem bislang unerforschten Abschnitt der Kleinen Magellanschen Wolke befinden sollte und über den ihm sehr beunruhigende Gerüchte zu Ohren gekommen waren. Trotz seiner physiologischen Klassifikation EPLH, des massiven Körpers und der furchterregenden natürlichen Waffen war Lonvellin ein hochintelligentes, zwanghaft altruistisches, äußerst langlebiges und absolut unabhängiges Wesen. Es gab einem sehr deutlich zu verstehen, daß es beim Meistern unangenehmer Situationen, in die es geraten könnte, von niemandem Hilfe brauchte und wahrscheinlich auch niemals brauchen würde, denn schließlich hatte es den größten Teil seines sehr langen Lebens damit verbracht, kranke Planetenzivilisationen zu heilen.


Um so überraschender kam es deshalb für die Leute des Monitorkorps, daß Lonvellin eines Tages mit ihnen Verbindung aufnahm, um ihnen per Hyperraumfunk mitzuteilen, daß er den von ihm gesuchten Planeten endlich gefunden habe und er dringend Hilfe benötige.


Die Verhältnisse, die er auf dem betreffenden Planeten laut eigenerAussage vorgefunden hatte, grenzten sowohl in soziologischer als auch in medizinischer Hinsicht an Barbarei. Was die medizinische Seite anging, brauchte er dringend Unterstützung, bevor er die vielen gesellschaftlichen Krankheiten wirkungsvoll bekämpfen konnte, von denen dieser in jeder Hinsicht wirklich kranke Planet befallen war. Außerdem bat er, ihm einige Angehörige der physiologischen Klassifikation DBDG zu schicken, insbesondere Terrestrier, um diese als eine Art Spione einzusetzen. Die Einheimischen gehörten nämlich derselben Klassifikation an und waren allen fremdartigen Lebensformen gegenüber entsetzlich feindlich gesinnt – ein Umstand, durch den Lonvellins Aktivitäten ganz offensichtlich am meisten behindert wurden.


Lonvellins Bericht zufolge hatte er zunächst den Planeten während mehrerer Umkreisungen beobachtet, wobei er per Translator verschiedene Sender abgehört hatte. Alle Anzeichen deuteten darauf hin, daß dieser Planet, den die Bewohner Etla nannten, früher einmal eine wohlhabende Kolonie gewesen war, die sich durch die Einwirkung vieler verschiedener Krankheiten zurückentwickelt hatte, von denen mehr als fünfundsechzig Prozent der Bevölkerung infiziert waren.


Das Vorhandensein eines kleinen und immer noch betriebsbereiten Raumflughafens bedeutete, daß ihm die erste und gewöhnlich schwierigste Aufgabe eigentlich hätte stark erleichtert werden müssen – nämlich die Einheimischen zu bewegen, einem Alien zu vertrauen, der für sie buchstäblich vom Himmel gefallen war und dessen Anblick sie möglicherweise in Angst und Schrecken versetzt hätte -, da die Bewohner Etlas offenbar darauf eingestellt waren, von außerplanetarischen Wesen Besuch zu erhalten.


Lonvellins Plan war, die Rolle eines nicht besonders aufgeweckten Wesens aus einer anderen Welt zu spielen, das angeblich wegen dringend anstehender Reparaturarbeiten zu einer Notlandung gezwungen worden war. Für die Wiederinstandsetzung seines Raumschiffs wollte er die Etlaner um verschiedene völlig absonderliche und wertlose Reparaturhilfsmittel aus Metalloder Gesteinsresten bitten und so tun, als würde es ihm ungeheuerschwerfallen, den Etlanern verständlich zu machen, was er genau benötigte. Für diesen Ramsch beabsichtigte er, ihnen dann im Austausch äußerst nützliche und wertvolle Gegenstände zu geben, mit denen die etwas findigeren Etlaner schon bald etwas würden anfangen können.


Zwar erwartete Lonvellin, während dieser Phase schamlos ausgebeutet zu werden, das war ihm aber egal, denn seiner Überzeugung nach würde sich die Lage allmählich ändern – anstatt ihnen immer wertvollere Gegenstände zu geben, wollte er ihnen seine noch wertvolleren Dienste anbieten, nämlich als Lehrer zum Beispiel. Danach hatte er vor, sie wissen zu lassen, daß die technischen Voraussetzungen auf Etla nicht ausreichend seien, um das Schiff zu reparieren, und über kurz oder lang würden sich die Einheimischen an den Dauergast gewöhnt haben. Schließlich würde alles nur noch eine Frage der Zeit sein, und davon hatte Lonvellin ja bekanntlich genug.


»…für ein solch extrem langlebiges und hochintelligentes Wesen wie Lonvellin war alles praktisch nichts anderes als ein spannendes Spiel mit variablen Regeln, das er in der Vergangenheit schon viele Male höchst erfolgreich bestritten hatte«, fuhr Stillman fort. »Das Schöne an diesem Spiel war, daß sich alle Beteiligten als Gewinner wähnen konnten; also sowohl die betroffenen Planetenbevölkerungen als auch Lonvellin, da er sich deren Dank sicher sein konnte. Bei dieser Unternehmung hatten sich die Dinge für Lonvellin jedoch in eine völlig falsche, fast fatale Richtung entwickelt. Kaum war er in der Nähe einer Kleinstadt gelandet, war er im Nu durch die notwendig gewordene massive Anwendung verschiedenster Verteidigungstechniken viel zu sehr in Anspruch genommen worden, als daß er irgend etwas anderes hätte unternehmen können…«


Ohne zu wissen, warum diese raumfahrterfahrene Spezies außerplanetarischen Wesen gegenüber derart feindlich gesinnt war, war Lonvellin in dieser Situation ein weiteres Vorgehen unmöglich, und da er zu diesem Zeitpunkt allein nicht mehr weiterwußte, bat er um terrestrische Hilfe. Aufgrund des ungewöhnlich hohen Krankheitsbefalls der Bevölkerung äußerte er außerdem den Wunsch, Chefarzt Conway, der ihneinst im Orbit Hospital behandelte hatte, als Berater mitzuschicken. Kurz darauf traf ein Monitorkreuzer mit Erstkontaktspezialisten und Conway an Bord ein, um sich zunächst einmal ein eigenes Bild von der Lage zu machen und erst dann entsprechend einzugreifen.


Schließlich entschloß sich das Monitorkorps, bei der Kontaktaufnahme mit den Etlanern zwei verschiedene Methoden gleichzeitig anzuwenden. Bei der einen Vorgehensweise rüsteten sich ein paar ausgebildete Linguisten und Ärzte nach einer unbemerkten Landung mit Translatoren aus, die sie unter einheimischer Kleidung verborgen hielten, so daß aufgrund der täuschend echt wirkenden äußerlichen Ähnlichkeit keine weitere Tarnung notwendig war. Probleme mit der Betonung oder der einheimischen Sprechweise wurden gemeistert, indem die Agenten so taten, als hätten sie einen Sprachfehler. Wenn man stotterte oder eine auf Etla durchaus übliche Krankheit im Rachen oder an der Zunge vorschützte, konnte man den Dialekt nämlich kaum identifizieren.


Bei der zweiten Methode landete die Vespasian ganz offen auf dem Raumflughafen. Die Monitore verleugneten auch nicht ihre außerplanetarische Herkunft und gaben den Etlanern per Translator zu verstehen, sie hätten von deren mißlichen Lage gehört und seien gekommen, um ihnen medizinische Hilfe zukommen zu lassen. Die Etlaner hatten sich mit dieser Erklärung abgefunden und ihrerseits den Monitoren offenbart, ihnen seien in der Vergangenheit bereits immer wieder ähnliche Angebote gemacht worden, und obwohl alle zehn Jahre ein, wie sie es nannten, › Schiff des Imperiums ‹ mit den neuesten Medikamenten kommen würde, habe sich der Gesundheitszustand der Bevölkerung ständig verschlechtert. Also wurde das Vorhaben der Monitore, die gesundheitliche Situation auf dem Planeten zu verbessern, zwar begrüßt, aber die Etlaner erweckten den Eindruck, als würden sie das Korps, ohne ihm die positiven Absichten absprechen zu wollen, nicht ganz ernst nehmen. Der Grund dafür war, daß nicht einmal die ständigen medizinischen Hilfsmaßnahmen des eigenen Imperiums, das immerhin fast fünfzig Planeten umfaßte, etwas bewirkt hatten.Bei der Mehrheit der Etlaner handelte es sich um durchaus freundliche, vertrauensvolle Wesen, die, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, bereitwillig über sich und das Imperium Auskunft gaben. Natürlich verhielten sich die Kontaktspezialisten des Korps ebenfalls sehr freundlich, waren aber in ihren Äußerungen zurückhaltender.


Sobald sich das Gespräch aus irgendeinem Anlaß um das so fremdartig und furchterregend aussehende Wesen namens Lonvellin drehte, gaben sich die Monitore völlig ahnungslos und äußerten sich dazu stets nur in höchst gemäßigtem Ton.


Doch die bei weitem wichtigsten Informationen stammten von den Agenten. Diese fanden nämlich schon sehr bald heraus, daß die Etlaner Angst vor Lonvellin hatten, weil man ihnen beigebracht hatte, daß alle außerplanetarischen Wesen Krankheiten übertrügen. Die erste medizinische Lektion, die sämtliche raumreisende Zivilisationen lernen, nämlich daß die Lebensformen des Planeten X nicht von den Krankheitserregern des Planeten Y befallen werden und sich verschiedenartige Spezies generell mit ihren Krankheiten gegenseitig nicht anstecken können, war ihnen also vorenthalten worden.


Und das mit voller Absicht!


»Zumindest war ihre ungeheure und kaum zu bremsende Angst, sich neue Infektionen zuzuziehen, durchaus verständlich, weil Etla ein wirklich furchtbar kranker Planet war«, fuhr Stillman fort. »Damals war Etla eine Kolonie in der siebzehnten Generation, die zwar weiträumig, aber nur dünn besiedelt war und in der seit etwa hundert Jahren Krankheiten grassierten. Zu jener Zeit waren sage und schreibe gut fünfundsechzig Prozent der Frauen, Männer und Kinder von verschiedensten Krankheiten befallen; zumeist handelte es sich um entstellende Leiden oder Gebrechen, die bei den Etlanern Verkrüppelungen oder Mißbildungen hervorriefen, wenngleich sie nur selten lebensbedrohlich waren. Viele der ansteckenden Krankheiten hätten durch die Einrichtung von Isolierstationen und die Verabreichung einfacher Medikamente ausgemerzt werden können, doch bewegte sich der Stand der Medizin auf niedrigstem Niveau, und es gab auch keinerleiForschungseinrichtungen, weil das Imperium sämtliche Aufgaben der Gesundheitsfürsorge für die Etlaner längst übernommen hatte.


Vom medizinischen Standpunkt aus war diese Situation für uns natürlich untragbar, zumal sämtliche Krankheiten, die wir bis dato gesehen hatten, heilbar waren«, setzte Stillman seine Ausführungen fort. »Hätten wir den Planeten zum Katastrophengebiet erklärt, um massive medizinische Hilfe leisten zu können, wäre das Problem binnen weniger Jahre gelöst gewesen, doch die Erstkontaktsituation war äußerst kompliziert. Die Etlaner sind durchaus stolze und selbstbewußte Wesen und verhielten sich damals gegenüber dem Imperator, der auf dem Hauptplaneten Imperial-Etla lebte, völlig loyal und waren ihm und all den anderen Bewohnern des etlanischen Reiches für deren anhaltende Hilfe dankbar. Von Fremden geleistete medizinische Unterstützung wäre unter den gegebenen Umständen von der Bevölkerung als demütigend empfunden worden und hätte von dem offiziellen Repräsentanten des Imperiums und der von ihm befehligten militärischen Streitmacht auf diesem Planeten als eine feindliche Invasion aus dem All mißverstanden werden können… «


Um gegenüber der etlanischen Regierung die guten Absichten der galaktischen Föderation zu beteuern und um herauszufinden, weshalb das Imperium seinen kranken Planeten nur so spärlich und in so großen, wenn auch regelmäßigen Abständen mit medizinischen Hilfsgütern versorgte, wurde ein Monitorschiff mit einem medizinischen Offizier an Bord zum Zentralplaneten geschickt; möglicherweise war den Behörden aufgrund der großen Entfernung das Ausmaß der Notlage der darniederliegenden Kolonie nicht bewußt. Als das unbewaffnete Kurierschiff auf dem Raumflughafen der Hauptstadt nach vorheriger Anmeldung und ohne jede Geheimniskrämerei landete, wurde es sofort von Truppen der imperialen Streitkräfte umstellt.


Die offizielle Begründung für diesen offensichtlich feindseligen Akt lautete, daß man fremdenfeindliche Ausschreitungen von Teilen der einheimischen Bevölkerung befürchte und die Sicherheit der Gäste höchste Priorität genieße. Deshalb sollte auch die Schiffsbesatzung mit Ausnahmedes medizinischen Offiziers an Bord bleiben und jeden Kommunikationsversuch unterlassen, bis die Behörden die psychologischen Barrieren bei einigen der weniger aufgeschlossenen Bürger durchbrochen hätten.


Der Monitorarzt wurde von den Regierungsberatern herzlich willkommen geheißen und sowohl auf gründliche wie auch auf freundliche Art und Weise über sämtliche Aspekte der Föderation befragt, während ihm gleichzeitig Ehren zuteil wurden, wie sie normalerweise nur Regierungschefs bei offiziellen Staatsbesuchen vorbehalten waren. Unterdessen hatte man auf dem Kurierschiff mittels Sensorenmessungen einige äußerst beunruhigende Informationen eingesammelt, die sich in erster Linie um das drehten, was die Sendeanstalten auf Imperial-Etla ganz offen als › Seuchen-Etla‹ bezeichneten. Außerdem stießen die an Bord befindlichen politischen Analytiker des Monitorkorps bei ihren Untersuchungen auf etliche Ungereimtheiten bezüglich der Finanzgebaren sowie der behördlichen Strukturen des etlanischen Imperiums.


Als erstes entdeckten sie, daß der Seuchenplanet, auch wenn er als Reiseziel ganz bestimmt nicht mehr in Betracht kam, längst nicht in Vergessenheit geraten war. So waren an jeder Kreuzung und in regelmäßigen Abständen auch an jeder Landstraße riesige Plakatwände angebracht, auf denen in drastischer und häufig erschreckender Weise auf die entsetzliche Not der Mitbürger auf dem verseuchten Planeten hingewiesen wurde, um so zu Spenden für die Linderung des Leids aufzurufen. Auf sämtlichen Fernsehsendern wurden fortwährend Spendenaufrufe ausgestrahlt, und von den Bewerbern um ein politisches Mandat wurde jede Gelegenheit genutzt, diesen Appell zu wiederholen. Es handelte sich um die am meisten geförderte und populärste Wohlfahrtseinrichtung, und das nicht nur auf Imperial-Etla, sondern auch auf allen anderen Planeten des Imperiums, so daß unaufhörlich und reichlich Spenden flossen.


Deshalb konnte man unmöglich glauben, daß all diese gesammelten Gelder lediglich dazu ausreichen sollten, alle zehn Jahre ein einziges Schiffmit medizinischen Hilfsgütern auf den Weg zu schicken.


Wie dem Monitorkorps bereits bekannt war, wurde die Ladung nach der Ankunft des Schiffs stets sofort gelöscht. Gleich darauf trat man den Rückflug an, weil die Besatzung keine Sekunde länger als unbedingt nötig auf dem Seuchenplaneten bleiben wollte. Anschließend wurde die komplette Fracht zu einem riesigen Anwesen transportiert, das weiträumig von schwerbewaffneten Elitetruppen bewacht wurde. Auf dieser parkähnlichen Anlage befanden sich zahlreiche Kasernen und ein Palast, der von einem gewissen Teltrenn, dem offiziellen Vertreter des Imperiums, bewohnt wurde. Vor den unbewaffneten Kolonisten, die für den Stützpunkt Lebensmittel liefern und rangniedriges Dienstpersonal stellen mußten, wurde diese militärische Präsenz mit einer möglichen Bedrohung aus dem All gerechtfertigt. In Abständen von mehreren Monaten – offenbar bestand kein großer Handlungsbedarf – reiste Teltrenn in die entferntesten Gegenden des Planeten, um die Medikamente höchstpersönlich zu übergeben und vom neuesten Stand der Forschung auf Imperial-Etla sowie von den unablässigen Bemühungen der ortsansässigen Behörden und Institutionen zu berichten.


Natürlich wäre alles sehr viel schneller und wirkungsvoller vonstatten gegangen, wenn man sämtliche medizinischen Institutionen und Ärzte mit dem neuen Material gleichzeitig beliefert hätte, doch bestand Teltrenn auf der persönlichen Übergabe, um den Betroffenen auf diese Weise sowohl seine eigene Betroffenheit kundzutun, als auch die besten Genesungswünsche des glorreichen Imperators zu übermitteln.


Diese mangelnde Einsatzbereitschaft ließ schließlich bei Conway und den anderen Korpsärzten, die bei ihren Forschungen die verschiedenen Seuchenüberträger der letzten Jahrzehnte genau untersucht hatten, einen schrecklichen Verdacht aufkommen. Sie fanden nämlich heraus, daß viele der früheren Seuchen so gut wie ausgerottet waren, weil die Erkrankten und deren Familien im Laufe der Zeit wahrscheinlich eine natürliche Widerstandskraft gegen die Erreger entwickelt hatten. Doch kaum war eine alte Krankheit verschwunden, wurde sie unweigerlich durch eine neueersetzt, die normalerweise von optisch abstoßenden Hautausschlägen, einer Deformierung der Gliedmaßen und einer Art Schüttellähmung begleitet wurde. Dennoch verliefen die meisten Krankheiten gegen jede medizinische Logik nur selten tödlich.


All das ließ nur den einen unglaublichen und beängstigenden Schluß zu, daß Teltrenn, der allseits beliebte und hochgeschätzte Vertreter des Imperiums, ganz bewußt und systematisch für die Ausbreitung von Krankheiten sorgte, anstatt sie zu bekämpfen – und der einzige Grund dafür war Geldgier.


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