6. Kapitel


Der Anblick der Prozession, die sich vom Personalraum aus langsam in Gang setzte, brachte alle anderen Aktivitäten und Unterhaltungen auf der Station zum Stillstand. Angeführt wurde der Zug von Chefarzt Medalont, gefolgt von Oberschwester Leethveeschi, der namenlosen hudlarischen Schwester sowie einem kelgianischen und einem nidianischen Assistenzarzt, die gemeinsam einen mit Schwerkraftneutralisatoren ausgestatteten Schwebewagen lenkten, auf dem sich die Reanimationsausrüstung für sämtliche im Hospital vertretenen Spezies befand. Ein Terrestrier, der die grüne Uniform des Monitorkorps trug, bildete das Schlußlicht. Zwangsläufig mußten sie die ganze Station durchqueren, bevor sie sich in einem Halbkreis um Hewlitts Bett versammelten.


Obwohl er sich nur fünf Stunden zuvor noch in Lebensgefahr befunden hatte, war ihm dadurch weder die Angst vor der Anwesenheit von Extraterrestriern genommen worden, noch hatte es etwas an seiner negativen Grundeinstellung ihnen gegenüber geändert.


»Und was, zum Teufel, haben Sie dieses Mal mit mir vor?« wollte er von Medalont wissen.


»Nichts Besonderes«, antwortete der Chefarzt mit einer Stimme, die auf einen anderen Melfaner möglicherweise hätte beruhigend wirken können. »Keine Sorge, ich will Ihnen nur noch einmal etwas Blut abnehmen. Bitte machen Sie dazu den Oberarm frei.«


Der kelgianische Assistenzarzt blickte seinen nidianischen Kollegen an, wobei sich sein silbriges Fell zu Stacheln aufrichtete. Dann zog er den Reanimationswagen näher heran und fügte hinzu: »Wenn Sie uns nichts tun, Patient Hewlitt, dann werden wir Ihnen auch nichts tun.«


Aufgrund der wenigen und sehr kurzen Gespräche mit dem kelgianischen Patienten aus dem Bett gegenüber wußte Hewlitt, daß die Angehörigen dieser Spezies außerstande waren zu lügen. Durch die ständigen sowohl unterschwelligen als auch ausdrucksstarken Bewegungen des silberfarbenenFells drückten die Kelgianer unwillkürlich ihre Gefühle und Gedanken aus, so daß ein Artgenosse stets wußte, was der andere von ihm hielt. Es handelte sich um eine Art visueller Telepathie, und deshalb kannte und verstand diese Spezies nicht einmal die Bedeutung des Wortes Lüge. Dieselben Probleme hatten sie mit Begriffen wie Takt, Höflichkeit und Diplomatie oder mit dem rücksichtsvollen Verhalten gegenüber Patienten.


Erneut spürte Hewlitt, wie der kleine Metallring gegen seine Haut gedrückt wurde.


»Das Instrument, mit dem ich Ihren Arm gerade berühre, hat eine vertieft sitzende, sehr feine und kurze Nadel, deren Einstich Sie nicht spüren werden, und eine zweite Nadel, die länger und etwas dicker ist«, informierte ihn Medalont. »Mit der ersten injiziere ich Ihnen ein lokales Betäubungsmittel, das die unteren Nervenstränge desensibilisiert, und mit der zweiten entnehme ich Ihnen das Blut. Sehen Sie? Das war's schon. Danke sehr, Patient Hewlitt. Wie fühlen Sie sich?«


»Gut«, antwortete Hewlitt. »Wie sollte ich mich denn Ihrer Ansicht nach fühlen?«


Medalont ignorierte die Frage und sagte: »Spüren Sie irgendwelche Veränderungen, auch wenn es sich dabei nur um sehr leichte handelt?«


»Nein«, antwortete Hewlitt.


»Merken Sie irgendeinen unangenehmen Druck in der Brust oder vielleicht in den Armen? Haben Sie Atembeschwerden? Spüren Sie ein Kribbeln oder einen Gefühlsverlust in den Gliedmaßen? Haben Sie Kopfschmerzen?«


»Nein, nichts dergleichen«, sagte Hewlitt. »Die Stelle, an der Sie das Blut abgenommen haben, fühlt sich nur etwas taub an. So, wie beim letzten Mal.«


»Falls die von mir eben genannten Symptome auch nur ansatzweise auftreten, könnten sie bereits eine Vorwarnung sein«, klärte ihn Medalont auf. »Sie können sogar derart schwach auftreten, daß Sie eher das Gefühl hätten, sich alles nur einzubilden.«»Soweit ich weiß, habe ich derzeit keine schwachen Symptome und erst recht keine eingebildeten«, meinte Hewlitt, wobei es ihm nur mit Mühe gelang, seine Wut zu unterdrücken.


Der Terrestrier in der grünen Uniform grinste kurz, besann sich aber wieder schnell darauf, lieber nichts zu sagen und keine Regung zu zeigen.


»Haben Sie irgendwelche psychischen Probleme?« hakte Medalont nach. »Sorgen oder Ängste vielleicht, die ab einem gewissen Punkt durchaus physischen Stress verursachen können. Nun, ich merke zwar, daß ich mich gerade auf Lieutenant Braithwaites Territorium begebe, aber … «


»Das tun Sie allerdings«, fuhr der uniformierte Mann dazwischen, der sich nun zum ersten Mal zu Wort meldete. »Aber nur zu, schließlich machen das alle hier.«


Bevor der Chefarzt antworten konnte, sagte Hewlitt: »Wenn Sie damit meinen, ob ich mir Sorgen mache, dann kann ich Ihnen versichern, daß ich mir sogar große Sorgen mache. Ich hatte noch nie einen Herzanfall gehabt, bevor ich hier ins Orbit Hospital gebracht wurde. Trotzdem glaube ich nicht, daß es mir so schlecht geht, um vor lauter Angst einen zweiten zu erleiden.«


»Hatten Sie denn Angstzustände, bevor Sie den ersten bekommen haben?« erkundigte sich Medalont.


»Nein, ich war nur etwas übermüdet, ansonsten aber völlig entspannt«, erwiderte Hewlitt. »Im Moment sitzt mir allerdings der Schrecken immer noch in den Gliedern.«


»Wir werden es nicht zulassen, daß Ihnen so etwas noch einmal zustößt«, sprach ihm Medalont Mut zu. »Sie brauchen sich also wirklich keine Sorgen zu machen.«


Plötzlich trat ein Schweigen ein, das eine Ewigkeit zu dauern schien. Leethveeschis Körper pulsierte langsam in der Chlorhülle, die Sprechmembran der Hudlarerin blieb still, das Fell des Kelgianers machte wellenartige Bewegungen, als ob ein heftiger Wind wehen würde, während sein nidianischer Kollege die Gerätschaften auf dem Schwebewagenkontrollierte und sich Medalonts Zangen wie ein leises organisches Metronom regelmäßig öffneten und wieder schlossen. Der Chefarzt unterbrach als erster die Stille.


»Oberschwester Leethveeschi, bitte sagen Sie mir noch einmal, wieviel Zeit schätzungsweise von der ersten Blutabnahme, die ich durchgeführt habe, bis zur Auslösung des Alarms verstrichen ist, und wann der nachfolgende Anfall eintrat.«


»Aus Rücksicht auf die Gefühle des Patienten, der etwas von


medizinischer Nomenklatur zu verstehen scheint, würde ich es für


angebrachter halten, wenn wir ihm diese Informationen vorenthalten«, schlug Leethveeschi vor.


»Und ich hoffe, daß der Patient durch genaue Aufklärung vielleicht in der Lage sein wird, selbst etwas Licht in das Dunkel seines Zustands zu bringen«, widersprach Medalont entschieden. »Fahren Sie also fort, Oberschwester.«


»Ungefähr zwölfeinhalb Minuten nachdem Sie dem Patienten Blut abgenommen haben und gegangen sind«, begann Leethveeschi in einem Ton, der so ätzend wie das Chlor war, das sie einatmete, »lösten die Sensordaten des Patienten den Alarm aus. Bereits zehn Sekunden später gab er keinerlei Lebenszeichen mehr von sich, und die sensorische Reaktion sowie die Gehirntätigkeit standen unverkennbar kurz vor dem Stillstand. Da sich das Pflegepersonal außerhalb der Station befand und voll und ganz mit den Vorbereitungen für die Essensausteilung beschäftigt war, entschied ich mich, die anderen nicht zu informieren, um keine Zeit zu verlieren. In Anbetracht des bis zu diesem Zeitpunkt stabilen Gesundheitszustands des Patienten, hatte ich eher eine Fehlfunktion der Überwachungsgeräte als einen Herzstillstand erwartet. Als ich beim Patienten ankam, habe ich sofort eine Herzmassage eingeleitet. Vierzig Sekunden später verlor er das Bewußtsein und blieb in diesem Zustand, bis der Rettungstrupp sechs Minuten und fünfzehn Sekunden später eintraf.«


»Sind Sie sich dessen wirklich sicher, Schwester?« stutzte Medalont. »Oder könnte es sein, daß Sie aufgrund subjektiver Faktoren in derAufregung ein wenig übertrieben haben? Ich meine, haben die wirklich sechs Minuten gebraucht? Keine gute Reaktionszeit.«


»Patient Hewlitt zeigte ebenfalls keine Reaktion«, fuhr Leethveeschi fort, »und ich habe die ganze Zeit auf die Uhr gesehen, während ich versuchte, ihn wiederzubeleben. Die Stationsuhr neigt eigentlich selten zu Übertreibungen.«


»Die Oberschwester hat recht und Sie auch, Doktor«, meldete sich der nidianische Assistenzarzt zu Wort, wobei er seinem Kollegen einen kurzen Seitenblick zuwarf. »Normalerweise müßte man das als eine unentschuldbar langsame Reaktionszeit ansehen, aber wir hatten unterwegs einen Unfall. Wir sind beim Eintreffen auf der Station mit einem Essenswagen zusammengestoßen, dessen Bedienungspersonal zwar sofort auswich, als es unsere Blinklichter sah, aber den Essenswagen einfach mitten im Weg stehen ließ. Zwar gab es keine Verletzten, aber das ganze Essen flog durch die Station und verteilte sich überall auf den in der Nähe stehenden Betten… «


»Patient Hewlitt hat sich einen ungelegenen Zeitpunkt für den Herzstillstand ausgesucht«, warf der kelgianische Assistenzarzt ein.


»… und uns gingen einige Minuten verloren, weil wir überprüfen mußten, ob die Geräte keinen Schaden genommen hatten«, fuhr der nidianische Arzt fort. »Ein Stromstoß, der das Herz eines Tralthaners wieder in Gang setzt, würde das eines Terrestriers zum Kochen bringen…«


»Jaja, ist ja gut«, winkte Medalont ungeduldig ab. »Jedenfalls haben Sie nach gut sechs Minuten den Patienten wiederbelebt. Haben Sie irgendwelche Anzeichen geistiger oder sprachlicher Verwirrung beim Patienten beobachtet, als er das Bewußtsein wiedererlangte?«


»Nein, nichts dergleichen«, antwortete der Nidianer. »Wir haben den Patienten gar nicht reanimiert, das muß Oberschwester Leethveeschi getan haben, noch bevor wir die Schläuche anschließen konnten. Der Patient schien in keiner Weise verwirrt zu sein. Als erstes forderte er die Oberschwester auf, sie solle damit aufhören, ihm auf den Brustkorb zu drücken, oder sie würde ihm noch die Rippen brechen. Seine Wortwahlwar ausgesprochen schlüssig, wohldurchdacht und klar und deutlich, wenn auch nicht besonders respektvoll.«


»Sie müssen schon entschuldigen, aber ich war die ganze Zeit davon ausgegangen, der Patient wäre durch Ihre Geräte zurückgeholt worden«, merkte Medalont an. »Sehr gute Arbeit, Oberschwester Leethveeschi. Ich hoffe nur, der Patient hat sich Ihnen gegenüber nicht zu respektlos verhalten.«


»Ach, ich habe schon weit Schlimmeres über mich ergehen lassen müssen«, erwiderte Leethveeschi ruhig. »Außerdem habe ich mich durch seine Reaktion eher erleichtert als beleidigt gefühlt.«


»Das kann ich gut verstehen«, pflichtete ihr der Chefarzt bei und bat dann den Nidianer, mit dem Bericht fortzufahren.


»Als klar war, daß Patient Hewlitt wieder bei vollem Bewußtsein war, haben wir ihm gemeinsam mit Oberschwester Leethveeschi gezielt ein paar Fragen gestellt, um herauszufinden, ob seine Gehirntätigkeit in Mitleidenschaft gezogen worden war. Wie Sie wissen, waren wir immer noch dabei, als Sie auf die Station zurückgekehrt sind, um ihm noch mehr dieser Fragen zu stellen. Den Rest kennen Sie ja.«


Medalont überlegte eine Weile, dann sagte er: »Und selbst nach dieser zweistündigen Befragung waren weder Gedächtnis- oder Redefunktionsstörungen noch physische Koordinationsschwierigkeiten festzustellen, und Patient Hewlitts Sensorenmeßgerät zeigte optimale Werte für sämtliche Körperfunktionen an, genauso wie in diesem Augenblick.«


»Aber jetzt sind wir schon viereinhalb Minuten über der Zeit, die zwischen der ersten Blutabnahme und dem Einsetzen des Herzstillstandes lag«, stellte Leethveeschi mit einer ebenso feucht plätschernden wie schlaffen Geste in Richtung der Stationsuhr fest.


Während der regen Unterhaltung des medizinischen Personals hatte Hewlitt die ganze Zeit darüber nachzudenken versucht, wie er sich bei der Oberschwester zum einen entschuldigen und zum anderen dafür bedanken könnte, daß sie ihm das Leben gerettet hatte, aber durch das, was dieseabscheuliche Kreatur gerade von sich gegeben hatte, waren sämtliche Gefühle der Dankbarkeit bei ihm wie weggeblasen.


»Was wird hier eigentlich gespielt?« platzte er heraus. »Stehen Sie hier alle bloß dumm herum, und warten Sie darauf, daß ich noch so einen verfluchten Herzanfall kriege? Oder sind Sie sogar enttäuscht, daß noch nichts in dieser Richtung passiert ist?«


Einen Augenblick lang herrschte absolute Stille, und mit Ausnahme der hudlarischen Schwester, die einen Tentakel auf Hewlitt zubewegte, ihn aber gleich darauf wieder zurückzog, rührte sich auch nichts.


»Wir sind alles andere als enttäuscht, Patient Hewlitt«, versicherte ihm schließlich Medalont und fügte einschränkend hinzu: »Wenngleich Ihre Einschätzung der Situation völlig korrekt ist. Der Herzstillstand muß durch etwas ausgelöst worden sein, und es besteht durchaus die Möglichkeit, wenn auch zugegebenermaßen nur eine sehr geringe, daß die von mir vorgenommene Blutentnahme dafür verantwortlich war. Obwohl Sie eigentlich keine Medikamente erhalten sollten, habe ich nicht daran gedacht, daß vor der Blutentnahme eine winzige Menge des Lokalanästhetikums routinemäßig injiziert wird, damit der Eingriff schmerzfrei erfolgt. Die genauen Zeitabläufe und äußeren Umstände haben wir mittlerweile nachvollzogen, bisher jedoch ohne Ergebnis, und das bedeutet, daß wir woanders nach der Ursache suchen müssen. Es sei denn… Sie bekommen übrigens wieder etwas mehr Farbe im Gesicht, Patient Hewlitt. Wie fühlen Sie sich jetzt?«


Wie ich mich fühle? Am liebsten würde ich dich auf der Stelle erwürgen, du Pfeife! fluchte Hewlitt in Gedanken und sagte dann laut: »Gut, Doktor.«


»Das bestätigen auch die Meßdaten«, merkte Leethveeschi an.


»In dem Fall sorgen Sie bitte dafür, daß die Überwachung durch das Sensorenmeßgerät aufrechterhalten wird und daß sich das Reanimationsteam in Reichweite aufhält, damit es innerhalb von zwei Minuten reagieren kann«, ordnete Medalont an, wobei er einen nach dem anderen ansah. »Und kümmern Sie sich darum, daß sich der Patient ersteinmal sammelt, bevor er die nächste Mahlzeit zu sich nimmt. Haben Sie keine Angst, Patient Hewlitt, was immer Ihnen auch fehlt, wir werden es herausfinden und dafür sorgen, daß Sie wieder gesund werden. Aber jetzt lassen wir Sie erst einmal allein.«


»Nicht ganz allein«, widersprach Braithwaite. »Ich würde nämlich gern mit dem Patienten noch ein paar Worte wechseln.«


»Wie Sie wünschen, Lieutenant«, willigte der Chefarzt ein, bevor er und die beiden Assistenzärzte sich zurückzogen. Leethveeschi und die hudlarische Schwester verweilten noch am Bett.


»Sie sollten sich davor hüten, etwas zu unternehmen, was unseren Patienten beunruhigen könnte!« ermahnte die Illensanerin Lieutenant Braithwaite in dem typisch autoritären Ton einer Oberschwester. »Und Sie sollten auch nichts fragen oder sagen, was möglicherweise einen weiteren Notfall auslösen könnte.«


Lieutenant Braithwaite blickte abwechselnd die erboste Chloratmerin und die klotzige, extrem kräftige Gestalt der Hudlarerin an und entgegnete dann lächelnd: »Ich kann Ihnen beiden versichern, daß ich das niemals wagen würde.«


Als sie allein waren, setzte er sich auf die Bettkante. »Mein Name ist Braithwaite, und ich bin von der Abteilung für ET-Psychologie«, stellte er sich Hewlitt vor. »Für mich ist es eine nette Abwechslung, mal mit jemandem reden zu dürfen, der die normale Anzahl an Gliedmaßen und sonstigen Organen hat.«


Hewlitt hatte immer noch das Gefühl, als würde er am liebsten jemanden erwürgen oder wenigstens verbal angreifen, aber dieser Typ hatte nichts gesagt oder getan, was ihn zu einem geeigneten Kandidaten seiner Rachegelüste gemacht hätte. Noch nicht. Deshalb ignorierte er den Psychologen einfach und ließ seinen Blick über die Station in Richtung des Personalraums schweifen, bis er auf Leethveeschis Gestalt haftenblieb.


»Woran denken Sie gerade?« erkundigte sich Braithwaite, als die Stille unangenehm zu werden begann, und fügte gleich darauf lächelnd hinzu: »Istdas die Art Frage, die Sie von mir erwartet haben?«


»Im Gegensatz zu den anderen haben Sie mich nicht mit Patient Hewlitt angesprochen«, antwortete Hewlitt und blickte den Psychologen mißtrauisch an. »Haben Sie das bewußt gemacht, oder weil Sie nicht glauben, daß mir etwas fehlt und ich deshalb kein richtiger Patient bin? Oder haben Sie meinen Namen vergessen?«


»Sie müssen mich auch nicht Lieutenant oder Braithwaite nennen«, antwortete der Psychologe, und erneut trat Schweigen ein.


»Also gut, ich werde Ihre Frage beantworten«, gab sich Hewlitt schließlich geschlagen. »Ich denke an diese grauenhafte Oberschwester und überlege, wie ich mich bei ihr dafür entschuldigen kann, daß ich sie falsch eingeschätzt habe, und wie ich mich bedanken kann, daß sie mir das Leben gerettet hat.«


Braithwaite nickte. »Ich würde sagen, daß Sie bereits die richtigen Worte gefunden haben, und alles, was sie tun sollten, ist, es Leethveeschi genauso zu erzählen, wie Sie es eben mir erzählt haben.«


Aus irgendeinem Grund fiel es Hewlitt schwer, seine Wut diesem Mann gegenüber aufrechtzuerhalten. »Sie sind hier, um mir klarzumachen oder mich davon zu überzeugen, daß meine ganzen Probleme rein psychischer Natur sind. Das ist mir schon oft passiert. Von frühester Jugend an hat man versucht, mir diesen Unsinn einzureden. Also lassen Sie uns keine Zeit mehr damit vergeuden, uns gegenseitig Nettigkeiten an den Kopf zu werfen.«


»Das habe ich auch überhaupt nicht vor«, widersprach Braithwaite, wobei er auf der Bettkante das Gewicht verlagerte und so eng heranrückte, daß er sich mit einem Arm über Hewlitts Oberschenkel hinweg abstützen mußte. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich hier sitze? Oder wäre es Ihnen lieber, wenn ich mich wieder zurücksetze oder aufstehe?«


»Ich fürchte mich nur vor Extraterrestriern, wenn sie mir zu nahe kommen«, antwortete Hewlitt. »Passen Sie nur auf, daß Sie sich nicht auf meine Beine setzen.«


Braithwaite nickte. Hewlitts Anwort auf die höfliche und scheinbarunschuldige Frage machte deutlich, daß ihn die Nähe eines Terrestriers nicht ängstigte. Diese Tatsache war für die psychologische Arbeit sehr nützlich, weil dadurch ein möglicher Problembereich bereits ausgeschlossen wurde. Durch jahrelange Erfahrung wußte Hewlitt, was der Lieutenant vorhatte, und der wiederum war wahrscheinlich intelligent genug, um zu wissen, daß er von seinem Patienten durchschaut wurde.


»Wir beide wissen, daß Ihr Fall kompliziert ist«, fuhr Braithwaite fort und schielte dabei auf Hewlitts Sensorenmeßgerät. »Sie machen den Eindruck, völlig gesund zu sein, obwohl Sie unter einer periodisch auftretenden und unerklärlichen Krankheit leiden, die sogar, sollte der Herzstillstand ein Symptom sein, lebensgefährlich ist. Wir wissen auch, daß sich eine ernste körperliche Erkrankung entsprechend auf die Psyche auswirken kann und umgekehrt, selbst wenn zunächst einmal keine offensichtliche Verbindung erkennbar ist. Ich möchte gern diese Verbindung finden und identifizieren, falls es überhaupt eine gibt.«


Braithwaite wartete, bis Hewlitt schließlich argwöhnisch nickte, bevor er weitererzählte: »Normalerweise wird jemand in dieses Krankenhaus eingeliefert, weil er, sie oder es krank oder verletzt ist. Das Problem und die klinische Behandlung stehen zumeist von Anfang an fest, und die hier beschäftigten Ärzte können die Einrichtungen des führenden Krankenhauses der Föderation nutzen, um die Patienten zu behandeln und sie in den meisten Fällen wieder gesund nach Hause zu schicken. Wenn dem Problem allerdings eine psychologische Komponente zugrunde liegt, dann muß man eben… «


»… darüber reden«, beendete Hewlitt den Satz.


»Richtig, wobei es mir als Psychologen allerdings besser zu Gesicht steht, wenn ich zuhöre«, schränkte Braithwaite ein. »Deshalb hoffe ich auch, daß Sie gleich das Reden übernehmen. Sie sollten damit beginnen, alle ungewöhnlichen Begebenheiten oder Umstände zu beschreiben, an die Sie sich erinnern können, bevor die ersten Beschwerden auftraten. Erzählen Sie mir, wie Sie als Kind damals über Ihre Situation gedacht haben, und nicht, wie sich Ihre Ärzte und Angehörigen später darüber geäußert haben. Also,nur zu, Sie erzählen, und ich höre zu.«


»Sie wollen, daß ich Ihnen alles über den Zeitraum berichte, in dem ich nicht krank war?« hakte Hewlitt nach. Dann deutete er mit einem Nicken in Richtung der Küche, aus der die mit Essenstabletts beladenen Servierwagen auftauchten, und fügte hinzu: »Dafür haben wir leider keine Zeit mehr… es gibt jetzt nämlich Mittagessen.«


Braithwaite seufzte. »Ich möchte dieses Gespräch so schnell wie möglich mit Ihnen zu Ende führen, falls Medalont, der für Sie verantwortlich ist, nichts dagegen hat. Würden Sie mir einen Gefallen tun und für mich ein Essen mit bestellen? Nichts Spezielles, mir reicht es völlig, wenn ich das kriege, was man Ihnen bringt.«


»Aber Sie sind doch kein Patient«, entgegnete Hewlitt verdutzt. »Gestern habe ich zum Beispiel gehört, wie Leethveeschi zu einem Assistenzarzt gesagt hat, er solle gefälligst kein fauler Scrassug sein, was auch immer das sein mag, und zur Personalkantine gehen, anstatt sich das Essen aus der Stationsküche zu stibitzen. Deshalb glaube ich auch nicht, daß die Oberschwester so etwas erlauben wird.«


»Keine Sorge, die Oberschwester wird's bestimmt erlauben, wenn Sie sie erst einmal darum bitten, mit Ihr über eine persönliche Angelegenheit zu sprechen, die Ihrer Meinung nach wichtig ist«, versicherte ihm der Lieutenant. »Nach dem medizinischen Drama vor fünf Stunden wird sie es nicht riskieren wollen, Ihnen diesen Wunsch abzuschlagen. Wenn sie dann kommt, sagen Sie ihr das, was Sie ihr schon die ganze Zeit sagen wollten; daß es Ihnen nämlich leid tut, sie falsch eingeschätzt zu haben, und Sie ihr dankbar sind, daß sie Ihnen das Leben gerettet hat. Danach erzählen Sie ihr, Sie hätten das Gefühl, unser Gespräch könne wichtig für Ihren Gesundheitszustand sein, und ob es möglich wäre, noch eine zweite DBDG-Mahlzeit für mich zu bestellen, um die Unterhaltung ohne Unterbrechung fortführen zu können.


Illensaner erhalten eine Menge Komplimente vom Klinikpersonal, weil sie sehr gute Arbeit leisten«, fuhr Braithwaite fort. »Allerdings weniger von den Patienten, weil diese sich nur selten lange genug hier aufhalten, um dieguten Seiten an diesen Wesen schätzen zu lernen. Das liegt sicherlich daran, daß Illensaner der einzigen chloratmenden Spezies angehören, die darüber hinaus allgemein als die häßlichste der Föderation angesehen wird. Wenn Sie das machen, was ich Ihnen gesagt habe, wird Leethveeschi viel zu überrascht und zu geschmeichelt sein, um Ihnen noch irgendeinen Wunsch abschlagen zu können.«


Hewlitt schwieg einen Augenblick lang, ehe er antwortete: »Lieutenant, Sie sind ein egoistischer, hinterhältiger und berechnender Mist… ahm… ein hundsgemeiner Scrassug.«


»Natürlich, schließlich bin ich Psychologe«, stimmte ihm Braithwaite grinsend zu.


Allein bei dem Gedanken, diese grauenvolle Leethveeschi an sein Bett rufen zu müssen, geriet Hewlitt ins Schwitzen. »Zwar habe ich schon selbst darüber nachgedacht, ihr so etwas in der Richtung zu sagen, aber erst später«, wehrte er sich. »Ich brauche noch etwas mehr Zeit, um das nervlich zu verkraften.«


Braithwaite schüttelte lächelnd den Kopf und deutete mit aufforderndem Blick auf den Kommunikator.


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