JON

Sie konnten das Feuer in der Nacht sehen, wie es an den Hängen des Berges leuchtete wie ein abgestürzter Stern. Es brannte röter als die anderen Sterne und flackerte nicht, obwohl es manchmal hell aufflammte und dann wieder zu einem fernen, schwachen Funken verglomm.

Eine halbe Meile vor uns, und etwa siebenhundert Meter höher, schätzte Jon. Ein perfekter Ort, um den Pass unten zu bewachen.

»Wächter im Klagenden Pass«, sagte der Älteste unter ihnen. Im Frühling seiner Jugend war er Knappe eines Königs gewesen, und noch immer nannten ihn die schwarzen Brüder Knappe Dalbrück. »Wovor fürchtet sich Manke Rayder, frage ich mich?«

»Wenn er wüsste, dass sie ein Feuer angezündet haben, würde er den armen Schweinen die Haut abziehen«, bemerkte Ebben, ein gedrungener, glatzköpfiger Kerl mit Muskeln wie Steinblöcke.

»Das Feuer dort oben bedeutet Leben«, meinte Qhorin Halbhand, »kann aber genauso gut den Tod bringen.« Auf seinen Befehl hin hatten sie kein Feuer zu entzünden gewagt, seit sie in die Berge vorgedrungen waren. Sie aßen kaltes Salzfleisch, hartes Brot und noch härteren Käse, schliefen zusammen unter Stapeln von Mänteln und Fellen und waren dankbar für die Wärme der anderen. Jon fühlte sich an längst vergangene kalte Nächte auf Winterfell erinnert, wenn er das Bett mit seinen Brüdern geteilt hatte. Die Männer waren ebenfalls Brüder, doch das Bett, das sie teilten, bestand aus Stein und Erde.

»Sie werden ein Horn haben«, vermutete Steinschlange.

Halbhand sagte: »Ein Horn, das sie auf keinen Fall blasen dürfen.«

»Das wäre bei Nacht ein langer, grausamer Aufstieg«, sagte Ebben, während er durch eine Spalte in den Felsen, die sie verbargen, zu dem hellen Funken hinaufsah. Am Himmel zeigte sich keine Wolke, die zerklüfteten Berge erhoben sich schwarz in die Höhe bis zu den Gipfeln, deren von Schnee und Eis gekrönte Spitzen im Mondlicht bleich leuchteten.

»Und ein noch längerer Fall«, erwiderte Qhorin Halbhand. »Zwei Männer, würde ich sagen. Vermutlich sind sie zu zweit, um sich bei der Wache abzuwechseln.«

»Ich.« Der Grenzer mit Namen Steinschlange hatte bereits unter Beweis gestellt, dass er der beste Kletterer war. Daran bestand kein Zweifel.

»Und ich«, sagte Jon Schnee.

Qhorin Halbhand sah ihn an. Jon hörte das Klagen des Windes, der durch den Pass über ihnen pfiff. Eines der kleinen Pferde wieherte und stampfte mit dem Huf auf den steinigen Boden der flachen Senke, in der sie Schutz gesucht hatten. »Der Wolf bleibt bei uns«, bestimmte Qhorin. »Weißes Fell sieht man zu leicht im Mondlicht.« Er wandte sich an Steinschlange. »Wenn es erledigt ist, werft ein Stück brennendes Holz herunter. Dann folgen wir euch.«

»Am besten machen wir uns gleich auf den Weg«, meinte Steinschlange.

Jeder nahm ein langes, aufgewickeltes Seil. Steinschlange trug dazu einen Beutel mit Eisennägeln und einen kleinen Hammer, dessen Kopf dick mit Filz umwickelt war. Ihre Pferde ließen sie zurück, ebenso ihre Helme, die Kettenhemden und Geist. Jon kniete sich vor den Schattenwolf und drückte ihn, bevor sie aufbrachen. »Bleib hier«, befahl er. »Ich komme bald zurück.«

Steinschlange übernahm die Führung. Er war ein kleiner, drahtiger Mann, der sich den Fünfzig näherte und einen grauen Bart hatte, doch er war stärker, als es den Anschein hatte und besaß ungewöhnlich gute Augen. Heute Nacht würde er sie brauchen. Bei Tage waren die Berge graublau und mit Reif bedeckt, doch nachdem die Sonne erst einmal hinter den zerklüfteten Gipfeln verschwunden war, wurden sie schwarz. Jetzt rahmte der aufgehende Mond sie mit silberweißem Saum.

Die schwarzen Brüder bewegten sich inmitten schwarzer Felsen durch schwarze Schatten und arbeiteten sich einen steilen, gewundenen Pfad hinauf, während ihr Atem in der schwarzen Luft dampfte. Jon fühlte sich ohne sein Kettenhemd fast nackt, obwohl er das Gewicht nicht vermisste. Mühselig und langsam ging es voran. Wenn man sich hier zu sehr beeilte, riskierte man leicht einen gebrochenen Knöchel oder Schlimmeres. Steinschlange schien fast instinktiv zu wissen, wohin er die Füße setzte, Jon jedoch musste auf dem rauen, unebenen Grund genau aufpassen.

Der Klagende Pass war eigentlich eine Folge von mehreren Pässen, eine lange, verschlungene Strecke, die um eisige, windumtoste Gipfel hinauf- und durch versteckte Täler, welche die Sonne selten zu Gesicht bekamen, wieder hinunterführte. Außer seinen Gefährten hatte Jon keine Menschenseele mehr gesehen, seit sie die Wälder hinter sich gelassen und den Aufstieg begonnen hatten. Die Frostfänge waren so unwirtlich wie kaum ein anderer Ort, den die Götter geschaffen hatten, und stellten sich ihnen feindselig entgegen. Der Wind schnitt wie ein Messer ins Fleisch und klagte des Nachts wie eine Mutter, die um ihre erschlagenen Kinder trauert. Die wenigen Bäume hier oben waren verkümmert, groteske Gebilde, die seitlich aus Rissen und Spalten wuchsen. Über den Weg hingen oft Felsvorsprünge, die mit Eiszapfen gesäumt waren, die von weitem wie lange weiße Zähne aussahen.

Dennoch tat es Jon nicht leid, dass er mitgekommen war. Überall gab es Wunder zu bestaunen. Sonnenlicht blitzte auf eisigen, dünnen Wasserfällen, die über hohe Felswände herabstürzten, und auf einer Bergwiese wuchsen die wilden Blumen des Herbstes, blaue Kaltschnapper, helle scharlachrote Frostfeuer und große Büschel aus rotbraunem und goldenem Pfeifergras. Jon hatte in tiefe, dunkle Schluchten gespäht, die nur in irgendeiner Hölle enden konnten, und er war mit seinem kleinen Pferd über eine vom Wind zerklüftete natürliche Felsbrücke geritten, wo er auf beiden Seiten nur noch den Himmel neben sich gehabt hatte. Adler nisteten in den Höhen und stießen herab, um in den Tälern zu jagen, sie zogen ohne Mühe auf den großen blaugrauen Schwingen ihre Kreise und waren beinahe mit dem Himmel verschmolzen. Einmal hatte er sogar eine Schattenkatze gesehen, die sich an ein Bergschaf anpirschte und wie flüssiger Rauch den Hang hinunterkroch, bis der richtige Augenblick zum Zuschlagen gekommen war.

Jetzt sind wir diejenigen, die zuschlagen. Jon wünschte nur, er könnte sich ebenso sicher und leise bewegen wie die Schattenkatze und ebenso schnell töten. Langklaue steckte in der Scheide auf seinem Rücken, doch vielleicht würde er keinen Platz haben, um es zu benutzen. Er trug einen Dolch und ein Messer für den Nahkampf bei sich. Sie werden auch Waffen haben, und ich trage keine Rüstung. Er fragte sich, wer sich am Ende der Nacht als Schattenkatze erweisen würde und wer als Bergschaf.

Lange Zeit blieben sie auf dem Weg und folgten seinen Windungen entlang der Steilhänge. Aufwärts, immer nur aufwärts ging es. Manchmal schoben sich die Berge vor, und sie verloren das Feuer aus den Augen, doch früher oder später tauchte es wieder auf. Der Pfad, den Steinschlange wählte, wäre für Pferde nicht begehbar gewesen. An manchen Stellen musste Jon den Rücken an den kalten Stein drücken und seitlich wie eine Krabbe Zoll um Zoll vorrücken. Selbst an den Stellen, wo der Pfad breiter war, war er verräterisch; es gab Risse, die so breit waren, dass das Bein eines Mannes darin verschwinden konnte, Geröll, über das man stolpern konnte, Hohlräume, in denen am Tag Wasser stand, die nachts jedoch mit Eis gefüllt waren. Ein Schritt nach dem anderen, machte er sich Mut. Ein Schritt nach dem anderen, dann stürze ich nicht ab.

Seit ihrem Aufbruch von der Faust der Ersten Menschen hatte er sich nicht mehr rasiert, und die Haare auf seiner Oberlippe waren bald steifgefroren. Nach zwei Stunden Kletterei nahm der Wind plötzlich so stark zu, dass Jon sich nur niederkauern, an den Felsen klammern und hoffen konnte, er würde nicht davongeweht. Ein Schritt nach dem anderen, redete er sich ein, nachdem die Sturmböe nachgelassen hatte. Ein Schritt nach dem anderen, dann stürze ich nicht ab.

Bald waren sie so hoch, dass es besser war, nicht hinunterzuschauen. Unter ihnen gähnte doch nur Schwärze, über ihnen gab es nur Mond und Sterne. »Der Berg ist deine Mutter«, hatte Steinschlange ihm während einer leichteren Kletterpartie vor ein paar Tagen erklärt. »Klammere dich an sie, drück dein Gesicht an ihre Brust, dann wird sie dich nicht fallen lassen.« Jon hatte scherzhaft gesagt, er habe sich schon immer gefragt, wer seine Mutter sei, doch er hätte niemals gedacht, sie in den Frostfängen zu finden. Inzwischen fand er es nicht mehr so lustig. Ein Schritt nach dem anderen, mahnte er sich abermals und klammerte sich fest.

Plötzlich endete der schmale Pfad an einem dunklen Granitvorsprung, der aus der Bergseite ragte. Nach dem hellen Mondschein wirkte der Schatten des Vorsprungs so schwarz, dass er das Gefühl hatte, er betrete eine Höhle. »Hier hoch«, sagte der Grenzer leise. »Wir wollen höher als sie kommen.« Er zog seine Handschuhe aus, schob sie in den Gürtel und band sich ein Ende seines Seils um die Hüften und das andere um Jon. »Komm nach, wenn das Seil straff ist.« Der Grenzer wartete keine Antwort ab, sondern kletterte sofort los; er bewegte sich mit Fingern und Zehen schneller aufwärts, als Jon glauben mochte. Das lange Seil wickelte sich langsam ab. Jon beobachtete Steinschlange genau und merkte sich, wo der Mann Halt fand. Nachdem das Seil straff geworden war, zog er ebenfalls die Handschuhe aus und folgte, wenngleich wesentlich langsamer.

Steinschlange hatte das Seil um eine glatte Felsspitze geschlungen, auf der er saß und wartete, doch sobald Jon ihn erreichte, löste er die Schlinge und machte sich abermals auf den Weg. Diesmal fand er keinen so geeigneten Platz, als das Seil zu Ende war, daher holte er seinen mit Filz umhüllten Hammer hervor und trieb einen Nagel in einen Riss. Obwohl die Schläge sehr leise waren, hallten sie vom Stein wider, und Jon zuckte bei jedem Einzelnen zusammen. Bestimmt mussten die Wildlinge sie ebenfalls hören. Schließlich war der Nagel eingeschlagen, und Steinschlange befestigte das Seil daran. Jetzt folgte Jon ihm. Saug an der Brust des Berges, rief er sich in Erinnerung. Nicht nach unten schauen. Halte dein Gewicht über den Füßen. Nicht nach unten schauen. Schau auf den Fels vor dir. Dort kannst du dich gut festhalten, ja. Nicht nach unten schauen. Auf dem Vorsprung da kann ich ausruhen, ich muss ihn nur erreichen. Bloß nicht nach unten schauen.

Einmal rutschte er mit einem Fuß ab, als er sein Gewicht darauf verlagerte, und das Herz stockte ihm, doch die Götter waren gut zu ihm, und er stürzte nicht ab. Er spürte, wie die Kälte aus dem Stein in seine Finger kroch, doch er wagte es nicht, die Handschuhe anzuziehen; die Handschuhe würden rutschen, gleichgültig, wie eng sie zu sitzen schienen, Stoff und Fell würden sich zwischen Stein und Haut bewegen, und hier oben konnte das seinen Tod bedeuten. Seine verbrannte Hand wurde steif und begann bald zu schmerzen. Dann riss er sich irgendwo den Daumennagel auf und hinterließ auf allem, das er berührte, Blutspuren. Hoffentlich hatte er noch alle Finger, wenn diese Kletterpartie zu Ende war.

Aufwärts ging es, aufwärts und aufwärts, sie waren schwarze Schatten, die über eine mondbeschienene Felswand krochen. Unten vom Pass her hätte man sie leicht entdeckt, doch der Berg verbarg sie vor den Blicken der Wildlinge am Feuer. Inzwischen waren sie ihnen sehr nah, das spürte Jon. Dennoch dachte er nicht an die Feinde, die ihn erwarteten, wenn auch unwissend, sondern an seinen Bruder in Winterfell. Bran ist für sein Leben gern geklettert. Ich wünschte, ich hätte nur ein Zehntel seines Mutes.

Auf zwei Dritteln des Wegs wurde die Wand durch einen schrägen Spalt im eiskalten Stein unterbrochen. Steinschlange streckte Jon die Hand entgegen und half ihm hinauf. Er hatte die Handschuhe wieder angezogen, und so folgte Jon seinem Beispiel. Der Grenzer deutete mit dem Kopf nach links, und die beiden krochen dreihundert Meter oder mehr auf dem Vorsprung entlang, bis sie das gedämpfte orangefarbene Leuchten jenseits der Klippe unter ihnen sehen konnten.

Dort hatten die Wildlinge ihr Wachfeuer in einer seichten Senke oberhalb der schmalsten Stelle des Passes angezündet. Steil ging es vor ihnen hinunter, der Fels hinter ihnen schützte sie vor dem ärgsten Wind. Dieser Windschutz erlaubte es den schwarzen Brüdern jedoch gleichzeitig, bäuchlings bis auf wenige Meter an sie heranzukriechen, bis sie auf die Männer hinunterschauen konnten, die sie töten mussten.

Einer schlief zusammengerollt unter einem großen Haufen Felle. Jon konnte von ihm nur das Haar sehen, das hellrot im Feuerschein glänzte. Der Zweite saß dicht bei den Flammen, legte Zweige nach und beschwerte sich gereizt über den Wind. Der Dritte beobachtete den Pass, obwohl dort wenig zu sehen war, nur Dunkelheit, die von den schneebedeckten Höhen der Berge umringt war. Und dieser Dritte trug das Horn.

Drei. Einen Augenblick lang war Jon verunsichert. Es sollten doch nur zwei sein. Immerhin schlief einer. Und ob es nun zwei oder drei oder zwanzig waren, er musste trotzdem tun, weswegen sie hergekommen waren. Steinschlange berührte ihn am Arm und zeigte auf den Wildling mit dem Horn. Jon deutete mit dem Kopf auf den am Feuer. Es war ein merkwürdiges Gefühl, jemanden auszuwählen, den man töten würde. Sein halbes Leben lang hatte er mit Schwert und Schild verbracht und sich auf diesen Moment vorbereitet. Hat sich Robb so vor seiner ersten Schlacht gefühlt?, fragte er sich, doch ihm blieb keine Zeit, lange darüber nachzudenken. Steinschlange bewegte sich so schnell wie seine Namensvetterin, er erhob sich und sprang in einem Steinhagel hinunter zu den Wildlingen. Jon zog Langklaue aus der Scheide und folgte ihm.

Alles schien nur einen Herzschlag lang zu dauern. Später musste Jon den Mut des Wildlings bewundern, der zuerst nach dem Horn griff statt nach seiner Waffe. Er brachte es noch an die Lippen, doch ehe er hineinstoßen konnte, hatte Steinschlange es ihm mit dem Kurzschwert aus der Hand geschlagen. Jons Mann sprang auf und stieß mit einem brennenden Scheit nach ihm. Jon spürte die Hitze der Flammen, als er zurückzuckte. Aus den Augenwinkeln sah er, dass sich der Schläfer regte, und er wusste, dass er schnell mit seinem Gegenüber fertig werden musste. Als der Mann erneut mit dem Scheit ausholte, warf er sich vor und schwang das Bastardschwert mit beiden Händen. Der valyrische Stahl schnitt durch Leder, Fell, Wolle und Fleisch, doch als der Wildling fiel, riss er ihm das Schwert aus der Hand. Auf dem Boden setzte sich der Schlafende unter den Fellen auf. Jon zog seinen langen Dolch, packte den Mann am Haar und drückte ihm die Messerspitze unter das Kinn, während er nach seinem – nein, ihrem –

Seine Hand erstarrte. »Ein Mädchen.«

»Eine Wächterin«, erwiderte Steinschlange. »Ein Wildling. Töte sie.«

Jon sah die Furcht und das Feuer in ihren Augen. Blut rann dort, wo sein Dolch ihre Haut verletzt hatte, die Kehle hinunter. Einmal zustoßen, und es ist erledigt, sagte er sich. Er war ihr so nah, dass er die Zwiebeln in ihrem Atem riechen konnte. Sie ist nicht älter als ich. Irgendetwas an ihr erinnerte ihn an Arya, obwohl sie seiner Halbschwester nicht im Geringsten ähnelte. »Ergibst du dich?«, fragte er und drehte den Dolch ein wenig herum. Und wenn nicht?

»Ich ergebe mich.« Ihre Worte dampften in der kalten Luft.

»Dann bist du jetzt unsere Gefangene.« Er zog den Dolch von der weichen Haut ihres Halses zurück.

»Qhorin hat nichts davon gesagt, Gefangene zu machen«, meinte Steinschlange.

»Und auch nichts davon, es nicht zu tun.« Jon ließ das Haar des Mädchens los, und sie wich rückwärts vor ihm zurück.

»Sie ist eine Speerfrau.« Steinschlange deutete auf die lange Axt, die neben den Fellen lag. »Sie hat gerade danach gegriffen, als du sie gepackt hast. Gib ihr den Hauch einer Chance, und sie rammt dir die Axt zwischen die Augen.«

»Ich werde ihr keine Gelegenheit dazu geben.« Jon stieß die Axt mit dem Fuß außer Reichweite des Mädchens. »Hast du einen Namen?«

»Ygritte.« Sie rieb sich den Hals und starrte auf das Blut an ihrer Hand.

Jon steckte den Dolch in die Scheide und zog Langklaue mit einem Ruck aus dem Leichnam des Mannes, den er getötet hatte. »Du bist meine Gefangene, Ygritte.«

»Ich habe dir meinen Namen genannt.«

»Ich heiße Jon Schnee.«

Sie zuckte zusammen. »Ein schlimmer Name.«

»Der Name eines Bastards«, antwortete er. »Mein Vater war Lord Eddard Stark von Winterfell.«

Das Mädchen beäugte ihn wachsam, doch Steinschlange lachte grimmig. »Es ist immer der Gefangene, der reden soll, vergessen?« Der Grenzer hielt einen langen Zweig ins Feuer. »Nicht dass sie reden wird. Ich habe Wildlinge gesehen, die sich eher die Zunge abbissen, als nur eine einzige Frage zu beantworten.« Das Ende des Zweigs brannte, und Steinschlange machte zwei Schritte und warf ihn weit hinaus in den Pass. Wirbelnd fiel er durch die Nacht, bis er außer Sicht war.

»Ihr solltet die verbrennen, die ihr getötet habt«, sagte Ygritte.

»Dazu bräuchten wir ein größeres Feuer, und große Feuer leuchten hell.« Steinschlange drehte sich um und suchte in der schwarzen Ferne nach weiteren Feuern. »Sind noch mehr Wildlinge in der Nähe, ist es deshalb?«

»Verbrennt sie«, beharrte das Mädchen, »oder ihr braucht vielleicht bald wieder eure Schwerter.«

Jon erinnerte sich an den toten Othor und seine kalten schwarzen Hände. »Vielleicht sollten wir lieber tun, was sie sagt.«

»Es gibt noch andere Möglichkeiten.« Steinschlange kniete neben dem Mann nieder, den er erschlagen hatte und zog ihm Mantel, Stiefel, Gürtel und Weste aus, dann hievte er sich den Leichnam über die Schulter und trug ihn zur Kante. Grunzend warf er ihn hinunter. Einen Augenblick später hörten sie ein dumpfes Klatschen aus der Tiefe. Inzwischen hatte der Grenzer bereits die zweite Leiche bis auf die Haut ausgezogen und zog sie an den Armen zum Rand. Jon nahm die Füße, und gemeinsam schleuderten sie den Toten hinaus in die schwarze Nacht.

Ygritte beobachtete sie und sagte nichts. Sie war älter, als er zunächst gedacht hatte, erkannte Jon, vielleicht zwanzig, doch sehr klein für ihr Alter. Sie hatte O-Beine, ein rundes Gesicht, kleine Hände und eine Stupsnase. Ihr struppiger Rotschopf stand in alle Richtungen ab. Sie wirkte mollig, wie sie so dahockte, doch vermutlich lag das an den Fellen, der Wolle und dem Leder. Unter all dem könnte sie genauso dünn sein wie Arya.

»Wurdet ihr geschickt, um nach uns Ausschau zu halten?«, fragte Jon sie.

»Nach euch und nach anderen.«

Steinschlange wärmte sich die Hände am Feuer. »Was erwartet uns jenseits des Passes?«

»Das freie Volk.«

»Wie viele?«

»Hunderte und Tausende. Mehr als du je gesehen hast, Krähe.« Sie lächelte. Ihre Zähne waren schief, aber sehr weiß.

Sie weiß nicht, wie viele. »Warum seid ihr hergekommen?«

Ygritte verfiel in Schweigen.

»Was ist in den Frostfängen, das euer König haben will? Ihr könnt nicht lange hierbleiben, es gibt nichts zu essen.«

Sie wandte das Gesicht von ihm ab.

»Wollt ihr zur Mauer marschieren? Wann?«

Sie starrte in die Flammen und schien ihn nicht zu hören.

»Weißt du irgendetwas über meinen Onkel, Benjen Stark?«

Ygritte beachtete ihn nicht. Steinschlange lachte. »Wenn sie ihre Zunge ausspuckt, sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. «

Von den Felsen hallte ein tiefes Grollen wider. Eine Schattenkatze, wurde Jon sofort klar. Er erhob sich und hörte eine zweite, die noch näher war. Er zog sein Schwert, drehte sich um und lauschte.

»Sie werden uns nicht belästigen«, sagte Ygritte. »Sie sind wegen der Toten gekommen. Katzen riechen Blut auf sechs Meilen Entfernung. Sie werden bei den Leichen bleiben, bis sie das letzte Fleisch abgenagt und die Knochen geknackt und ausgesaugt haben.«

Jon konnte die Geräusche von unten hören. Ihm war unbehaglich dabei zu Mute. Die Wärme des Feuers machte ihm plötzlich bewusst, wie müde er war, doch er wagte nicht zu schlafen. Er hatte die Frau gefangen genommen, und es war an ihm, sie zu bewachen. »Waren sie mit dir verwandt?«, fragte er leise. »Die beiden, die wir getötet haben?«

»Nicht mehr als du.«

»Ich?« Er legte die Stirn in Falten. »Was meinst du damit? «

»Du hast gesagt, du seist der Bastard von Winterfell.«

»Das bin ich.«

»Wer war deine Mutter?«

»Irgendeine Frau. Wie bei den meisten anderen Menschen. « Das hatte einmal jemand zu ihm gesagt. Wer, daran konnte er sich nicht erinnern.

Sie lächelte abermals, und ihre weißen Zähne leuchteten. »Hat sie dir nie das Lied der Winterrose vorgesungen?«

»Ich habe meine Mutter nie kennengelernt. Und dieses Lied kenne ich auch nicht.«

»Bael der Barde hat es gedichtet«, erklärte Ygritte. »Vor langer Zeit war er König-jenseits-der-Mauer. Das ganze freie Volk kennt seine Lieder, aber im Süden werden sie vielleicht nicht gesungen.«

»Winterfell liegt nicht im Süden«, widersprach Jon.

»Oh, doch. Alles jenseits der Mauer ist für uns der Süden. «

So hatte er das noch nie betrachtet. »Ich nehme an, das hängt vom Standpunkt ab.«

»Ja«, stimmte Ygritte zu, »wie immer.«

»Erzähl schon«, drängte Jon. Es würde Stunden dauern, bis Qhorin eintraf, und eine Geschichte würde ihn wachhalten. »Ich möchte die Geschichte hören.«

»Vielleicht würde sie dir nicht gefallen.«

»Trotzdem möchte ich sie hören.«

»Tapfere schwarze Krähe«, spottete sie. »Nun, lange, lange Zeit, ehe Bael König des freien Volkes wurde, war er ein mächtiger Bandit.«

Steinschlange schnaubte. »Ein Mörder, Räuber und Schänder, wolltest du sagen.«

»Das hängt auch vom Standpunkt ab«, sagte Ygritte. »Der Stark in Winterfell wollte Baels Kopf, bekam ihn aber nicht zu fassen, und dieser Misserfolg ärgerte ihn. Eines Tages nannte er Bael in seiner Verbitterung einen Feigling, der immer nur über die Schwachen herfiele. Als Bael davon erfuhr, schwor er, dem Lord eine Lektion zu erteilen. Er kletterte also über die Mauer, lief den Königsweg hinunter, und marschierte eines Winterabends mit der Harfe in der Hand nach Winterfell hinein und nannte sich Sygerrik von Skagos. Sygerrik bedeutet ›Täuscher‹ in der Alten Sprache, die von den Ersten Menschen gesprochen wurde und von den Riesen noch immer gesprochen wird.

Ob Norden oder Süden, Sänger werden überall gern willkommen geheißen, daher saß Bael am Tisch von Lord Stark und spielte die halbe Nacht lang für den Lord auf seinem hohen Stuhl. Er sang die alten Lieder und die neuen, die er selbst verfasst hatte, und er spielte und sang so schön, dass der Lord ihm, nachdem er geendet hatte, anbot, er möge sich selbst eine Belohnung aussuchen. ›Ich bitte nur um eine Blume‹, antwortete Bael, ›die schönste Blume, die in den Gärten von Winterfell blüht.‹

Wie es sich zutrug, hatten die Winterrosen gerade zu blühen angefangen, und keine andere Blume ist so selten und so wertvoll. Also schickte der Stark einen Diener in den Glasgarten und befahl, die schönste Winterrose für den Sänger pflücken. Und so geschah es. Aber am Morgen war der Sänger verschwunden … und mit ihm Lord Brandons jungfräuliche Tochter. Ihr Bett wurde leer vorgefunden, bis auf die hellblaue Rose, die Bael auf dem Kopfkissen zurückgelassen hatte.«

Diese Geschichte hatte Jon noch nie gehört. »Welcher Brandon soll das gewesen sein? Brandon der Erbauer hat im Zeitalter der Helden gelebt, Tausende von Jahren vor Bael. Dann gab es noch Brandon den Verbrenner und seinen Vater Brandon den Schiffsbauer, aber …«

»Dieser war Brandon der Tochterlose«, entgegnete Ygritte scharf. »Willst du die Geschichte nun hören oder nicht?«

Er setzte eine finstere Miene auf. »Erzähl weiter.«

»Lord Brandon hatte keine anderen Kinder. Auf sein Geheiß zogen die schwarzen Krähen zu Hunderten aus ihren Burgen aus, konnten jedoch nirgendwo eine Spur von Bael oder dieser Jungfrau finden. Fast ein Jahr lang suchten sie, bis der Lord den Mut verlor und krank wurde, denn es schien, dass die Linie der Starks mit ihm enden würde. Aber eines Nachts, während er dalag und auf den Tod wartete, hörte Lord Brandon das Schreien eines Kindes. Er folgte dem Laut und fand seine Tochter schlafend und mit einem Säugling an der Brust in ihrem Zimmer.«

»Hatte Bael sie zurückgebracht?«

»Nein. Sie waren die ganze Zeit in Winterfell gewesen und hatten sich bei den Toten unter der Burg versteckt. Die Jungfrau habe Bael so sehr geliebt, dass sie ihm einen Sohn schenkte, heißt es in dem Lied … nun, um die Wahrheit zu sagen, liebten ihn in seinen Liedern alle Jungfrauen. Mag es sein, wie es will, sicher ist, dass Bael das Kind als Bezahlung für die Rose zurückließ, die er ungebeten gepflückt hatte, und der Junge wuchs zum nächsten Lord Stark heran. Also fließt Baels Blut in deinen Adern, genauso wie in meinen.«

»Das ist niemals wirklich passiert«, sagte Jon.

Sie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Trotzdem ist es ein hübsches Lied. Meine Mutter hat es mir immer vorgesungen. Sie war auch irgendeine Frau, Jon Schnee, wie deine.« Sie rieb sich die Kehle, wo sein Dolch sie geschnitten hatte. »Das Lied endet, als das Kind gefunden wird, doch die Geschichte hat ein schreckliches Ende. Dreißig Jahre später war Bael König-jenseits-der-Mauer und führte das freie Volk nach Süden, wo sich ihm der junge Lord Stark an der Gefrorenen Furt entgegenstellte … und ihn tötete, denn Bael konnte seinem eigenen Sohn kein Leid zufügen, als sie sich Auge in Auge gegenüberstanden.«

»Also erschlug der Sohn stattdessen den Vater«, sagte Jon.

»Genau«, antwortete sie, »aber die Götter hassen Vatermörder, selbst wenn die Tat in Unwissenheit geschieht. Als Lord Stark aus der Schlacht zurückkehrte und seine Mutter Baels Kopf auf seinem Speer erblickte, stürzte sie sich in ihrem Gram von einem Turm. Ihr Sohn überlebte sie nicht lange. Einer seiner Lords zog ihm die Haut ab und trug sie als Mantel.«

»Dein Bael war ein Lügner«, sagte Jon, nun vollends davon überzeugt.

»Nein«, erwiderte Ygritte, »aber die Wahrheit eines Barden unterscheidet sich von deiner oder meiner. Jedenfalls hast du mich gebeten, dir die Geschichte zu erzählen, und das habe ich getan.« Sie wandte sich von ihm ab, schloss die Augen und schien zu schlafen.

Die Dämmerung und Qhorin Halbhand trafen gleichzeitig ein. Die schwarzen Felsen hatten sich in Grau verwandelt, und der Himmel im Osten wurde indigoblau, als Steinschlange die Grenzer unten im Pass bemerkte, die den gewundenen Pfad hinaufkamen. Jon weckte seine Gefangene und hielt sie am Arm fest, während sie hinabstiegen. Glücklicherweise gab es in nordwestlicher Richtung einen Weg, der weitaus einfacher zurückzulegen war als der, auf dem sie gekommen waren. Sie warteten in einer schmalen Spalte auf die Brüder, die ihre Pferde am Zügel führten. Geist rannte voraus, als er Jon witterte. Jon kniete sich hin, und der Schattenwolf packte sein Handgelenk mit den Zähnen und zerrte spielerisch daran. Doch dann blickte er auf und sah Ygritte, die ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte.

Qhorin Halbhand sagte nichts, als er die Gefangene erblickte. »Sie waren zu dritt«, erklärte Steinschlange. Mehr nicht.

»Zwei haben wir gesehen«, sagte Ebben, »oder das, was die Katzen von ihnen übriggelassen haben.« Er betrachtete das Mädchen misstrauisch und mit säuerlicher Miene.

Jon fühlte sich verpflichtet zu sagen: »Sie hat sich ergeben. «

Qhorins Gesicht zeigte keinerlei Regung. »Weißt du, wer ich bin?«

»Qhorin Halbhand.« Das Mädchen wirkte neben ihm fast wie ein Kind, dennoch hielt sie tapfer seinem Blick stand.

»Sag mir die Wahrheit. Wenn ich deinem Volk in die Hände fiele und mich ergeben würde, was würde es mir einbringen? «

»Einen langsameren Tod.«

Der große Grenzer wandte den Kopf Jon zu. »Wir haben kein Essen für sie und niemanden, der sie bewachen kann.«

»Der Weg, der vor uns liegt, birgt schon genug Gefahren, Junge«, sagte Knappe Dalbrück. »Ein Ruf, wenn wir Stille brauchen, und jeder von uns ist des Todes.«

Ebben zog den Dolch. »Ein stählerner Kuss wird sie zum Schweigen bringen.«

Jons Kehle schmerzte. Er blickte die anderen hilflos an. »Sie hat sich mir ergeben.«

»Dann musst du tun, was zu tun ist«, sagte Qhorin Halbhand. »Du bist das Blut von Winterfell und ein Mann der Nachtwache.« Er sah die Männer an. »Kommt, Brüder. Lassen wir ihn damit allein. Es wird ihm leichterfallen, wenn wir nicht dabei zuschauen.« Und so führte er sie den steilen, gewundenen Pfad hinauf in die rosafarbene Sonne hinein, und kurze Zeit später waren Jon und Geist mit dem Wildlingsmädchen allein.

Er dachte, dass Ygritte vielleicht zu fliehen versuchen würde, doch sie stand nur da, wartete und sah ihn an. »Du hast noch nie eine Frau getötet, nicht wahr?« Als er den Kopf schüttelte, sagte sie: »Wir sterben genauso wie Männer. Aber du brauchst es nicht zu tun. Manke würde dich nehmen, das weiß ich ganz bestimmt. Es gibt geheime Wege. Diese Krähen werden uns niemals erwischen.«

»Ich bin auch eine Krähe, genau wie sie«, erwiderte Jon.

Sie nickte ergeben. »Wirst du mich hinterher verbrennen? «

»Das geht nicht. Jemand könnte den Rauch bemerken.«

»Ja, das stimmt.« Sie zuckte die Achseln. »Nun, es gibt schlimmere Dinge, als im Bauch einer Schattenkatze zu enden. «

Er zog Langklaue aus der Scheide. »Hast du keine Angst?«

»Gestern Nacht hatte ich Angst«, gestand sie. »Aber jetzt steht die Sonne am Himmel.« Sie schob ihr Haar zur Seite, entblößte den Hals und kniete vor ihm nieder. »Schlag hart und genau zu, Krähe, sonst werde ich zurückkehren und dich heimsuchen.«

Langklaue war nicht so lang oder schwer wie Eis, das Schwert seines Vaters, doch es bestand ebenfalls aus valyrischem Stahl. Er berührte ihren Hals mit der Klinge an der Stelle, die er treffen musste, und Ygritte schauderte. »Das ist kalt. Mach schon, beeil dich.«

Nun hob er Langklaue hoch über den Kopf und schloss beide Hände fest um das Heft. Ein Hieb, mit aller Kraft. Wenigstens konnte er ihr einen kurzen, schmerzlosen Tod bereiten. Schließlich war er seines Vaters Sohn. Oder nicht? Oder etwa nicht?

»Mach schon«, drängte sie. »Bastard. Na los. Ich kann schließlich nicht ewig tapfer bleiben.« Als der Hieb ausblieb, wandte sie den Kopf um und blickte ihn an.

Jon senkte das Schwert. »Geh«, murmelte er.

Ygritte starrte ihn an.

»Los. Ehe ich wieder klaren Verstandes bin. Geh.«

Sie ging.

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