9. Spukstadt

Irgendwo über den brausenden Wogen des Meeres hallte Fuchurs Stimme, mächtig wie der Klang einer Bronzeglocke.

»Atréju! Wo bist du? Atréju!«

Längst hatten die Windriesen ihr Kampfspiel beendet und waren auseinander gestürmt. Sie würden sich von neuem treffen, an dieser oder einer anderen Stelle, um ihren Streit abermals auszutragen, wie sie es seit undenklichen Zeiten getan hatten. Was eben erst geschehen war, hatten sie schon vergessen, denn sie behielten nichts und wußten nichts außer ihrer eigenen unbändigen Kraft. Und so war auch längst schon der weiße Drache und sein kleiner Reiter aus ihrer Erinnerung geschwunden.

Als Atréju in die Tiefe gestürzt war, hatte Fuchur zunächst mit allen Kräften versucht, sich ihm nachzuschnellen, um ihn im Fallen noch aufzufangen. Doch ein Wirbelsturm hatte den Drachen in die Höhe gerissen und weit, weit fortgetragen. Als er zurückkehrte, tobten die Windriesen schon über einer anderen Stelle des Meeres dahin. Fuchur bemühte sich verzweifelt, den Ort wiederzufinden, wo Atréju ins Wasser gefallen sein mußte, aber selbst für einen weißen Glücksdrachen ist es ein Ding der Unmöglichkeit, im kochenden Schaum eines aufgewühlten Meeres das winzige Pünktchen eines dahintreibenden Körpers zu entdecken - oder gar einen Ertrunkenen auf dem Grund.

Dennoch wollte Fuchur nicht aufgeben. Er stieg hoch in die Lüfte, um einen besseren Überblick zu haben, dann wieder flog er dicht über den Wogen hin, oder er zog Kreise, immer weitere und weitere Kreise. Dabei hörte er nicht auf nach Atréju zu rufen, in der Hoffnung, ihn doch noch irgendwo im Gischt zu erspähen.

Er war ein Glücksdrache, und nichts konnte seine Überzeugung erschüttern, daß doch noch alles gut enden werde. Was auch immer geschah, Fuchur würde niemals aufgeben.

»Atréju!« dröhnte seine mächtige Stimme durch das Tosen der Wellen,»Atréju, wo bist du?«

Atréju wanderte durch die totenstillen Straßen einer verlassenen Stadt. Der Anblick war bedrückend und unheimlich. Kein Gebäude schien es hier zu geben, das nicht schon von seinem Äußeren her einen drohenden und fluchbeladenen Eindruck machte, so als bestünde die ganze Stadt nur aus Geisterschlössern und Spukhäusern. Über den Straßen und Gassen, die ebenso krumm und schief waren wie alles in diesem Land, hingen ungeheure Spinnweben, und ein übler Geruch stieg aus Kellerlöchern und leeren Brunnen.

Nachdem Atréju anfangs von Mauerecke zu Mauerecke gehuscht war, um nicht entdeckt zu werden, gab er sich bald keine Mühe mehr, sich zu verbergen. Leer lagen die Plätze und Straßen vor ihm, und auch in den Gebäuden regte sich nichts. Er ging in einige hinein, doch fand er nur umgeworfene Möbel, zerfetzte Vorhänge, zerbrochenes Geschirr und Glas - alle Zeichen der Verwüstung, aber keinen Bewohner. Auf einem Tisch stand noch ein halbaufgegessenes Mahl, einige Teller mit einer schwarzen Suppe darin und ein paar klebrige Brocken, die vielleicht Brot waren. Er aß von beidem. Es schmeckte widerwärtig, aber er hatte großen Hunger. In gewissem Sinne schien es ihm ganz richtig, daß er gerade hierher geraten war. Das alles paßte zu einem, dem keine Hoffnung mehr blieb.

Bastian fühlte sich ganz schwach vor Hunger.

Weiß der Himmel, warum ihm gerade jetzt ganz unpassenderweise der Apfelstrudel von Fräulein Anna einfiel. Es war der beste Apfelstrudel der Welt.

Fräulein Anna kam dreimal in der Woche, erledigte Schreibarbeiten für den Vater und brachte den Haushalt in Ordnung. Meistens kochte oder backte sie auch etwas. Sie war eine stämmige Person, die unbekümmert laut redete und lachte. Der Vater war höflich zu ihr, aber im übrigen schien er sie kaum wahrzunehmen. Sehr selten brachte sie es fertig, daß über sein bekümmertes Gesicht ein Lächeln huschte. Wenn sie da war, wurde es ein bißchen heller in der Wohnung.

Fräulein Anna hatte eine kleine Tochter, obwohl sie nicht verheiratet war. Das Mädchen hieß Christa, war drei Jahre jünger als Bastian und hatte wunderschöne blonde Haare. Früher hatte Fräulein Anna ihr Töchterchen fast immer mitgebracht. Christa war sehr schüchtern. Wenn Bastian ihr stundenlang seine Geschichten erzählt hatte, war sie ganz still dagesessen und hatte ihm mit großen Augen zugehört. Sie bewunderte Bastian, und er mochte sie sehr gern.

Aber vor einem Jahr hatte Fräulein Anna ihr Töchterchen in ein Landschulheim gegeben. Und nun sahen sie sich fast nie mehr.

Bastian hatte es Fräulein Anna ziemlich übelgenommen und alle ihre Erklärungen, warum es so besser für Christa wäre, hatten ihn nicht überzeugt.

Aber ihrem Apfelstrudel konnte er trotzdem niemals widerstehen.

Er fragte sich sorgenvoll, wie lang ein Mensch es überhaupt aushalten konnte, ohne zu essen. Drei Tage? Zwei? Vielleicht bekam man schon nach vierundzwanzig Stunden Wahnvorstellungen? Bastian rechnete an den Fingern nach, wie lang er nun schon hier war. Es waren schon zehn Stunden oder sogar etwas mehr. Wenn er nur sein Pausebrot oder wenigstens den Apfel noch aufgehoben hätte!

Im flackernden Kerzenschein sahen die gläsernen Augen des Fuchses, der Eule und des riesigen Steinadlers fast lebendig aus. Ihre Schatten regten sich groß an der Speicherwand.

Die Turmuhr schlug sieben Mal.

Atréju ging wieder auf die Straße hinaus und wanderte ziellos in der Stadt umher. Sie schien sehr groß. Er kam durch Viertel, in denen alle Häuser klein und niedrig waren, so daß er im Stehen die Dachtraufe berühren konnte, und durch andere, in denen vielstöckige Paläste standen mit figurengeschmückten Fassaden. Doch alle diese Figuren stellten Totengerippe oder Dämonengestalten dar, die mit fratzenhaften Gesichtern auf den einsamen Wanderer hinunterstarrten.

Und dann blieb er plötzlich wie angewurzelt stehen.

Irgendwo ganz in der Nähe erklang ein rauhes, heiseres Heulen, das so verzweifelt, so trostlos klang, daß es Atréju das Herz zerschnitt. Alle Verlassenheit, alle Verdammnis der Geschöpfe der Finsternis lag in diesem Klagelaut, der nicht enden wollte und von den Wänden immer fernerer Gebäude als Echo zurückgeworfen wurde, bis er schließlich klang wie das Geheul eines weit verstreuten Rudels riesiger Wölfe.

Atréju ging dem Ton nach, der immer leiser und leiser wurde und zuletzt in einem rauhen Schluchzen erstarb. Aber er mußte einige Zeit suchen. Er ging durch eine Einfahrt, kam in einen engen, lichtlosen Hof, ging durch einen Torbogen und gelangte zuletzt in einen Hinterhof, der feucht und schmutzig war. Und dort lag vor einem Mauerloch angekettet ein riesiger, halb verhungerter Werwolf. Die Rippen unter seinem räudigen Fell waren einzeln zu zählen, die Wirbel seines Rückgrats standen hervor wie die Zähne einer Säge, und die Zunge hing ihm lang aus dem halbgeöffneten Rachen.

Atréju näherte sich ihm leise. Als der Werwolf ihn bemerkte, hob er mit einem Ruck den mächtigen Kopf. In seinen Augen glomm ein grünes Licht auf.

Eine Weile musterten sich die beiden gegenseitig, ohne ein Wort, ohne einen Laut. Endlich ließ der Werwolf ein leises, überaus gefährliches Grollen hören:

»Geh fort! Laß mich in Ruhe sterben!«

Atréju rührte sich nicht. Ebenso leise antwortete er:

»Ich habe deinen Ruf gehört, darum bin ich gekommen.«

Der Kopf des Werwolf s sank zurück.

»Ich habe niemand gerufen«, knurrte er,»es war meine eigene Totenklage.«

»Wer bist du?« fragte Atréju und trat noch einen Schritt näher.

»Ich bin Gmork, der Werwolf.«

»Warum liegst du hier angekettet?«

»Sie haben mich vergessen, als sie fortgingen.«

»Wer - sie?«

»Die, die mich an diese Kette gelegt haben.«

»Und wo sind sie hingegangen?«

Gmork antwortete nicht. Er sah Atréju aus halbgeschlossenen Augenlauernd an. Nach einer längeren Stille fragte er:

»Du gehörst nicht hierher, kleiner Fremdling, nicht in diese Stadt, nicht in dieses Land. Was suchst du hier?«

Atréju senkte den Kopf.

»Ich weiß nicht, wie ich hergekommen bin. Wie heißt diese Stadt?«

»Es ist die Hauptstadt des berühmtesten Landes in ganz Phantásien«, sagte Gmork.»Von keinem anderen Land und keiner anderen Stadt gibt es so viele Geschichten. Auch du hast gewiß schon von Spukstadt im Gelichterland gehört, nicht wahr?«

Atréju nickte langsam.

Gmork hatte den Jungen nicht aus dem Auge gelassen. Es wunderte ihn, daß dieser griinhäutige Knabe ihn so ruhig aus seinen großen schwarzen Augen ansah und keinerlei Furcht zeigte.

»Und du - wer bist du?« fragte er.

Atréju überlegte eine Weile, ehe er antwortete:

»Ich bin niemand.«

»Was soll das heißen?«

»Es soll heißen, daß ich einmal einen Namen hatte. Er soll nicht mehr genannt werden. Darum bin ich niemand.«

Der Werwolf zog ein wenig die Lefzen hoch und ließ sein schauerliches Gebiß sehen, was wohl ein Lächeln andeuten sollte. Er verstand sich auf Seelenfinsternisse aller Art und fühlte, daß er hier auf irgendeine Weise einen ebenbürtigen Partner vor sich hatte.

»Wenn das so ist«, sagte er mit heiserer Stimme,»dann hat Niemand mich gehört, und Niemand ist zu mir gekommen, und Niemand redet mit mir in meiner letzten Stunde.«

Wieder nickte Atréju. Dann fragte er:

»Kann Niemand dich von der Kette losmachen?«

Das grüne Licht in den Augen des Werwolf s flackerte. Er begann zu hecheln und sich die Lefzen zu lecken.

»Du würdest das wirklich tun?« stieß er hervor,»du würdest einen hungrigen Werwolf freilassen? Weißt du nicht, was das heißt? Niemand wäre vor mir sicher!«

»Ja«, sagte Atréju,»und ich bin Niemand. Warum sollte ich mich vor dir fürchten?«

Er wollte sich Gmork nähern, doch der ließ abermals jenes tiefe, schreckliche Grollen hören. Der Junge wich zurück.

»Willst du nicht, daß ich dich befreie?« fragte er.

Der Werwolf schien auf einmal sehr müde.

»Das kannst du nicht. Aber wenn du in meine Reichweite kommst, muß ich dich in Stücke reißen, Söhnchen. Das würde mein Ende nur ein wenig hinausschieben, um ein oder zwei Stunden. Also bleib mir vom Leib und laß mich in Ruhe krepieren.«

Atréju überlegte.

»Vielleicht«, meinte er schließlich,»finde ich etwas zu fressen für dich. Ich könnte suchen gehen in der Stadt.«

Gmork schlug langsam wieder die Augen auf und sah den Jungen an. Das grüne Feuer in seinem Blick war erloschen.

»Geh zur Hölle, du kleiner Narr! Willst du mich am Leben halten, bis das Nichts hier ist?«

»Ich dachte«, stammelte Atréju,»wenn ich dir Futter gebracht hätte und du satt wärst, dann könnte ich mich dir vielleicht nähern, um dir die Kette abzunehmen…«

Gmork knirschte mit den Zähnen.

»Wenn es eine gewöhnliche Kette wäre, die mich hier festhält, glaubst du, ich hätte sie nicht schon längst selbst zerbissen?«

Wie zum Beweis schnappte er nach der Kette, und sein fürchterliches Gebiß schlug krachend zusammen. Er zerrte an ihr, dann ließ er sie los.

»Es ist eine magische Kette. Nur die gleiche Person kann sie lösen, die sie mir angelegt hat. Aber die kehrt nie mehr zurück.«

»Und wer hat sie dir angelegt?«

Gmork begann zu winseln wie ein geprügelter Hund. Erst nach einer Weile hatte er sich so weit beruhigt, daß er antworten konnte:

»Gaya war's, die Finstere Fürstin.«

»Und wo ist sie hingegangen?«

»Sie hat sich ins Nichts gestürzt - wie alle anderen hier.«

Atréju dachte an die wahnsinnigen Tänzer, die er draußen vor der Stadt im Nebel beobachtet hatte.

»Warum?« murmelte er,»warum sind sie nicht geflohen?«

»Sie hatten keine Hoffnung mehr. Das macht euereins schwach. Das Nichts zieht euch mächtig an, und keines von euch wird ihm mehr lang widerstehen.«

Während er das sagte, ließ Gmork ein tiefes, böses Lachen hören.

»Und du?« fragte Atréju weiter,»du redest, als gehörtest du nicht zu uns.«

Gmork sah ihn wieder mit diesem lauernden Blick an.

»Ich gehöre nicht zu euch.«

»Woher kommst du dann?«

»Weißt du denn nicht, was ein Werwolf ist?«

Atréju schüttelte stumm den Kopf.

»Du kennst nur Phantásien«, sagte Gmork.»Es gibt noch andere Welten. Zum Beispiel die der Menschenkinder. Aber es gibt Wesen, die haben keine eigene Welt. Dafür können sie in vielen Welten ein- und ausgehen. Zu denen gehöre ich. In der Menschenwelt erscheine ich als Mensch, aber ich bin keiner. Und in Phantásien nehme ich phantásische Gestalt an - aber ich bin keiner von euch.«

Atréju hockte sich langsam auf den Boden nieder und schaute den sterbenden Werwolf mit großen, dunklen Augen an.

»Du warst in der Welt der Menschenkinder?«

»Ich bin oft hin und her gegangen zwischen ihrer Welt und der euren.«

»Gmork«, stammelte Atréju, und er konnte nicht verhindern, daß seine Lippen zitterten,»kannst du mir den Weg in die Welt der Menschenkinder verraten?«

In Gmorks Augen blitzte ein grünes Fünkchen auf. Es war, als ob er innerlich lachte.

»Für dich und deinesgleichen ist der Weg hinüber sehr einfach. Die Sache hat nur einen Haken für euereins: Ihr könnt nie wieder zurück. Ihr müßt für immer dort bleiben. Willst du das?«

»Was muß ich tun?« fragte Atréju entschlossen.

»Das, was alle anderen hier schon vor dir getan haben, Söhnchen. Du mußt nur in das Nichts springen. Aber das hat keine Eile, denn du wirst es früher oder später sowieso tun, wenn die letzten Teile Phantásiens verschwinden.«

Atréju stand auf.

Gmork bemerkte, daß der Junge am ganzen Leib zitterte. Da er den wahren Grund dafür nicht kannte, sagte er beschwichtigend:»Du mußt keine Angst haben, es tut nicht weh.«

»Ich habe keine Angst«, antwortete Atréju.»Ich hätte nie gedacht, daß ich gerade hier und durch dich alle Hoffnung wiederbekommen würde.«

Gmorks Augen glühten wie zwei schmale grüne Monde.

»Zur Hoffnung hast du keinen Anlaß, Söhnchen - was auch immer du vorhaben magst. Wenn du in der Menschenwelt erscheinst, dann bist du nicht mehr, was du hier bist. Das ist gerade das Geheimnis, das niemand m Phantásien wissen kann.«

Atréju stand da mit hängenden Armen.

»Was bin ich dort?« fragte er.»Sag mir das Geheimnis!«

Gmork schwieg lange und regte sich nicht. Atréju fürchtete schon, keine Antwort mehr zu bekommen, doch schließlich hob ein schwerer Atemzug die Brust des Werwolfs, und er begann mit heiserer Stimme zu reden:

»Wofür hältst du mich, Söhnchen? Für deinen Freund? Sieh dich vor! Ich vertreibe mir nur die Zeit mit dir. Und du kannst jetzt noch nicht einmal weggehen. Ich halte dich mit deiner Hoffnung fest. Aber während ich rede, schließt sich das Nichts von allen Seiten um die Spukstadt, und bald wird es keinen Ausgang mehr geben. Dann bist du verloren. Wenn du mir zuhörst, hast du dich schon entschieden. Aber noch kannst du fliehen.«

Der grausame Zug um Gmorks Maul verstärkte sich. Atréju zögerte einen winzigen Augenblick, dann flüsterte er:

»Sag mir das Geheimnis! Was bin ich dort?«

Wieder antwortete Gmork lange nicht. Sein Atem ging jetzt röchelnd und stoßweise. Doch ganz plötzlich richtete er sich auf, so daß er nun auf seine Vorderpranken gestützt dasaß und Atréju zu ihm aufblicken mußte. Jetzt erst sah man seine ganze gewaltige Größe und Schrecklichkeit. Als er nun weitersprach, klang seine Stimme rasselnd.

»Hast du das Nichts gesehen, Söhnchen?«

»Ja, viele Male.«

»Wie sieht es aus?«

»Als ob man blind ist.«

»Nun gut -, und wenn ihr da hineingeraten seid, dann haftet es euch an, das Nichts. Ihr seid wie eine ansteckende Krankheit, durch die die Menschen blind werden, so daß sie Schein und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden können. Weißt du, wie man euch dort nennt?«

»Nein«, flüsterte Atréju.

»Lügen!« bellte Gmork.

Atréju schüttelte den Kopf. Alles Blut war aus seinen Lippen gewichen.

»Wie kann das sein?«

Gmork weidete sich an Atréjus Schrecken. Die Unterhaltung belebte ihn sichtlich. Nach einer kleinen Weile fuhr er fort:

»Was du dort bist, fragst du mich? Aber was bist du denn hier? Was seid ihr denn, ihr Wesen Phantásiens? Traumbilder seid ihr, Erfindungen im Reich der Poesie, Figuren in einer unendlichen Geschichte! Hältst du dich selbst für Wirklichkeit, Söhnchen? Nun gut, hier in deiner Welt bist du's. Aber wenn du durch das Nichts gehst, dann bist du's nicht mehr. Dann bist du unkenntlich geworden. Dann bist du in einer anderen Welt. Dort habt ihr keine Ähnlichkeit mehr mit euch selbst. Illusion und Verblendung tragt ihr in die Menschenwelt. Rate mal, Söhnchen, was aus all den Bewohnern von Spukstadt wird, die ins Nichts gesprungen sind?«

»Ich weiß es nicht«, stammelte Atréju.

»Sie werden zu Wahnideen in den Köpfen der Menschen, zu Vorstellungen der Angst, wo es in Wahrheit nichts zu fürchten gibt, zu Begierden nach Dingen, die sie krank machen, zu Vorstellungen der Verzweiflung, wo kein Grund zum Verzweifeln da ist.«

»Werden wir alle so?« fragte Atréju entsetzt.

»Nein«, versetzte Gmork,»es gibt viele Arten von Wahn und Verblendung, je nachdem, was ihr hier seid, schön oder häßlich, dumm oder klug, werdet ihr dort zu schönen oder häßlichen, dummen oder klugen Lügen.«

»Und ich«, wollte Atréju wissen,»was werde ich sein?«

Gmork grinste.

»Das sag' ich dir nicht, Söhnchen. Du wirst es sehen. Oder vielmehr, du wirst es nicht sehen, weil du nicht mehr du sein wirst.«

Atréju schwieg und sah den Werwolf mit aufgerissenen Augen an.

Gmork fuhr fort:

»Deshalb hassen und fürchten die Menschen Phantásien und alles, was von hier kommt. Sie wollen es vernichten. Und sie wissen nicht, daß sie gerade damit die Flut von Lügen vermehren, die sich ununterbrochen in die Menschenwelt ergießt - diesen Strom aus unkenntlich gewordenen Wesen Phantásiens, die dort das Scheindasein lebender Leichname führen müssen und die Seelen der Menschen mit ihrem Modergeruch vergiften. Sie wissen es nicht. Ist das nicht lustig?«

»Und gibt es keinen mehr«, fragte Atréju leise,»der uns nicht haßt und fürchtet?«

»Ich kenne jedenfalls keinen«, sagte Gmork,»und das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn ihr selbst müßt dort dazu herhalten, die Menschen glauben zu machen, daß es Phantásien nicht gibt.«

»Daß es Phantásien nicht gibt?« wiederholte Atréju fassungslos.

»Sicher, Söhnchen«, antwortete Gmork,»das ist sogar das Wichtigste. Kannst du dir das nicht denken? Nur wenn sie glauben, daß es Phantásien nicht gibt, kommen sie nicht auf die Idee, euch zu besuchen. Und davon hängt alles ab, denn nur wenn sie euch in eurer wahren Gestalt nicht kennen, kann man alles mit ihnen machen.«

»Was - mit ihnen machen?«

»Alles, was man will. Man hat Macht über sie. Und nichts gibt größere Macht über die Menschen als die Lüge. Denn die Menschen, Söhnchen, leben von Vorstellungen. Und die kann man lenken. Diese Macht ist das einzige, was zählt. Darum stand auch ich auf Seiten der Macht und habe ihr gedient, um an ihr teilzuhaben - wenn auch auf andere Art als du und deinesgleichen.«

»Ich will nicht daran teilhaben!« stieß Atréju hervor.

»Nur ruhig, kleiner Narr«, knurrte der Werwolf,»sobald die Reihe an dich kommt, ins Nichts zu springen, wirst auch du ein willenloser und unkenntlicher Diener der Macht. Wer weiß, wozu du ihr nützen wirst. Vielleicht wird man mit deiner Hilfe Menschen dazu bringen, zu kaufen, was sie nicht brauchen, oder zu hassen, was sie nicht kennen, zu glauben, was sie gefügig macht, oder zu bezweifeln, was sie erretten könnte. Mit euch, kleiner Phantasier, werden in der Menschenwelt große Geschäfte gemacht, werden Kriege entfesselt, werden Weltreiche begründet…«

Gmork betrachtete den Jungen eine Weile aus halbgeschlossenen Augen, dann fügte er hinzu:

»Es gibt da auch eine Menge arme Schwachköpfe - die sich natürlich selbst für sehr gescheit halten und der Wahrheit zu dienen glauben - die nichts eifriger tun, als sogar den Kindern Phantasien auszureden. Vielleicht wirst gerade du ihnen von Nutzen sein.«

Atréju stand mit gesenktem Kopf da.

Er wußte nun, warum keine Menschen mehr nach Phantásien kamen und warum nie wieder welche kommen würden, um der Kindlichen Kaiserin neue Namen zu geben. Je mehr in Phantásien der Vernichtung anheimfiel, desto größer wurde die Flut der Lügen in der Menschenwelt, und eben dadurch schwand die Möglichkeit, daß doch noch ein Menschenkind kam, mit jedem Augenblick mehr. Es war ein Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gab. Atréju wußte es nun.

Und noch einer wußte es jetzt: Bastian Balthasar Bux.

Er verstand nun, daß nicht nur Phantásien krank war, sondern auch die Menschenwelt. Das eine hing mit dem anderen zusammen. Eigentlich hatte er es schon immer gefühlt, ohne sich erklären zu können, warum es so war. Er hatte sich nie damit zufriedengeben wollen, daß das Leben so grau und gleichgültig sein sollte, so ohne Geheimnisse und Wunder, wie all die Leute behaupteten, die immer sagten: So ist das Leben!

Aber nun wußte er auch, daß man nach Phantásien gehen mußte, um beide Welten wieder gesund zu machen.

Und daß kein Mensch mehr den Weg dorthin kannte, das lag eben gerade an den Lügen und falschen Vorstellungen, die durch die Zerstörung Phantásiens in die Welt kamen und einen blind machten.

Mit Schrecken und Scham dachte Bastian an seine eigenen Lügen. Die erfundenen Geschichten, die er erzählt hatte, rechnete er nicht dazu. Das war etwas anderes. Aber einige Male hatte er ganz bewußt und absichtlich gelogen - manchmal aus Angst, manchmal um etwas zu bekommen, das er unbedingt haben wollte, manchmal auch nur, um sich aufzuspielen. Welche Geschöpfe Phantásiens hatte er wohl damit vernichtet, unkenntlich gemacht und mißbraucht? Er versuchte sich vorzustellen, was sie vorher in ihrer wahren Gestalt gewesen sein mochten - aber er konnte es nicht. Vielleicht gerade deshalb, weil er gelogen hatte.

Eines stand jedenfalls fest: Auch er hatte dazu beigetragen, daß es so schlimm um Phantásien stand. Und er wollte etwas tun, um es wieder gutzumachen. Das war er Atréju schuldig, der zu allem bereit war, nur um ihn zu holen. Er konnte und wollte Atréju nicht enttäuschen. Er mußte den Weg finden!

Die Turmuhr schlug acht.

Der Werwolf hatte Atréju genau beobachtet.

»Nun weißt du also, wie du in die Menschenwelt kommen kannst«, sagte er.»Willst du es immer noch, Söhnchen?«

Atréju schüttelte den Kopf.

»Ich will nicht zu einer Lüge werden«, murmelte er.

»Das wirst du aber, ob du's willst oder nicht«, antwortete Gmork fast heiter.

»Und du?« fragte Atréju,»warum bist du hier?«

»Ich hatte einen Auftrag«, sagte Gmork widerwillig.

»Du auch?«

Atréju sah den Werwolf aufmerksam und beinahe teilnahmsvoll an.

»Und hast du ihn erfüllt?«

»Nein«, knurrte Gmork,»sonst läge ich gewiß nicht an dieser Kette. Dabei gingen die Dinge gar nicht schlecht am Anfang, bis ich in diese Stadt kam. Die Finstere Fürstin, die hier regierte, ließ mich mit allen Ehren empfangen. Sie lud mich in ihren Palast ein und bewirtete mich überreichlich und redete mit mir und tat in allem so, als ob sie mit von meiner Partie wäre. Nun, die Wesen in Gelichterland waren mir natürlich ziemlich sympathisch, und ich fühlte mich sozusagen zu Hause. Und die Finstere Fürstin war auf ihre Art eine sehr schöne Frau - jedenfalls für meinen Geschmack. Sie streichelte mich und kraulte mich, und ich ließ es mir gefallen, denn es war überaus angenehm. Niemand hat mich je so gestreichelt und gekrault. Kurzum, ich verlor den Kopf und geriet ins Schwätzen, und sie tat so, als ob sie mich wer weiß wie bewunderte, und da erzählte ich ihr schließlich meinen Auftrag. Sie muß mich eingeschläfert haben, denn gewöhnlich hatte ich einen leichten Schlaf. Und als ich aufwachte, lag ich an dieser Kette. Und die Finstere Fürstin stand vor mir und sagte:»Du hast vergessen, Gmork, daß auch ich zu den Geschöpfen Phantásiens gehöre. Und wenn du gegen Phantásien kämpfst, so kämpfst du auch gegen mich. Du bist also mein Feind, und ich habe dich überlistet. Diese Kette ist nur durch mich wieder zu lösen. Aber ich gehe nun mit meinen Dienern und Dienerinnen ins Nichts und werde nie mehr wiederkommen.« Und sie drehte sich um und ging fort. Aber nicht alle folgten ihrem Beispiel. Erst als das Nichts immer näher kam, wurden mehr und mehr Bewohner der Stadt so mächtig angezogen, daß sie nicht mehr widerstehen konnten. Und gerade heute, wenn ich nicht irre, haben auch die letzten nachgegeben. Ja, ich bin in die Falle gegangen, Söhnchen, ich habe dieser Frau zu lange zugehört. Aber du, Söhnchen, bist nun in die gleiche Falle gegangen, du hast mir zu lange zugehört. In diesem Augenblick nämlich hat sich das Nichts wie ein Ring um die Stadt gelegt, du bist gefangen und kannst nicht mehr entwischen.«

»So werden wir zusammen umkommen«, sagte Atréju.

»Das wohl«, antwortete Gmork,»aber auf sehr verschiedene Weise, mein kleiner Narr. Denn ich werde sterben, ehe das Nichts hier ist, aber du wirst von ihm verschlungen werden. Das ist ein großer Unterschied.

Denn wer vorher stirbt, dessen Geschichte ist zu Ende, aber die deine geht weiter ohne Ende, als Lüge.«

»Warum bist du so böse?« fragte Atréju.

»Ihr hattet eine Welt«, antwortete Gmork dunkel,»und ich nicht.«

»Was war dein Auftrag?«

Gmork, der bisher noch immer aufrecht gesessen hatte, glitt zu Boden. Seine Kräfte gingen sichtlich zu Ende. Seine rauhe Stimme klang nur noch wie ein Keuchen.

»Diejenigen, denen ich diene, und die die Vernichtung Phantásiens beschlossen haben, sahen Gefahr für ihren Plan. - Sie hatten erfahren, daß die Kindliche Kaiserin einen Boten ausgesandt hatte, einen großen Helden -, und es sah so aus, als ob er es doch noch schaffen würde, ein Menschenkind nach Phantásien zu rufen. - Es war unbedingt nötig, ihn rechtzeitig umzubringen. - Dazu schickten sie mich aus, da ich viel in Phantásien herumgekommen war. - Ich fand auch gleich seine Spur - folgte ihm Tag und Nacht - holte ihn langsam ein - durch das Land der Sassafranier - den Urwaldtempel von Muamat - den Haulewald - die Sümpfe der Traurigkeit - die Toten Berge - aber dann, am Tiefen Abgrund bei Ygramuls Netz - habe ich seine Spur verloren - als hätte er sich in Luft aufgelöst. - Also suchte ich weiter, irgendwo mußte er ja sein - hab' aber seine Spur nicht mehr gefunden. - So bin ich zuletzt hierhergeraten. - Ich hab's nicht geschafft. - Aber er auch nicht, denn Phantásien geht unter! Sein Name war übrigens Atréju.«

Gmork hob den Kopf. Der Junge war einen Schritt zurückgetreten und hatte sich hoch aufgerichtet.

»Ich bin es«, sagte er,»ich bin Atréju.«

Ein Zucken lief durch den abgemagerten Leib des Werwolf s. Es wiederholte sich und wurde stärker und stärker. Dann kam ein Geräusch aus seiner Kehle, das wie keuchendes Husten klang, es wurde immer lauter und rasselnder und steigerte sich zu einem Brüllen, das von allen Hauswänden zurückschallte. Der Werwolf lachte!

Es war das entsetzlichste Geräusch, das Atréju jemals gehört hatte, und nie wieder hörte er etwas Ähnliches.

Dann war es plötzlich zu Ende.

Gmork war tot.

Atréju stand lange reglos. Schließlich näherte er sich dem toten Werwolf - er wußte selbst nicht, warum - beugte sich über dessen Kopf und berührte mit der Hand das struppige, schwarze Fell. Und im gleichen Augenblick, schneller als jeder Gedanke, hatten Gmorks Zähne zugeschnappt und sich in Atréjus Bein festgebissen. Noch über den Tod hinaus war das Böse in ihm mächtig.

Verzweifelt versuchte Atréju das Gebiß aufzubrechen. Es war vergebens. Wie mit stählernen Schrauben festgehalten, saßen die riesigen Zähne in seinem Fleisch. Atréju sank neben dem Leichnam des Werwolfs auf den schmutzigen Boden nieder.

Und Schritt für Schritt, unaufhaltsam und lautlos, drang das Nichts von allen Seiten durch die schwarze hohe Mauer, die die Stadt umgab.

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