Einen schrecklichen Augenblick lang befiel Atréju Zweifel, ob Ygramul ihn nicht doch betrogen hatte, denn als er zu sich kam, befand er sich noch immer in der Felsenwüste.
Er richtete sich mühsam auf. Und nun sah er, daß er zwar in einer Bergwildnis war, aber in einer ganz anderen. Das Land sah aus, als bestünde es ganz und gar aus großen rostroten Felstafeln, die aufeinander gestapelt und übereinander geschoben waren und so allerhand eigentümliche Türme und Pyramiden bildeten. Dazwischen bedeckten niedrige Sträucher und Kräuter den Boden. Es herrschte sengende Hitze. Die Landschaft war in strahlendes, ja grelles Sonnenlicht getaucht, das die Augen blendete.
Atréju beschattete sein Gesicht mit der Hand und erblickte etwa eine Meile entfernt ein unregelmäßig geformtes Felsentor, dessen Bogen aus waagrecht liegenden Steinplatten gebildet war und das vielleicht hundert Fuß hoch sein mochte.
Sollte das der Eingang zum Südlichen Orakel sein? Soweit er sehen konnte, lag hinter dem Tor nichts als eine endlose leere Ebene, kein Gebäude, kein Tempel, kein Hain - nichts, was einer Orakelstätte ähnlich sah.
Während er noch überlegte, was er tun sollte, hörte er plötzlich eine tiefe, bronzene Stimme:
»Atréju!« und dann noch einmal:»Atréju!«
Er wandte sich um und sah hinter einem der rostroten Felsentürme den weißen Glücksdrachen hervorkommen. Blut rann aus seinen Wunden, und er war so geschwächt, daß er sich nur mit Mühe zu ihm hinschleppen konnte. Dennoch zwinkerte er lustig mit einem seiner rubinroten Augen und sagte:
»Wundere dich nicht allzusehr, daß ich auch hier bin, Atréju. Ich war zwar wie gelähmt, als ich im Spinnennetz hing, aber ich habe doch alles mitgehört, was Ygramul dir sagte. Und da dachte ich, gebissen bin ich schließlich auch von ihr, warum soll ich nicht ebenfalls von dem Geheimnis Gebrauch machen, das sie dir anvertraut hat? So bin ich ihr entkommen.«
Atréju freute sich.
»Es war mir schwer, dich Ygramul, zu überlassen«, sagte er,»aber was hätte ich tun können?«
»Nichts«, antwortete der Glücksdrache.»Du hast mir trotzdem das Leben gerettet - wenn auch nicht ohne meine Mithilfe.«
Und abermals zwinkerte er, diesmal mit dem anderen Auge.
»Das Leben gerettet -«, wiederholte Atréju,»für eine Stunde, denn mehr bleibt uns beiden nicht. Ich fühle das Gift Ygramuls mit jedem Augenblick stärker.«
»Für jedes Gift gibt es ein Gegengift«, antwortete der weiße Drache,»du wirst sehen, daß alles gutgehen wird.«
»Ich wüßte nicht wie«, meinte Atréju.
»Ich auch nicht«, erwiderte der Drache,»aber das ist gerade das Schöne. Von jetzt an wird dir alles gelingen. Schließlich bin ich ein Glücksdrache. Auch als ich im Netz hing, habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben - und wie du siehst, mit Recht.«
Atréju lächelte.
»Sag mir, warum hast du dich hierher versetzt - und nicht an einen anderen, besseren Ort, wo du vielleicht Heilung finden könntest?«
»Mein Leben gehört dir«, sagte der Drache,»wenn du es annehmen willst. Ich dachte mir, du wirst ein Reittier brauchen für die Große Suche. Und du wirst sehen, es ist ein ganz anderes Ding, ob man auf zwei Beinen durch die Gegend krabbelt, sogar ob man auf einem guten Pferd dahingaloppiert, oder ob man auf dem Rücken eines Glücksdrachen durch die Himmelslüfte braust. Abgemacht?«
»Abgemacht!« antwortete Atréju.
»Übrigens«, fügte der Drache hinzu,»mein Name ist Fuchur.«
»Gut, Fuchur«, sagte Atréju,»aber während wir reden, verrinnt die wenige Zeit, die uns noch bleibt. Ich muß etwas tun. Aber was?«
»Glück haben«, antwortete Fuchur,»was sonst?«
Doch Atréju hörte ihn nicht mehr. Er war niedergefallen und lag reglos, eingerollt in die weichen Krümmungen des Drachenleibes.
Ygramuls Gift tat seine Wirkung.
Als Atréju - wer weiß wie lange Zeit später - seine Augen wieder aufschlug, sah er zunächst nichts als ein höchst sonderbares Gesicht über das seine geneigt. Es war das schrumpeligste und faltigste Gesicht, das er je gesehen hatte, aber es war nur ungefähr so groß wie seine Faust. Es war dunkelbraun wie ein Bratapfel, und die Äuglein darin glitzerten wie Sterne. Auf dem Kopf saß so etwas wie eine Haube aus welken Blättern.
Dann fühlte Atréju, daß ihm ein kleines Trinkgefäß an die Lippen gehalten wurde.
»Schöne Medizin, gute Medizin!« murmelten die faltigen kleinen Lippen in dem runzeligen Gesichtchen,»trink nur, mein Kind, trink. Tut gut!«
Atréju nippte. Es schmeckte eigenartig, ein wenig süß und doch herb.
»Was ist mit dem weißen Drachen?« brachte er mühsam heraus.
»Schon in Ordnung,« antwortete das raunende Stimmchen,»mach dir keine Sorgen, mein Jungchen. Wird wieder gesund. Werdet beide wieder gesund. Habt das Schlimmste schon hinter euch. Trink nur, trink!«
Atréju nahm noch einen Schluck und fiel sofort wieder in Schlaf, aber diesmal war es der tiefe, erquickende Schlaf der Genesung.
Die Turmuhr schlug zwei.
Bastian konnte es nicht mehr länger unterdrücken: Er mußte dringend aufs Klo. Er mußte schon seit einer ganzen Weile, aber er hatte einfach nicht aufhören können zu lesen. Und außerdem fürchtete er sich ein bißchen davor, ins Schulhaus hinunterzugehen. Er sagte sich selbst, daß es dafür keinen Grund gab, es war ja leer, niemand würde ihn sehen. Und trotzdem hatte er Angst, so als ob das Schulhaus selbst ein Wesen wäre, das ihn beobachten würde.
Aber da half nun alles nichts, er mußte einfach!
Er legte das Buch mit den offenen Seiten auf die Turnmatte, stand auf und ging zur Speichertür. Mit klopfendem Herzen lauschte er eine Weile. Alles war still. Er schob den Riegel zurück und drehte langsam den großen Schlüssel im Schloß. Als er auf die Klinke drückte, öffnete sich die Tür mit lautem Knarren.
Er huschte strumpfsockig hinaus und ließ die Tür hinter sich offen, um nicht noch einmal unnötigen Lärm zu machen. Dann schlich er die Treppe hinunter in den ersten Stock. Vor ihm lag der lange Gang mit den spinatgrün gestrichenen Türen zu den Klassenzimmern. Die Schülertoilette war am anderen Ende. Es war höchste Eisenbahn, und Bastian lief, so schnell er konnte. Er erreichte das rettende Örtchen buchstäblich im letzten Augenblick.
Während er auf dem Klo saß, überlegte er sich, warum die Helden in solchen Geschichten eigentlich nie mit derartigen Problemen zu tun hatten. Einmal - als er noch viel kleiner gewesen war - hatte er sogar im Religionsunterricht gefragt, ob der Herr Jesus eigentlich auch wie ein gewöhnlicher Mensch gemußt hätte, weil er doch auch wie ein gewöhnlicher Mensch gegessen und getrunken hat. Die Klasse hatte gebrüllt vor Lachen, und der Religionslehrer hatte ihm einen Verweis wegen»ungebührlichen Betragens« ins Klassenbuch geschrieben. Eine Antwort hatte Bastian nicht bekommen. Dabei hatte er sich wirklich nicht ungebührlich betragen wollen.
»Wahrscheinlich«, sagte sich Bastian jetzt,»sind diese Sachen einfach zu nebensächlich und unwichtig, als daß sie in solchen Geschichten erwähnt zu werden brauchen.«
Obwohl sie für ihn manchmal von verzweifelter und beschämender Wichtigkeit sein konnten.
Er war fertig, zog an der Kette und wollte eben hinausgehen, als er draußen auf dem Korridor plötzlich Schritte hörte. Eine Klassenzimmertür nach der anderen wurde geöffnet und wieder geschlossen, und die Schritte kamen immer näher.
Bastians Herz klopfte bis zum Hals. Wo sollte er sich verstecken? Er blieb wie gelähmt stehen, wo er stand.
Die Klotür ging auf, glücklicherweise gerade so, daß sie Bastian verdeckte. Der Hausmeister der Schule kam herein. Nach der Reihe warf er einen Blick in die einzelnen Zellen. Als er an die kam, wo das Wasser noch lief und die Kette schaukelte, stutzte er einen Augenblick. Er brummte etwas vor sich hin, doch als er merkte, daß das Wasser zu laufen aufhörte, zuckte er die Achseln und ging hinaus. Seine Schritte verhallten auf der Treppe.
Bastian hatte die ganze Zeit über nicht zu atmen gewagt, jetzt holte er tief Luft. Als er hinausgehen wollte, merkte er, daß ihm die Knie zitterten.
Vorsichtig und so schnell er konnte, huschte er den Gang mit den spinatgrün gestrichenen Türen entlang, die Treppe hinauf und in den Speicher zurück. Erst als er die Tür wieder verschlossen und verriegelt hatte, wich die Spannung von ihm.
Mit einem tiefen Seufzer ließ er sich wieder auf seinem Lager aus Turnmatten nieder, hüllte sich in die Militärdecken und griff nach dem Buch.
Als Atréju abermals erwachte, fühlte er sich vollkommen frisch und kräftig. Er richtete sich auf.
Es war Nacht, der Mond schien hell, und Atréju sah, daß er sich an der nämlichen Stelle befand, an der er neben dem weißen Drachen zusammengebrochen war. Auch Fuchur lag noch immer so da, aber er atmete ruhig und tief und schien fest zu schlafen. Alle seine Wunden waren verbunden.
Atréju bemerkte, daß auch seine eigene Schulter auf die gleiche Art versorgt war, nicht mit Stoff, sondern mit Kräutern und Pflanzenfasern.
Nur wenige Schritte entfernt befand sich im Felsen eine kleine Höhle, aus deren Eingang gedämpfter Lichtschein fiel.
Ohne den linken Arm zu bewegen, stand Atréju vorsichtig auf und ging zu dem niedrigen Höhleneingang. Er beugte sich nieder und erblickte im Inneren einen Raum, der wie eine Alchemistenküche im Miniaturmaßstab aussah. Im Hintergrund prasselte in einem offenen Kamin ein lustiges Feuerchen. Überall standen und lagen Tiegel, Töpfe und wunderlich geformte Flaschen herum. In einem Regal waren Bündel von getrockneten Pflanzen verschiedener Art aufgestapelt. Das Tischchen in der Mitte und die übrigen Möbel schienen aus Wurzelstrünken zusammengebastelt. Im ganzen machte die Wohnstätte einen höchst behaglichen Eindruck.
Erst als er ein Hüsteln hörte, bemerkte Atréju, daß in einem Lehnsessel vor dem Kamin ein kleines Kerlchen saß. Auf dem Kopf trug es eine Art Hut aus Wurzelholz, der wie ein umgekehrter Pfeifenkopf aussah. Das Gesicht war ebenso dunkelbraun und verschrumpelt wie jenes, das er bei seinem ersten Erwachen über sich gesehen hatte. Doch saß auf der Nase eine große Brille, und seine Züge wirkten schärfer und sorgenvoller. Das Kerlchen las in einem großen Buch, das auf seinem Schoß lag.
Dann wackelte aus einem anderen, weiter hinten liegenden Raum eine zweite kleine Gestalt herein, in der Atréju sofort das Wesen wiedererkannte, das sich seiner zuvor angenommen hatte. Jetzt erst sah er, daß es sich um ein Weiblein handelte. Außer der Blätterkappe trug es - ebenso wie das Männchen auf dem Kaminsessel - eine Art Mönchskutte, die gleichfalls aus welkem Laub zu bestehen schien. Es summte vergnügt vor sich hin, rieb sich die Hände und machte sich dann an einem Kessel zu schaffen, der über dem Feuer hing. Beide Gestalten waren kaum höher als Atréjus Bein von der Sohle bis zum Knie. Es war offensichtlich, daß es sich bei diesen beiden um Mitglieder der weitverzweigten Gnomenfamilie handelte, wenn auch um ziemlich ungewöhnliche.
»Weib«, sagte das Männchen griesgrämig,»geh mir aus dem Licht! Du störst mich beim Studium.«
»Du mit deinem Studium!« antwortete das Weibchen,»wen interessiert das schon. Wichtig ist jetzt, daß mein Heil-Elixier fertig wird. Die beiden da draußen haben es nötig.«
»Die beiden da draußen«, versetzte das Männchen gereizt,»werden meinen Rat und meine Hilfe noch viel nötiger haben.«
»Meinetwegen«, gab das Weibchen zurück,»aber erst, wenn sie gesund sind. Mach Platz, Alter!«
Das Männchen rutschte brummend mit seinem Sessel etwas vom Feuer weg.
Atréju räusperte sich, um sich bemerkbar zu machen. Das Gnomenpaar blickte sich nach ihm um.
»Er ist schon gesund«, sagte das Männchen,»jetzt bin ich dran!«
»Nichts da!« keifte ihn das Weibchen an,»ob er gesund ist, entscheide ich. Du bist dran, wenn ich sage, daß du dran bist!«
Dann wandte es sich Atréju zu.
»Würden dich gerne hereinbitten. Ist aber wohl etwas zu eng für dich. Augenblick noch! Komme gleich zu dir raus.«
Es zerrieb noch irgend etwas in einem kleinen Mörser, das es dann in den Kessel warf. Danach wusch es sich die Hände und trocknete sie an seiner Kutte ab, wobei es zu dem Männchen sagte:
»Und du bleibst hier sitzen, Engywuck, bis ich dich rufe, verstanden?«
»Schon gut, Urgl«, brummte das Männchen.
Das Gnomenweibchen kam aus der Höhle ins Freie. Es guckte Atréju aus zusammengekniffenen Augen von unten prüfend an.
»Na? Scheint uns ja schon ganz gut zu gehen, was?«
Atréju nickte.
Das Weibchen kletterte auf einen Felsenvorsprung, der in gleicher Höhe mit Atréjus Gesicht lag, und nahm Platz.
»Keine Schmerzen mehr?« wollte es wissen.
»Nicht der Rede wert«, antwortete Atréju.
»Was denn?« fuhr ihn das Weibchen mit funkelnden Äuglein an,»tut's weh oder nicht?«
»Es tut noch weh«, erklärte Atréju,»aber es macht mir nichts aus…«
»Aber mir!« schnaubte die Urgl.»Das hat man gern, wenn die Patienten dem Arzt sagen, was was ausmacht! Was verstehst du denn davon, Grünschnabel! Es muß noch weh tun, wenn es heilen soll. Wenn's nämlich nicht mehr weh täte, dann wäre dein Arm schon tot.«
»Verzeihung!« sagte Atréju, der sich wie ein gescholtenes Kind vorkam,»ich wollte nur sagen… das heißt, ich wollte mich bedanken.«
»Ach was!« fuhr ihm die Urgl unwirsch über den Mund,»bin schließlich Heilerin. Hab' nur meine Berufspflicht getan. Und Engywuck, mein Alter, hat das Pantakel gesehen, das um deinen Hals hängt. Da gab's gar keine Frage für uns.«
»Und Fuchur?« fragte Atréju,»wie geht es ihm?«
»Wer ist das?«
»Der weiße Glücksdrache.«
»Ach so. Weiß noch nicht. Hat ein bißchen mehr abbekommen als du. Hält allerdings auch ein bißchen mehr aus. Müßte es eigentlich schaffen. Bin ziemlich sicher, daß er sich wieder erholt. Braucht noch einige Zeit Ruhe. Wo habt ihr bloß dieses Gift abgekriegt, he? Und wo kommt ihr so plötzlich her? Und wo wollt ihr hin? Und wer seid ihr?«
Engywuck war nun auch in den Höhleneingang getreten und hörte zu, wie Atréju auf die Fragen der alten Urgl Antwort gab. Dann trat er vor und rief:
»Halt den Mund, Weib, jetzt bin ich dran!«
Dann wandte er sich an Atréju, nahm den pfeifenkopfartigen Hut ab, kratzte sich sein kahles Köpfchen und sagte:
»Nimm ihr ihren Ton nicht übel, Atréju. Die alte Urgl ist oft ein bißchen ruppig, meint's aber nicht so. Mein Name ist Engywuck. Man nennt uns auch die Zweisiedler. Schon von uns gehört?«
»Nein«, gab Atréju zu.
Engywuck schien ein wenig beleidigt.
»Na gut«, meinte er,»du verkehrst wohl nicht in wissenschaftlichen Kreisen, sonst hätte man dir bestimmt gesagt, daß du keinen besseren Ratgeber als mich finden kannst, wenn du zur Uyulála ins Südliche Orakel willst. Bist an die richtige Adresse gekommen, mein Junge.«
»Tu nur nicht so!« rief die alte Urgl dazwischen. Dann kletterte sie von ihrem Sitzplatz herunter und verschwand vor sich hinbrummend in der Höhle.
Engywuck überhörte geflissentlich ihren Einwurf.
»Kann dir alles erklären«, fuhr er fort,»habe die Sache in- und auswendig studiert mein Leben lang. Habe dafür eigens mein Observatorium eingerichtet. Werde demnächst ein großes wissenschaftliches Werk über das Orakel herausgeben. Titel: Das Uyulála-Rätsel, gelöst durch Professor Engywuck. Hört sich nicht schlecht an, wie? Leider fehlen mir aber noch ein paar Kleinigkeiten. Könntest mir dabei helfen, mein Junge.«
»Ein Observatorium?« fragte Atréju, dem das Wort unbekannt war.
Engywuck nickte mit vor Stolz funkelnden Äuglein. Mit einer Handbewegung forderte er Atréju auf, ihm zu folgen.
Zwischen den mächtigen Steinplatten lief ein kleiner, vielfach gewundener Pfad immer aufwärts. An manchen Stellen, wo es besonders steil hinaufging, waren winzige Stufen ausgeschlagen, die für Atréjus Füße natürlich zu klein waren. Er überstieg sie einfach mit einem großen Schritt. Dennoch hatte er alle Mühe, dem Gnom, der hurtig vor ihm her trippelte, nachzukommen.
»Eine helle Mondnacht heute«, hörte er Engywuck sagen,»wirst sie sehen können.«
»Wen?« wollte Atréju wissen,»die Uyulála?«
Aber Engywuck winkte unwillig ab und wackelte weiter.
Endlich waren sie auf dem Gipfel des Felsenturms angekommen. Der Boden war flach, nur nach einer Seite hin erhob sich eine Art natürlicher Brustwehr, ein Geländer aus einer Steintafel. In der Mitte dieser Tafel war ein Loch, offensichtlich mit Werkzeugen herausgeschnitten. Vor dem Loch stand ein kleines Fernrohr auf einem Stativ aus Wurzelholz.
Engywuck guckte hindurch, regulierte es leicht durch Drehen an einigen Schrauben, dann nickte er zufrieden und forderte Atréju auf, seinerseits einen Blick zu tun. Dieser folgte der Anweisung, mußte sich aber auf den Boden niederlassen und auf die Ellbogen gestützt durch das Rohr schauen.
Es war auf das große Felsentor gerichtet, und zwar so, daß man den unteren Teil des rechten Pfeilers im Bild hatte. Und nun sah Atréju, daß neben diesem Pfeiler hochaufgerichtet und völlig reglos im Mondlicht eine mächtige Sphinx saß. Die Vorderpranken, auf die sie sich stützte, waren die eines Löwen, der hintere Teil ihres Leibes war der eines Stiers, auf dem Rücken trug sie gewaltige Adlerschwingen, und ihr Gesicht war das eines Menschen - jedenfalls der Form nach, denn der Ausdruck war nicht menschlich. Es war schwer zu entscheiden, ob dieses Gesicht lächelte oder unermeßliche Trauer widerspiegelte oder auch völlige Gleichgültigkeit. Nachdem Atréju es eine Weile betrachtet hatte, schien es ihm allerdings von abgrundtiefer Bosheit und Grausamkeit erfüllt, doch gleich mußte er seinen Eindruck wieder berichtigen und fand nichts mehr als reine Heiterkeit darin.
»Laß gut sein!« hörte er die Stimme des Gnomen an seinem Ohr,»du wirst es nicht herausbekommen. Geht jedem so. Mir auch. Hab's mein Leben lang beobachtet und bin nicht dahintergekommen. Jetzt die andere!«
Und er drehte an einer der Schrauben, das Bild wanderte an der Öffnung des Torbogens vorbei, hinter der sich nur die weite leere Ebene erstreckte, dann rückte der linke Torpfeiler in Atréjus Sicht, und hier saß in derselben Haltung eine zweite Sphinx. Ihr mächtiger Körper schimmerte seltsam bleich und wie aus flüssigem Silber im Mondenschein. Sie schien die erste Sphinx unverwandt anzustarren, so wie die erste reglos in ihre Richtung geblickt hatte.
»Sind es Statuen?« fragte Atréju leise, ohne sein Auge abwenden zu können.
»O nein«, antwortete Engywuck und kicherte,»es sind wirkliche, lebende Sphinxen - und wie lebendig! Fürs erste hast du genug gesehen. Komm, gehen wir wieder runter. Werde dir alles erklären.«
Und er hielt die Hand vor das Fernrohr, so daß Atréju nichts mehr sah. Schweigend gingen sie den Weg zurück.