7. Die Stimme der Stille

Glücklich lächelnd wanderte Atréju in den Säulenwald hinein, der im hellen Mondlicht schwarze Schatten warf. Tiefe Stille umgab ihn, er hörte kaum das Tappen seiner bloßen Füße. Er wußte nicht mehr, wer er war und wie er hieß, nicht wie er hierhergekommen war und was er hier suchte. Er war voller Staunen, aber ganz sorglos.

Der Boden war allenthalben mit Mosaik bedeckt, das rätselhaft verschlungene Ornamente oder geheimnisvolle Szenen und Bilder darstellte. Atréju ging darüber hin, stieg breite Treppen hinauf, gelangte auf weite Terrassen, stieg wieder Treppen hinunter und ging durch eine lange Allee aus steinernen Säulen. Er betrachtete sie, eine nach der anderen, und freute sich daran, daß jede auf eine andere Art verziert und mit anderen Zeichen bedeckt war. So bewegte er sich immer weiter fort vom Ohne Schlüssel Tor.

Nachdem er, wer weiß wie lang, immer so gegangen war, vernahm er schließlich aus der Ferne einen schwebenden Klang und blieb lauschend stehen. Der Klang kam näher, es war eine singende Stimme, sehr schön und glockenrein und hoch wie die eines Kindes, aber sie klang unendlich traurig, ja, manchmal schien sie sogar zu schluchzen. Dieses Klagelied lief zwischen den Säulen hin, rasch wie ein Windhauch, dann wieder blieb es an einem Ort stehen, schwebte auf und nieder, näherte sich und entfernte sich wieder und schien Atréju in einem weiten Bogen zu umkreisen.

Er regte sich nicht und wartete.

Nach und nach wurden die Kreise enger, welche die Stimme um Atréju beschrieb, und nun konnte er die Worte verstehen, die sie sang:

»Ach, alles ereignet sich einmal nur,

aber einmal muß alles geschehen.

Über Berg und Tal, über Feld und Flur

werd' ich vergehen, verwehen…«

Atréju drehte sich der Stimme nach, die ruhelos zwischen den Säulen hin und her flog, aber er konnte dort niemand sehen.

»Wer bist du?« rief er.

Und wie ein Echo kam die Stimme zurück:»Wer bist du?«

Atréju dachte nach.

»Wer ich bin?« murmelte er,»ich kann es nicht sagen. Es kommt mir vor, als ob ich es einmal gewußt hätte. Aber ist das denn wichtig?«

Die singende Stimme antwortete:

»Willst du mich fragen insgeheim,

sprich im Gedicht mit mir, im Reim,

denn was man nicht in Versen spricht,

versteh' ich nicht - versteh' ich nicht…«

Atréju war nicht sehr geübt darin, Reime und Verse zu machen, und es schien ihm, daß die Unterhaltung sich wohl einigermaßen schwierig gestalten würde, wenn die Stimme nur verstand, was sich reimte. Er mußte erst eine Weile grübeln, ehe er hervorbrachte:

»Wenn mir die Frage gestattet ist,

dann wüßt' ich gerne, wer du bist.«

Und sogleich antwortete die Stimme:

»Nun nehm' ich dich wahr!

So versteh' ich dich klar!«

Und dann sang sie aus einer anderen Richtung:

»Ich danke dir, Freund, denn gut ist dein Wille.

Du bist mir willkommen als Gast.

Ich bin Uyulála, die Stimme der Stille,

im Tiefen Geheimnis Palast.«

Atréju fiel auf, daß die Stimme manchmal lauter und manchmal leiser erklang, aber niemals ganz verstummte. Auch wenn sie keine Worte sang, oder wenn er zu ihr sprach, immerfort schwebte ein Ton um ihn her, der andauerte.

Da der Klang sich langsam von ihm entfernt hatte, lief er ihm nach und fragte:

»Sag, Uyulála, hörst du mich noch?

Ich kann dich nicht sehen und möchte es doch.«

Die Stimme hauchte an seinem Ohr vorüber:

»Noch nie ist geschehen,

daß jemand mich sah.

Du kannst mich nicht sehen

und doch bin ich da.«

»Also bist du unsichtbar?« fragte er. Aber als keine Antwort kam, erinnerte er sich, daß er es in Gedichtform fragen mußte, und sagte:

»Bist du einfach unsichtbar,

oder körperlos sogar?«

Ein leises Klingen war zu hören, das ein Lachen sein konnte oder ein Schluchzen, und dann sang die Stimme:

»Ja und nein und beides nicht,

so wie du es meinst.

Ich erscheine nicht im Licht,

so wie du erscheinst.

Denn mein Leib ist Klang und Ton,

hörbar nur allein,

diese Stimme selber schon

ist mein ganzes Sein.«

Atréju staunte und ging immer weiter hinter dem Klingen her, kreuz und quer durch den Säulenwald. Nach einer Weile hatte er eine neue Frage fertig:

»Habe ich dich recht verstanden?

Deine Gestalt ist nur dieses Klingen?

Doch wenn du einmal aufhörst zu singen?

Bist du dann nicht mehr vorhanden?«

Und dann hörte er, wieder ganz nahe, die Antwort:

»Wenn es zu Ende geht, das Lied,

dann wird mit mir geschehen,

was mit allen anderen Wesen geschieht,

wenn ihre Körper vergehen.

So ist der Lauf der Dinge:

Ich lebe, solange ich klinge,

doch nicht lange mehr werd' ich bestehen.«

Nun war wieder dieses Schluchzen zu hören und Atréju, der nicht verstand, warum die Uyulála weinte, beeilte sich, zu fragen:

»Warum bist du traurig, sag mir's geschwind!

Du bist doch noch jung. Du klingst wie ein Kind.«

Und wieder klang es wie ein Echo zurück:

»Bald verweht mich der Wind.

Ich bin nur ein Lied der Klage.

Doch höre, die Zeit verrinnt,

darum frage! Frage!

Was willst du, daß ich dir sage?«

Die Stimme war irgendwo zwischen den Säulen verhallt, und Atréju, der sie nicht mehr hören konnte, drehte horchend den Kopf nach allen Seiten. Kurze Zeit blieb es still, dann kam das Singen aus der Ferne rasch wieder näher, und es klang fast ungeduldig:

»Uyulála ist Antwort. Du mußt sie befragen!

Wenn du nicht fragst, so kann sie nichts sagen!«

Atréju rief ihr entgegen:

»Uyulála, hilf mir, ich möchte verstehen:

Warum mußt du bald verwehn und vergehen?«

Und die Stimme sang:

»Die Kindliche Kaiserin siecht dahin

und mit ihr das phantasische Reich.

Das Nichts wird verschlingen den Ort, wo ich bin,

und bald schon ergeht es mir gleich.

Wir werden verschwinden ins Nirgends und Nie,

als wären wir niemals gewesen.

Es bedarf eines neuen Namens für sie,

nur durch ihn kann sie wieder genesen.«

Atréju antwortete:

»Sag, Uyulála, wer rettet ihr Leben?

Wer kann einen neuen Namen ihr geben?«

Die Stimme fuhr fort:

»Höre, höre die Worte mein,

auch wenn du sie jetzt nicht verstehst,

präge sie tief ins Gedächtnis dir ein,

eh du von dannen gehst,

damit du später, zur besseren Stunde,

von der Erinnerung Meeresgrunde

sie wieder emporhebst ans Tageslicht,

unversehrt, so wie es nun klingt.

Alles hängt ab davon, ob dir's gelingt

oder nicht.«

Eine Weile war nur ein klagender Laut ohne Worte zu hören, dann plötzlich klang es ganz nahe bei Atréju, so als spräche jemand ihm ins Ohr:

»Wer kann der Kindlichen Kaiserin

einen neuen Namen geben?

Nicht du, noch ich, nicht Elfe, noch Dschinn,

von uns rettet keiner ihr Leben,

und keiner erlöst uns alle vom Fluch,

durch keinen wird sie gesunden.

Wir sind nur Figuren in einem Buch,

und vollziehen, wozu wir erfunden.

Nur Träume und Bilder in einer Geschicht',

so müssen wir sein, wie wir sind,

und Neues erschaffen - wir können es nicht,

kein Weiser, kein König, kein Kind.

Doch jenseits Phantásiens gibt es ein Reich,

das heißt die Äußere Welt,

und die dort wohnen - ja, sie sind reich,

um sie ist es anders bestellt!

Die Adamssöhne, so nennt man mit Recht

die Bewohner des irdischen Ortes,

die Evastöchter, das Menschengeschlecht,

Blutsbrüder des Wirklichen Wortes.

Sie alle haben seit Anbeginn

die Gabe, Namen zu geben.

Sie brachten der Kindlichen Kaiserin

zu allen Zeiten das Leben.

Sie schenkten ihr neue und herrliche Namen,

doch ist es schon lange her,

daß Menschen zu uns nach Phantásien kamen.

Sie wissen den Weg nicht mehr.

Sie haben vergessen, wie wirklich wir sind,

und sie glauben nicht mehr daran.

Ach, käme ein einziges Menschenkind,

dann wäre schon alles getan!

Ach, wäre nur eines zu glauben bereit

und hätte den Ruf nur vernommen!

Für sie ist es nah, doch für uns ist es weit,

zu weit, um zu ihnen zu kommen.

Denn jenseits Phantásiens ist ihre Welt,

und dorthin können wir nicht -

doch wirst du behalten, mein junger Held,

was Uyulála da spricht?«

»Ja, ja«, sagte Atréju verwirrt. Er gab sich alle Mühe, seinem Gedächtnis einzuprägen, was er hörte, aber er wußte ja nicht wozu, und deshalb begriff er nicht, wovon die Stimme redete. Er fühlte nur, daß es sehr, sehr wichtig war, doch der Singsang und die Anstrengung, alles in Reimen zu hören und zu sagen, machte ihn schläfrig. Er murmelte:

»Ich will es! Ich will mich erinnern daran,

aber sag mir, was fange ich dann damit an?«

Und die Stimme antwortete:

»Das mußt du selbst entscheiden.

Du hast nun Kunde.

Und darum schlägt uns beiden

die Abschiedsstunde.«

Halb schon schlafend fragte Atréju:

»Gehst du fort?

An welchen Ort?«

Jetzt war wieder dieses Schluchzen in der Stimme, die sich immer weiter entfernte, während sie sang:

»Das Nichts ist nah gekommen,

und das Orakel schweigt.

Nun wird kein Klang mehr vernommen,

der auf- und niedersteigt.

Von allen, die zu mir kamen

in den Säulenwald aus Stein

und meine Stimme vernahmen,

wirst du der Letzte sein.

Vielleicht wird es dir gelingen,

was keinem noch je gelang,

doch um es nun zu vollbringen,

bewahre, was ich dir sang!«

Und dann, aus immer weiterer Ferne, hörte Atréju noch die Worte:

»Über Berg und Tal, über Feld und Flur

werd' ich vergehen, verwehen -.

Ach, alles ereignet sich einmal nur,

aber einmal muß alles geschehen…«

Das war das letzte, was Atréju vernahm.

Er setzte sich an einer Säule nieder, lehnte den Rücken dagegen, blickte zum Nachthimmel empor und versuchte zu verstehen, was er gehört hatte. Die Stille legte sich um ihn wie ein weicher, schwerer Mantel, und er schlief ein.

Als er erwachte, umgab ihn kalte Morgendämmerung. Er lag auf dem Rücken und blickte in den Himmel. Die letzten Sterne verblaßten. Die Stimme der Uyulála klang noch in seiner Erinnerung nach. Und zugleich erinnerte er sich wieder an alles, was er bisher erlebt hatte, und an den Zweck seiner Großen Suche.

Nun wußte er also endlich, was zu tun war. Nur ein Menschenkind aus der Welt jenseits der Grenzen Phantásiens konnte der Kindlichen Kaiserin einen neuen Namen geben. Er mußte ein Menschenkind finden und zu ihr bringen!

Mit einem Ruck richtete er sich auf.

»Ach«, dachte Bastian,»wie gern würde ich ihr helfen - ihr und auch Atréju. Ich würde mir einen besonders schönen Namen ausdenken. Wenn ich nur wüßte, wie ich zu Atréju hinkommen kann! Ich würde sofort gehen. Was er für Augen machen würde, wenn ich plötzlich da wäre! Aber es geht ja eben leider nicht, oder?«

Und dann sagte er leise:

»Wenn es irgendeinen Weg gibt, zu euch zu kommen, dann sagt's mir. Ich komme, ganz bestimmt, Atréju! Du wirst schon sehen.«

Als Atréju sich umschaute, sah er, daß der Säulenwald mit seinen Treppen und Terrassen verschwunden war. Ringsum lag nur jene völlig leere Ebene, die er hinter jedem der drei magischen Tore erblickt hatte, ehe er hindurchgegangen war. Aber nun war weder das Ohne Schlüssel Tor noch das Zauber Spiegel Tor mehr da.

Er stand auf und spähte nach allen Richtungen. Und nun entdeckte er, daß mitten auf der Ebene, gar nicht sehr weit von ihm entfernt, sich eine solche Stelle gebildet hatte, wie sie ihm im Haulewald schon einmal vor Augen gekommen war. Diesmal allerdings war sie ihm viel näher. Er wandte sich ab und begann in entgegengesetzter Richtung zu laufen, so schnell er konnte.

Erst nach langer Flucht entdeckte Atréju fern am Horizont eine winzige Erhebung, die möglicherweise jene aus rostroten Felstafeln gebildete Berglandschaft sein konnte, in der sich das Große Rätsel Tor befand.

Er lief darauf zu, aber er mußte lange laufen, ehe er nahe genug herangekommen war, um Einzelheiten zu unterscheiden. Und dann kamen ihm erst recht Zweifel. Gewiß, dort war zwar so etwas, das jener Landschaft aus Felstafeln ähnlich sah, aber ein Tor konnte er nicht entdecken. Und die Steintafeln waren nicht mehr rot, sondern grau und farblos.

Erst als er abermals lange Zeit darauf zugelaufen war, erkannte er, daß es dort zwischen den Felsen tatsächlich einen Einschnitt gab, der dem unteren Teil des Tores glich, aber darüber wölbte sich kein Bogen mehr. Was war geschehen?

Die Antwort fand er erst viele Stunden später, als er endlich die Stelle erreicht hatte. Der riesige steinerne Bogen war eingestürzt - und die Sphinxen waren fort!

Atréju suchte sich einen Weg durch die Trümmer, dann kletterte er auf eine Felspyramide und hielt Ausschau nach der Stelle, wo die Zweisiedler und der Glücksdrache sein mußten. Oder sollten auch sie inzwischen vor dem Nichts geflohen sein?

Dann sah er, wie hinter der Felsenbrüstung von Engywucks Observatorium eine winzige Fahne geschwenkt wurde. Atréju winkte mit beiden Armen und schrie, indem er seine Hände an den Mund legte:»Hejo! Seid ihr noch da?«

Kaum war seine Stimme verhallt, da erhob sich aus jener Schlucht, wo die Höhle der Zweisiedler war, ein perlmutterschimmernder weißer Glücksdrache: Fuchur.

In herrlichen, langsamen Schlangenbewegungen fuhr er durch die Luft daher, wobei er sich einige Male übermütig auf den Rücken legte und blitzschnelle Schleifen beschrieb, so daß er wie eine züngelnde weiße Flamme aussah, dann landete er vor der Felspyramide, auf der Atréju stand. Er stützte die Vordertatzen auf und war nun so groß, daß sein Kopf auf dem hochgebogenen Hals zu Atréju herunterblickte. Er rollte seine rubinroten Augenbälle, streckte vor Vergnügen seine Zunge aus dem weitgeöffneten Rachen und dröhnte mit bronzener Stimme:

»Atréju, mein Freund und mein Herr! Wie gut, daß du endlich zurückgekehrt bist. Wir hatten schon fast die Hoffnung aufgegeben - das heißt die Zweisiedler, ich nicht!«

»Ich bin auch froh, dich wiederzusehen«, antwortete Atréju.»Aber was ist denn geschehen in dieser einen Nacht?«

»Eine Nacht?« rief Fuchur,»denkst du, es war nur eine Nacht? Du wirst dich wundern! Steig auf, ich will dich tragen!«

Atréju schwang sich auf den Rücken des mächtigen Tieres. Es war zum ersten Mal, daß er auf einem Glücksdrachen saß. Und obwohl er schon wilde Pferde zugeritten hatte und wahrhaftig nicht ängstlich war, verging ihm doch im ersten Augenblick fast Hören und Sehen bei diesem kurzen Ritt durch die Luft. Er klammerte sich an Fuchurs flatternder Mähne fest, bis dieser dröhnend lachte und rief:

»Daran wirst du dich von nun an gewöhnen müssen, Atréju!«

»Jedenfalls scheint mir«, schrie Atréju zurück und schnappte nach Luft,»daß du wieder ganz gesund bist!«

»Fast«, antwortete der Drache,»noch nicht ganz!«

Und dann landeten sie vor der Höhlenwohnung der Zweisiedler. Engywuck und Urgl standen nebeneinander vor dem Eingang und erwarteten sie.

»Was hast du erlebt?« schnatterte Engywuck sofort los,»du mußt mir alles erzählen! Wie verhält es sich mit den Toren? Sind meine Theorien richtig? Wer oder was ist die Uyulála?«

»Nichts da!« fuhr ihm die alte Urgl über den Mund,»jetzt soll er erst mal essen und trinken. Hab' schließlich nicht umsonst gekocht und gebacken. Für deine nutzlose Neugier bleibt noch genug Zeit!«

Atréju war vom Rücken des Drachen geklettert und begrüßte das Gnomenpaar. Dann ließen sich alle drei an dem Tischchen nieder, das wieder mit allerlei köstlichen Dingen und einer kleinen Kanne dampfenden Kräutertees gedeckt war.

Die Turmuhr schlug fünf. Bastian dachte wehmütig an zwei Tafeln Nußschokolade, die er zu Hause in seinem Nachtkästchen aufbewahrte - falls er mal nachts Hunger bekommen würde. Wenn er geahnt hätte, daß er nie wieder dorthin zurückkehren würde, hätte er sie sich als eiserne Ration mitnehmen können. Aber daran war nun nichts mehr zu ändern. Besser, nicht mehr daran denken!

Fuchur streckte sich so in dem kleinen Felsental aus, daß sein mächtiger Kopf neben Atréju lag und er alles hören konnte.

»Stellt euch vor«, rief er,»mein Freund und Herr glaubt, er wäre nur eine einzige Nacht weggewesen!«

»Ist das denn nicht so?« fragte Atréju.

»Sieben Tage und sieben Nächte waren es!« sagte Fuchur,»schau her, all meine Wunden sind fast verheilt!«

Erst jetzt bemerkte Atréju, daß auch seine eigene Wunde verheilt war. Der Kräuterverband war abgefallen. Er wunderte sich.»Wie ist das möglich? Ich bin durch die drei magischen Tore gegangen, ich habe mit der Uyulála geredet, dann bin ich in Schlaf gefallen - aber so lange kann ich unmöglich geschlafen haben.«

»Raum und Zeit«, sagte Engywuck,»müssen dort drin etwas anderes sein als hier. Trotzdem, solang wie du ist noch keiner vor dir im Orakel geblieben. Was ist geschehen? Red schon endlich!«

»Erst wüßte ich gern, was hier geschehen ist«, antwortete Atréju.

»Siehst du doch selbst«, sagte Engywuck,»alle Farben verschwinden, alles wird immer unwirklicher, das Große Rätsel Tor ist nicht mehr da. Scheint, als ob auch hier die Vernichtung angefangen hat.

»Und die Sphinxen?« erkundigte sich Atréju.»Wo sind sie hin? Sind sie fortgeflogen? Habt ihr es gesehen?«

»Nichts haben wir gesehen«, brummte Engywuck,»hatte gehofft, du könntest uns darüber was sagen. Der Felsenbogen war plötzlich eingestürzt, aber keiner von uns hat etwas gehört oder gesehen. Bin sogar hingegangen und habe die Trümmer untersucht. Und weißt du, was sich rausgestellt hat? Die Bruchstellen sind uralt und mit grauem Moos bewachsen, so als ob sie schon seit hundert Jahren so dalägen wie jetzt, als ob es überhaupt nie dieses Große Rätsel Tor gegeben hätte.«

»Und doch war es da«, sagte Atréju leise,»denn ich bin durchgegangen und auch durch das Zauber Spiegel Tor und zuletzt durch das Ohne Schlüssel Tor.«

Und nun berichtete Atréju alles, was ihm widerfahren war. Er erinnerte sich ohne Mühe an jede Einzelheit.

Engywuck, der anfangs durch eifrige Zwischenfragen immer noch genauere Beschreibungen verlangte, wurde während der Erzählung nach und nach einsilbiger. Und als Atréju schließlich beinahe Wort für Wort wiederholte, was die Uyulála ihm offenbart hatte, schwieg er ganz. Sein winziges schrumpeliges Gesicht hatte den Ausdruck tiefsten Grames angenommen.

»Nun weißt du also das Geheimnis«, schloß Atréju seinen Bericht,»du wolltest es doch unbedingt wissen, nicht wahr? Die Uyulála ist ein Wesen, das nur aus einer Stimme besteht. Ihre Gestalt ist nur hörbar. Sie ist dort, wo sie klingt.«

Engywuck schwieg eine Weile, dann brachte er mit heiserer Stimme heraus:»Sie war dort, willst du wohl sagen.«

»Ja«, antwortete Atréju,»nach ihren eigenen Worten bin ich der Letzte gewesen, zu dem sie gesprochen hat.«

Über Engywucks runzelige Wangen liefen zwei kleine Tränen.

»Umsonst!« krächzte er,»meine ganze Lebensarbeit, meine Forschungen, meine jahrelangen Beobachtungen - alles umsonst! Endlich bringt man mir den letzten Baustein für mein wissenschaftliches Gebäude, könnte es endlich abschließen, könnte endlich das letzte Kapitel schreiben - und ausgerechnet jetzt nützt es nichts mehr, ist völlig überflüssig, hilft keinem mehr was, ist keinen Pfifferling mehr wert, interessiert keinen Schweineschwanz mehr, weil's die Sache, um die es geht, nicht mehr gibt! Aus und vorbei und gute Nacht!«

Ein Schluchzen schüttelte ihn, das sich anhörte wie ein Hustenanfall. Die alte Urgl blickte ihn mitfühlend an, streichelte ihm über das kahle Köpfchen und brummte:

»Armer alter Engywuck! Armer alter Engywuck! Nicht so enttäuscht sein! Wirst schon was anderes finden.«

»Weib!« fauchte Engywuck sie mit funkelnden Äuglein an,»was du vor dir siehst, ist kein armer, alter Engywuck, sondern eine tragische Person!«

Und wie schon einmal rannte er in die Höhle, und man hörte ein kleines Türchen zuschlagen. Die Urgl schüttelte seufzend den Kopf und murmelte:»Er meint's nicht so, ist ein guter alter Kerl, nur leider völlig verrückt.«

Als die Mahlzeit zu Ende war, stand die Urgl auf und sagte:»Werde jetzt unsere sieben Sachen packen. Viel ist es nicht, was wir mitnehmen können, aber dies und das kommt zusammen. Ja, das muß jetzt gemacht werden.«

»Wollt ihr denn fortgehen von hier?« fragte Atréju.

Die Urgl nickte betrübt.»Bleibt uns schon nichts anderes übrig. Wo die Vernichtung um sich greift, wächst doch nichts mehr. Und für meinen Alten gibt's ja nun auch keinen Grund mehr, zu bleiben. Müssen eben sehen, wie's weiter geht. Irgendwie wird's schon gehen. Und ihr? Was habt ihr vor?«

»Ich muß tun, was die Uyulála gesagt hat«, antwortete Atréju,»ich muß versuchen ein Menschenkind zu finden und es zur Kindlichen Kaiserin zu bringen, damit sie einen neuen Namen bekommt.«

»Und wo willst du's suchen, dieses Menschenkind?« fragte Urgl.

»Ich weiß es selbst nicht«, sagte Atréju,»jenseits der Grenzen von Phantásien eben.«

»Wir werden es schon schaffen«, ließ sich nun Fuchurs Glockenstimme vernehmen,»ich werde dich tragen. Du wirst sehen, wir haben Glück!«

»Na«, brummte die Urgl,»dann macht, daß ihr wegkommt!«

»Vielleicht könnten wir euch ein Stück mitnehmen?« schlug Atréju vor.

»Das fehlte mir grade noch!« antwortete Urgl,»nie im Leben würde ich in der Luft herumgondeln. Anständige Gnome bleiben auf der festen Erde. Außerdem sollt ihr euch mit uns nicht aufhalten, ihr habt jetzt Wichtigeres zu tun, ihr zwei - für uns alle.«

»Aber ich möchte euch gern meine Dankbarkeit zeigen«, sagte Atréju.

»Das tust du am besten«, knurrte Urgl,»indem du keine Zeit mehr mit deinem unnützen Papperlapapp verlierst, sondern sofort startest!«

»Sie hat recht«, meinte Fuchur.»Komm, Atréju!«

Atréju schwang sich auf den Rücken des Glücksdrachen. Er drehte sich noch einmal nach der kleinen alten Urgl um und rief:»Auf Wiedersehen!«

Aber sie war schon in der Höhle beim Packen.

Als sie einige Stunden später mit Engywuck ins Freie trat, trug jeder von ihnen eine hochbepackte Kiepe auf dem Rücken, und beide waren schon wieder eifrig dabei sich zu zanken. So wackelten sie auf winzigen krummen Beinchen davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Übrigens wurde Engywuck später noch sehr berühmt, der berühmteste Gnom seiner Familie sogar, aber nicht wegen seiner wissenschaftlichen Forschungen. Doch das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.

Zum gleichen Zeitpunkt, als die Zweisiedler sich auf den Weg machten, brauste Atréju auf Fuchurs Rücken schon fern, sehr fern durch die Himmelslüfte Phantásiens.

Bastian blickte unwillkürlich zur Dachluke hinauf und stellte sich vor, wie es wäre, wenn er dort oben am Himmel, der schon fast ganz dunkel war, plötzlich den Glücksdrachen wie eine weiße, züngelnde Flamme näher kommen sähe - wenn die beiden kämen, um ihn abzuholen!

»Ach«, seufzte er,»das wäre was!«

Er könnte ihnen helfen - und sie ihm. Es wäre für alle die Rettung.

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