An einem kühlen Abend im Frühherbst verließen Abner Marsh und die Eli Reynolds schließlich St. Louis und liefen flußabwärts, um die Fiebertraum zu suchen. Marsh wäre viel lieber schon mehrere Wochen früher aufgebrochen, doch es war zuviel zu tun gewesen. Er hatte darauf warten müssen, daß die Eli Reynolds von ihrer letzten Fahrt den Illinois hinauf zurückkam, und sie dann überprüfen müssen, um sicherzugehen, daß sie auf dem Unterlauf des Flusses operieren konnte, und er hatte sich zwei Mississippi‐Lotsen suchen müssen. Marsh mußte außerdem Schadenersatzforderungen von den Pflanzern und Spediteuren befriedigen, die der Fiebertraum in New Orleans Fracht für St. Louis anvertraut hatten und nun wütend auf das Verschwinden des Dampfers reagierten. Marsh hätte darauf dringen können, daß sie seinen Verlust teilten, aber er war immer stolz darauf gewesen, fair zu sein, daher zahlte er ihnen fünfzig Cent pro Dollar. Dann war da auch noch die unangenehme Aufgabe, Mister Jeffers’ Angehörige zu verständigen — Marsh dachte sich, daß er ihnen wohl kaum erzählen konnte, was wirklich geschehen war; daher nahm er Zuflucht zu der Geschichte vom Gelbfieber. Andere Leute vermißten Brüder und Ehemänner, die verschwunden waren, und sie bestürmten Marsh mit Fragen, die er nicht beantworten konnte, und dann mußte er sich mit einem Inspektor der Regierung und einem Mann von der Lotsenvereinigung herumschlagen, und dann mußte er Rechnungen bezahlen und Geld eintreiben und seine Bücher kontrollieren und Vorbereitungen treffen, und das alles summierte sich zu einem Monat der Verzögerungen, Enttäuschungen und Unannehmlichkeiten.
Doch die ganze Zeit über hielt Marsh die Augen offen. Als auf die Briefe, die Green für ihn versandt hatte, keine Antworten kamen, schickte er weitere Briefe los. Er paßte einlaufende Dampfer ab, sooft er dazu Zeit fand, und fragte nach der Fiebertraum, nach Joshua York, nach Karl Framm und Whitey Blake und Hairy Mike Dunne und Toby Lanyard. Er engagierte zwei Detektive und schickte sie flußabwärts mit Instruktionen, soviel wie möglich in Erfahrung zu bringen. Er übernahm sogar eine Gewohnheit von Joshua und fing an, Zeitungen von allen Ecken und Ende des Flußnetzes zu kaufen; seine Abende verbrachte er dann damit, die Speditionsannoncen, die Schiffahrtswerbung, die Listen der Ankunfts‐ und Abfahrtszeiten von Dampfschiffen in Städten, so weit entfernt wie Cincinnati und New Orleans und St. Paul, zu studieren. Er besuchte das Planters’ House und andere Flußherbergen noch häufiger, als es seine Gewohnheit war, und stellte tausend Fragen.
Und er erfuhr nichts. Die Fiebertraum war verschwunden, so schien es, einfach vom Fluß weggewischt. Niemand hatte sie gesehen. Niemand hatte mit Whitey Blake oder Mister Framm oder Hairy Mike geredet oder irgend etwas von ihnen gehört. In den Zeitungen stand nichts von ihrem Kommen und Gehen.
»Das leuchtet mir nicht ein«, klagte Marsh laut vor den Offizieren der Eli Reynolds eine Woche vor ihrer Abfahrt. »Sie ist hundertzwanzig Meter lang, nagelneu, schnell genug, daß jedem Dampfschiffer die Tränen in die Augen steigen. Ein solches Schiff muß einfach bemerkt werden.«
»Es sei denn, sie ist untergegangen«, äußerte Cat Grove, der kleine drahtige Maat der Eli Reynolds. »Es gibt Stellen in diesem Fluß, die tief genug sind, um ganze Städte zu verschlingen. Sie könnte auch mit Mann und Maus gesunken sein.«
»Nein«, beharrte Marsh stur. Er hatte ihnen nicht die ganze Geschichte erzählt. Wie hätte er das auch tun sollen? Keiner von ihnen war an Bord der Fiebertraum gewesen; sie würden ihm niemals Glauben schenken. »Nein, sie ist nicht gesunken. Sie ist irgendwo da unten und versteckt sich vor mir. Aber ich werde sie finden.«
»Wie?« fragte Yoerger, der Kapitän der Eli Reynolds.
»Der Mississippi ist ein langer Fluß«, gab Marsh zu, »und er hat eine Menge Seitenarme und Zuflüsse und Bayous, Abkürzungen und Stichkanäle und Biegungen und alle möglichen Stellen, wo ein Dampfer sich verstecken kann und wo niemand ihn entdeckt. Aber der Fluß ist nicht so lang, als daß auf ihm nicht gesucht werden kann. Wir fangen an einem Ende an und bewegen uns zum anderen und fragen überall nach, und wenn wir in New Orleans eintreffen und sie noch immer nicht gefunden haben, dann können wir das gleiche auf dem Ohio und dem Missouri und dem Illinois und dem Yazoo und dem Red River tun — oder wo immer wir das verdammte Schiff vermuten mögen.«
»Das könnte eine Weile dauern«, sagte Yoerger.
»Und wenn schon.«
Yoerger hob die Schultern, und die Offiziere der Eli Reynolds tauschten unsichere Blicke. Abner Marsh schaute finster in die Runde. »Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf, wie lange es dauern wird«, schnappte er. »Sorgen Sie nur dafür, daß Sie meinen Dampfer klarmachen, verstanden?«
»Ja, Sir, Cap’n«, sagte Yoerger. Er war ein großer, vornübergebeugter, hagerer alter Mann mit einer ruhigen Stimme, und er arbeitete auf Dampfschiffen, seit es sie gab, daher konnte ihn nichts mehr überraschen, und der Ton seiner Stimme verkündete das auch.
Als der Tag der Abreise kam, zog Abner Marsh seine weiße Kapitänsjacke mit der Doppelreihe Silberknöpfe an. Sie paßte ihm wie angegossen. Er nahm ein großzügiges Abendessen im Planters’ House ein — der Proviant auf der Eli Reynolds war nicht so berauschend, und der Koch wäre nicht einmal gut genug gewesen, Tobys Bratpfannen zu scheuern — und ging hinunter zur Anlegestelle.
Die Eli Reynolds lag unter Dampf, wie Marsh voller Zufriedenheit bemerkte. Trotzdem bot sie keinen überwältigenden Anblick. Sie war ein Schiff für den Oberlauf, klein und schmal und flach für die seichten engen Flüßchen, wo sie normalerweise unterwegs war. Sie war weniger als ein Viertel so lang wie die verschwundene Fiebertraum und etwa nur halb so breit, und vollbeladen faßte sie gerade einhundertfünfzig Tonnen Fracht gegenüber den tausend Tonnen des größeren Schiffs. Die Eli Reynolds hatte nur zwei Decks; es gab kein Texas, und die Mannschaft bewohnte den vorderen Teil der Kabinen auf dem Kesseldeck. Sie nahm sowieso nur selten Passagiere auf. Ein einzelner großer Hochdruckkessel trieb ihr Heckrad an, und sie war so schlicht, wie ein solcher Schiffstyp nun einmal aussah. Sie hatten zur Zeit so gut wie keine Fracht geladen, und Marsh konnte den Kessel vorn gut erkennen. Reihen glatter geweißter Holzsäulen trugen die oberen Decks, sahen aus wie zerbrechliche Stelzen, und die Säulen, die das verwitterte Promenadendach stützten, waren quadratisch und so schlicht und einfach wie ein Holzzaun. Der hintere Radkasten war nicht mehr als eine rechteckige Holzkiste, das Heckrad wirkte wie nachträglich anmontiert, und die rote Farbe war von der langen Benutzung verblichen und streifig geworden. Ansonsten sah man überall die Farbe abblättern. Das Ruderhaus war ein Kasten aus Holz und Glas und saß mitten auf dem Dampfschiff, und die gedrungenen Schornsteine bestanden aus unverziertem schwarzen Eisenblech. Die Eli Reynolds zeigte ihr wahres Alter, als sie dort im Wasser lag; sie sah furchtbar müde aus und schien leichte Schlagseite zu haben, als wolle sie jeden Moment umkippen und sinken.
Sie war überhaupt nicht mit der großen starken Fiebertraum zu vergleichen. Aber sie war alles, was er zur Verfügung hatte, und sie müßte ausreichen. Er ging hinunter zum Dampfer und kam an Bord über einen Steg, der vom Tritt unzähliger Stiefel abgenutzt war. Cat Grove erwartete ihn auf dem Vorderdeck. »Alles klar, Cap’n.«
»Dann weisen Sie den Lotsen an, abzulegen und sie auf den Fluß zu bringen«, sagte Marsh. Grove rief den entsprechenden Befehl nach oben, und die Eli Reynolds stieß einen Pfiff aus. Der Laut wirkte dünn und klagend und hoffnungslos tapfer. Er polterte die steile enge Treppe zur Hauptkabine hinauf, die düster war und ihm ein Gefühl des Eingezwängtseins vermittelte, da sie gerade dreizehn Meter lang war. Der Teppich war stellenweise bis auf das Rückengewebe abgenutzt, und die Landschaften, die die Salontüren zierten, waren längst zur Unkenntlichkeit verblaßt. Die ganze Inneneinrichtung des Dampfers hatte einen Hauch von kaltem Essen und saurem Wein und Öl und Qualm und Schweiß an sich. Es war unangenehm heiß, und das einzige einfache Oberlicht war viel zu verschmutzt und verschmiert, um viel Licht hereinzulassen. Yoerger und der dienstfreie Lotse saßen an einem runden Tisch und tranken Kaffee, als Marsh hereinkam. »Ist der Talg an Bord?« erkundigte Marsh sich.
Yoerger nickte.
»Viel war es aber nicht, was ich an Talg gesehen habe«, stellte Marsh fest.
Yoerger runzelte die Stirn. »Ich hatte mir gedacht, so wäre es Ihnen lieber, Cap’n. Wenn wir mehr geladen hätten, dann wären wir um einiges langsamer, und außerdem müßten wir öfter anhalten.«
Abner Marsh ließ sich das durch den Kopf gehen und nickte dann zustimmend. »Gut«, sagte er, »das leuchtet mir ein. Wurde mein Paket geliefert?«
»In Ihrer Kabine«, informierte Yoerger ihn.
Marsh verabschiedete sich und begab sich in seinen Kabine. Die Koje knarrte, als er sich auf dem Rand niederließ, das Paket öffnete und das Gewehr und die Patronen herausnahm. Er untersuchte es sorgfältig, wog es in der Hand und visierte über den Lauf. Es vermittelte ihm ein gutes Gefühl. Ein gewöhnlicher Pistolen‐ oder Gewehrschuß macht den Angehörigen des Nachtvolks vielleicht nichts aus, doch dieses Gewehr war etwas anderes, hand‐ und maßgefertigt vom besten Waffenschmied in St. Louis. Es war eine Büffelflinte mit einem achteckigen kurzen Lauf, dazu bestimmt, aus dem Sattel abgefeuert zu werden und einen angreifenden Büffel auf der Stelle unschädlich zu machen. Die fünfzig eigens angefertigten Patronen waren größer, als je ein Waffenschmied sie hergestellt hatte. »Teufel auch«, hatte der Waffenschmied festgestellt, »die zerreißen das Jagdwild ja in tausend Stücke. Nichts wird davon übrigleiben.« Abner Marsh hatte dazu nur genickt. Das Gewehr war nicht für Schußgenauigkeit gebaut, vor allem hätte es sie nicht in Marshs Händen, aber das brauchte es auch nicht zu sein. Auf kurze Distanz würde es das Grinsen Damon Julians blitzartig aus dem Gesicht wischen und seinen gesamten Schädel gleich mit von den Schultern blasen. Marsh lud es sorgfältig und hängte es an die Wand über seinem Bett, damit er sich nur aufzusetzen brauchte, um es mit einer einzigen fließenden Bewegung herunterzuholen und in Anschlag zu bringen. Erst als er das ausprobiert hatte, streckte er sich in der Koje aus.
Und so fing es an. Tag für Tag dampfte die Eli Reynolds weiter stromabwärts, bei Regen und Nebel, bei Sonnenschein und bedecktem Himmel, legte in jeder Stadt und an jeder Anlegestelle und an jedem Holzplatz an, um Erkundigungen einzuziehen. Abner Marsh saß oben auf dem Sturmdeck in einem Holzsessel neben der alten fleckigen Glocke des Dampfers und beobachtete Stunde für Stunde den Fluß. Manchmal aß er sogar seine Mahlzeiten da oben. Wenn er schlafen mußte, dann nahmen Kapitän Yoerger oder Cat Grove oder der Proviantmeister seinen Platz ein, und die Wache ging weiter. Wenn Flöße und Prahmen und andere Dampfer vorbeiglitten, rief Marsh sie an: »He, Sie da! Haben Sie einen Dampfer namens Fiebertraum gesehen?« Doch die Antwort, wenn er überhaupt eine bekam, war stets die gleiche: »Nein, Cap’n, haben wir ganz bestimmt nicht«, und auch die Leute an den Anlegestellen und auf den Holzplätzen konnten ihnen nichts sagen, und der Fluß war voller Dampfschiffe, Dampfschiffe Tag und Nacht, Dampfschiffe groß und klein, die flußaufwärts fuhren oder flußabwärts oder halbversunken an seinen Ufern lagen, aber keines war die Fiebertraum.
Die Eli Reynolds war ein langsames kleines Schiff auf einem großen Fluß, und sie kroch mit einer Geschwindigkeit durch die Fluten, bei der sich jeder Dampfschiffer geschämt hätte, und ihre Zwischenstopps und ihre Erkundigungen hielten sie zusätzlich auf. Aber die Städte glitten vorbei, die Holzplätze wurden passiert, die Wälder und die Häuser und andere Dampfschiffe schwebten in einem Auf und Ab von Tagen und Nächten vorüber, Inseln und Sandbänke blieben hinter ihnen zurück, ihre Lotsen lenkten sie zügig über Untiefen und Sandbarrieren, und sie drangen immer weiter nach Süden vor. Sainte Genevieve tauchte auf und fiel hinter ihnen zurück; Cape Girardeau und Crosno glitten vorbei, sie machten für einige Zeit in Hickman halt und etwas länger in New Madrid. Caruthersville lag im Nebel, aber sie fanden die Stadt trotzdem. Osceola war still, und Memphis war lärmend. Helena. Rosedale. Arkansas City. Napoleon. Greenville. Lake Providence.
Als die Eli Reynolds an einem stürmischen Oktobermorgen in Vicksburg einlief, warteten bereits zwei Männer auf dem Pier. Abner Marsh ließ den größten Teil der Mannschaft an Land gehen. Er, Kapitän Yoerger und Cat Grove begaben sich mit den Besuchern in die Hauptkabine des Dampfers. Einer der Männer war ein massiger harter Bursche mit roten Bartkoteletten und einem Kopf, so kahl und glatt wie ein Taubenei, und mit einem schwarzen Wollanzug bekleidet. Der andere war schlank, ebenfalls elegant gekleidet und hatte stechende dunkle Augen. Marsh bot ihnen Platz an und servierte Kaffee. »Also?« fragte er. »Wo ist sie?«
Der Kahle pustete auf seinen Kaffee und verzog finster das Gesicht. »Keine Ahnung.«
»Ich habe Sie dafür bezahlt, meinen Dampfer zu finden«, sagte Marsh.
»Sie ist aber nicht zu finden, Cap’n Marsh«, erwiderte der Mann in Schwarz. »Hank und ich haben überall gesucht, das kann ich Ihnen versichern.«
»Das heißt nicht, daß wir nichts herausbekommen haben«, meinte der Kahle. »Nur haben wir den Dampfer noch nicht mit letzter Sicherheit identifiziert.«
»Na schön«, lenkte Marsh ein. »Dann erzählen Sie mal, was Sie herausgefunden haben.«
Der schwarze Mann holte einen Bogen Papier aus der Innentasche seines Rocks und faltete ihn auseinander. »Die meisten Angehörigen der Dampfschiffmannschaft und fast alle Passagiere gingen nach dem Gerücht vom Gelbfieber im Bayou Sara von Bord. Am nächsten Morgen dampfte Ihre Fiebertraum ab. Allen Aussagen nach fuhr sie stromaufwärts. Wir haben auf den Holzplätzen weiter oben einige Nigger gefunden, die darauf schwören, daß sie dort angelegt und Holz geladen hat. Vielleicht lügen sie auch, aber ich könnte mir nicht vorstellen warum. Daher kennen wir schon mal die Richtung, in die Ihr Dampfer verschwunden ist. Wir haben auch genügend Leute getroffen, die sicher sind, sie vorbeifahren gesehen zu haben. Oder zumindest glauben sie, daß sie es war.«
»Allerdings ist sie niemals in Natchez angekommen«, warf sein Partner ein. »Und das liegt … nun … acht bis zehn Stunden flußaufwärts.«
»Weniger«, sagte Abner Marsh. »Die Fiebertraum war ein verdammt schnelles Schiff.«
»Ob schnell oder nicht, sie ging auf jeden Fall zwischen Bayou Sara und Natchez verloren.«
»Auf diesem Stück zweigt der Red River ab«, sagte Marsh. Der schwarze Mann nickte. »Aber Ihr Schiff war nicht in Shreveport oder in Alexandria, und auf keinem der Holzplätze, die wir überprüft haben, erinnert jemand sich an die Fiebertraum.«
»Verdammt!« murmelte Marsh.
»Vielleicht ist sie tatsächlich gesunken«, mutmaßte Cat Grove.
»Wir haben noch mehr«, wandte der glatzköpfige Detektiv ein. Er nahm einen Schluck Kaffee. »Ihr Dampfer wurde in Natchez nicht gesichtet, das haben Sie gehört. Dafür aber einige von den Leuten, nach denen Sie gesucht haben.«
»Reden Sie weiter!« forderte Marsh ihn auf.
»Wir haben uns ziemlich lange in der Silver Street herumgetrieben«, sagte er. »Und haben uns umgehört. Der Mann namens Raymond Ortega war dort bekannt, und er stand auch auf Ihrer Liste. Er kam eines Abends zurück, Anfang September war das wohl, und besuchte einen der Reichen auf dem Berg und suchte unten noch eine Reihe weiterer Leute auf. Vier Männer befanden sich in seiner Begleitung. Einer davon entspricht Ihrer Beschreibung von diesem Sour Billy Tipton. Sie blieben etwa eine Woche lang. Unternahmen einige recht interessante Dinge. Heuerten eine Menge Männer an, weiße, farbige, ohne Unterschied. Und Sie wissen ja, was für Leute man in Natchez‐under‐the‐Hill antrifft.«
Abner Marsh wußte es sehr wohl. Sour Billy Tipton hatte Marshs Mannschaft abgeschreckt und sie durch eine Bande Halsabschneider ersetzt, wie er selbst einer war. »Dampfschiffer?« fragte er.
Der kahle Mann nickte. »Wir haben noch mehr. Dieser Tipton war auch in Fork‐in‐the‐Road.«
»Das ist ein großer Sklavenmarkt«, meinte der schwarze Partner.
»Er kaufte eine ganze Gruppe Sklaven. Und bezahlte sie mit Gold.« Der kahle Mann holte eine goldene Zwanzig‐Dollar‐Münze aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. »Mit so etwas. Er kaufte auch noch andere Dinge in Natchez. Und bezahlte genauso.«
»Welche Dinge?« wollte Marsh wissen.
»Sklavenhalterzeug«, sagte der schwarze Mann. »Handfesseln. Ketten. Hämmer.«
»Und auch Farbe«, meinte der andere.
Und plötzlich ging Abner Marsh ein Licht auf, das so hell leuchtete wie ein ganzes Feuerwerk. »Herrgott im Himmel«, fluchte er. »Farbe! Kein Wunder, daß niemand sie gesehen hat. Verdammt noch mal! Die sind schlauer, als ich angenommen hatte, und ich bin ein verfluchter kindischer Narr, daß ich es nicht von Anfang an ahnte!« Er hämmerte mit der mächtigen Faust auf den Tisch, bis die Kaffeetassen einen wilden Tanz aufführten.
»Wir ahnen schon, was Sie meinen«, sagte der kahle Mann. »Sie haben sie übermalt. Ihr einen anderen Namen gegeben.«
»Ein bißchen Farbe reicht kaum aus, um einen berühmten Dampfer zu verändern«, widersprach Yoerger.
»Nein«, sagte Abner Marsh, »aber sie war noch nicht berühmt. Zur Hölle noch mal, wir haben gerade eine einzige Fahrt flußabwärts gemacht, haben noch nicht mal den Rückweg geschafft. Wie viele Leute sollten sie denn schon erkennen? Wer hatte auch nur von ihr gehört? Fast jeden Tag tauchen neue Schiffe auf dem Fluß auf. Man braucht nur einen neuen Namen auf die Radkästen zu pinseln und hier und da ein bißchen frische Farbe zu verteilen, und schon hat man ein völlig neues Schiff.«
»Aber die Fiebertraum war groß«, sagte Yoerger. »Und schnell, meinten Sie.«
»Es gibt eine Menge großer Dampfer auf dem verdammten Fluß«, sagte Marsh. »Oh, sie war größer als fast alle anderen außer der Eclipse, aber wie viele Leute erkennen das bereits auf den ersten Blick ohne ein anderes Schiff zum Vergleich daneben? Und was die Schnelligkeit angeht, Teufel auch, es ist doch ganz einfach, sie nur gebremst zu fahren, damit sie nicht auffällt. Auf diese Weise wird auch nicht über sie geredet.« Marsh schäumte innerlich vor Wut. Das war es, was sie sicherlich taten; sie fuhren sie langsam, weit unter ihrer Leistung, und blieben damit unauffällig. Irgendwie erschien ihm das geradezu sündhaft und verworfen.
»Das Problem ist nur«, warf der kahle Mann ein, »daß wir nicht die geringste Ahnung haben, welchen neuen Namen sie sich für das Schiff ausgedacht haben. Daher wird es nicht leicht sein, es zu finden. Wir können jedes Schiff auf dem Fluß besteigen und nach diesen Leuten Ausschau halten, die Sie außerdem suchen, aber …« Er hob die Schultern.
»Nein«, sagte Abner Marsh, »Ich werde es viel einfacher finden. Soviel Farbe gibt es gar nicht, um die Fiebertraum derart gründlich zu verändern, daß ich sie nicht wiedererkenne. Wir sind schon bis hierher gekommen, da können wir auch gleich bis nach New Orleans weiterfahren.« Marsh zupfte sich am Bart. »Mister Grove«, sagte er, während er sich an den Maat wandte, »holen Sie Ihre Lotsen her! Es sind doch Männer vom Unterlauf, und die müßten die Dampfer, die hier verkehren, ganz gut kennen. Bitten Sie sie, sich mal die Stapel Zeitungen vorzunehmen, die ich gesammelt habe, und sie daraufhin durchzublättern, ob sie ein Schiff finden, das ihnen seltsam vorkommt.«
»Aber klar, Cap’n«, sagte Grove.
Abner Marsh wandte sich wieder an die Detektive. »Meine Herren, ich glaube nicht, daß ich Sie noch länger brauche«, sagte er. »Aber sollten Sie per Zufall den Dampfer entdecken, dann wissen Sie ja, wie Sie mich erreichen können. Ich werde dafür sorgen, daß Sie angemessen bezahlt werden.« Er stand auf. »Wenn Sie jetzt bitte mitkommen würden ins Büro des Zahlmeisters, dann gebe ich Ihnen den Rest, den ich Ihnen noch schulde.«
Den übrigen Tag verbrachte man vor Anker liegend in Vicksburg. Marsh hatte soeben sein Abendessen beendet — eine Platte Brathuhn, das nicht ganz durchgegart war, und labbrige Kartoffeln —, als Cat Grove sich einen Stuhl heranzog und sich mit einem Stück Papier in der Hand setzte. »Sie haben zwar fast den ganzen Tag dafür gebraucht, Cap’n, doch sie haben es geschafft«, sagte Grove. »Aber es gibt wirklich zu viele Schiffe. Es müssen so um die dreißig gewesen sein, die sie überhaupt nicht kannten. Ich bin selbst die Zeitungen durchgegangen und habe die Anzeigen studiert und mich informiert, was dort über die Schiffsgröße steht, wer die Schiffe besitzt und so weiter. Einige Namen kannte ich und konnte außerdem eine ganze Reihe Heckraddampfer und zu kleine Schiffe gleich von der Liste streichen.«
»Und wie viele sind übriggeblieben?«
»Nur vier«, sagte Grove. »Vier große Seitenraddampfer, von denen niemand je etwas gehört hat.« Er reichte Abner Marsh die Liste. Die Namen waren in säuberlichen Blockbuchstaben untereinander aufgeschrieben.
Marsh studierte den Zettel lange und mit gerunzelter Stirn. Einer der angegebenen Namen hätte eine ganz spezielle Bedeutung für ihn haben müssen, das wußte er, aber er konnte es nicht entscheiden, und hätte sein Leben davon abgehangen.
»Ergibt das für Sie einen Sinn, Cap’n?«
»Die B. Schroeder ist es ganz bestimmt nicht.« sagte Marsh plötzlich. »Die bauten sie zur gleichen Zeit in New Albany, als sie auch an der Fiebertraum arbeiteten.« Er kratzte sich am Kopf.
»Das letzte Schiff«, sagte Grove und wies auf den Namen. »Sehen Sie sich doch nur mal die Initialen an, Cap’n. F. D. Wie bei Fiebertraum, vielleicht.«
»Schon möglich«, meinte Marsh. Er sagte sich die Namen laut vor. »F. D. Heckinger. Queen City. Ozy…« Das war ein schweres Wort. Er war froh, daß er es nicht buchstabieren mußte. »Ozy‐man‐die‐ass.«
Dann erkannte Abner Marshs Verstand, sein langsamer, umständlicher Geist, der niemals etwas vergaß, die Antwort vor seinen Augen, und sie kam ihm vor wie ein Stück Treibholz, das der Fluß plötzlich ans Ufer gespült hatte. Er hatte sich schon einmal mit diesem Wort herumgeschlagen, vor kurzem erst, lange war es nicht her, als er nämlich in einem Buch blätterte. »Moment«, sagte er zu Grove. Er erhob sich und verließ mit eiligen Schritten die Kabine. Die Bücher lagen in der untersten Schublade seiner Kommode.
»Was ist das?« fragte Grove, als Marsh zurückkam.
»Verdammte Gedichte«, sagte Marsh. Er blätterte den Byron‐Band durch, fand nichts, nahm sich dann den Shelley vor. Und dort war es. Er überflog es schnell, lehnte sich zurück, dachte stirnrunzelnd nach und las es erneut.
»Cap’n Marsh?« Grove machte sich bemerkbar. »Hören Sie sich das mal an!« forderte Marsh ihn auf. Er las laut:
»Mein Name Ozymandias ist, König aller Könige:
Betrachtet meine Werke, ihr Mächt’gen und die Not!«
Nichts sonst besteht. Gestrandet liegt es dort
Das ries’ge Wrack so grenzenlos und tot
Von ew’gem Sand umwogt an diesem öden Ort.
»Was ist das?«
»Ein Gedicht«, sagte Abner Marsh. »Es ist ein gottverdammtes Gedicht.«
»Aber was bedeutet es?«
»Es bedeutet«, sagte Marsh, während er das Buch zuklappte, »daß Joshua verzweifelt ist und sich besiegt fühlt. Sie würden es sowieso nicht verstehen, Mister Grove. Wichtig ist jetzt nur, daß wir nach einem Dampfschiff mit dem Namen Ozymandias suchen.«
Grove holte ein weiteres Stück Papier hervor. »Ich habe ein paar Punkte aus den Zeitungen abgeschrieben«, erklärte er und versuchte seine eigene Schrift zu entziffern. »Mal sehen, diese Ozy… Ozy… wie immer die heißt, operiert von Natchez aus. Als Eigner wird ein J. Anthony genannt.«
»Anthony«, sagte Marsh. »Verdammt, Joshuas zweiter Name lautet Anton. Sagten Sie Natchez?«
»Ja, von Natchez nach New Orleans, Cap’n.«
»Wir bleiben über Nacht hier. Morgen in aller Herrgottsfrühe legen wir nach Natchez ab. Haben Sie verstanden, Mister Grove? Ich will keine Minute Licht verlieren. Sobald die Sonne aufgeht, müssen wir unter Dampf sein, damit wir sofort losfahren können.« Vielleicht gab es für Joshua nichts anderes als Verzweiflung im Herzen, doch Abner Marsh hatte einiges mehr als das. Da waren noch offene Rechnungen, die beglichen werden müßten, und wenn er mit allem fertig war, dann bliebe von Damon Julian nicht viel mehr übrig als von jener verfluchten Statue in dem Gedicht.