KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG

An Bord des Raddampfers Ozymandias
Mississippi River, Oktober 1857

Die Dämmerung brach gerade an, als Abner Marsh aus der Kapitänskajüte geholt wurde. Der Morgennebel lag wie ein Tuch auf dem Fluß, graue Dunstschleier schwebten und tanzten wie Rauchschwaden über dem Wasser und schlängelten sich zwischen den Geländern und Säulen des Dampfers hindurch und zuckten und wanden sich dabei wie lebende Wesen, die bald vom Licht der Morgensonne verbrannt werden und verenden sollten. Damon Julian sah den rosigen Schimmer im Osten und blieb im Halbdunkel seiner Kabine. Er schob Marsh durch die Tür. »Bring den Kapitän in seine Kabine, Billy«, sagte er, »setz ihn dort fest bis zum Einbruch der Dunkelheit. Würden Sie uns die Ehre geben und uns beim Abendessen Gesellschaft leisten, Captain Marsh?« Er lächelte. »Ich wußte, Sie würden kommen.«

Sie warteten draußen. Sour Billy, in einem schwarzen Anzug und einer karierten Weste, saß in seinem Sessel, dessen Lehne er gegen die Wand gekippt hatte, auf dem Texasdeck und säuberte sich die Fingernägel mit seinem Messer. Er stand auf, als sich die Tür öffnete, warf das Messer lässig hoch und fing es wieder auf. »Jawohl, Sir, Mister Julian«, sagte er und richtete den Blick seiner eisfarbenen Augen auf Marsh.

Er hatte zwei Begleiter mitgebracht. Die Angehörigen des Nachtvolkes, die Billy geholfen hatten, Marsh von der Eli Reynolds zu holen, hatten sich in ihre Kabinen zurückgezogen, um dem Kontakt mit der Morgensonne zu entgehen, daher hatte Billy, wie es schien, zwei Vertreter des Flußgesindels gerufen. Als Julian die Kabinentür schloß, traten sie vor. Einer war ein stämmiger Junge mit ausgefranstem braunen Schnurrbart, in dessen Gürtel, der aus einem einfachen Strick bestand, ein Eichenknüppel steckte. Der andere war ein Riese und das häßlichste verdammte Wesen, das Abner Marsh je gesehen hatte. Er mußte über zwei Meter groß sein, doch er hatte einen winzigen Kopf, verkniffene Augen, schartige Zähne und überhaupt keine Nase. Abner Marsh starrte ihn wie gebannt an.

»Gaffen Sie Noseless nicht so aufdringlich an!« warnte Sour Billy. »Das ist nicht besonders höflich, Cap’n.« Als wollte er damit die Warnung unterstreichen, packte Noseless Marshs Arm und verdrehte ihn so grob, daß es weh tat. »Ein Alligator hat ihm die Nase abgebissen«, erklärte Sour Billy. »Es war nicht seine Schuld. Halt Cap’n Marsh nur gut fest, Noseless. Cap’n Marsh springt besonders gern in den Fluß, und das können wir im Augenblick nicht zulassen.« Billy kam herüber und bohrte Marsh das Messer weit genug in die Magengrube, so daß er die Spitze auf der Haut spürte. »Sie schwimmen besser, als ich dachte, Cap’n. Das liegt wohl an dem vielen Fett, damit geht man nicht so schnell unter.« Er drehte das Messer plötzlich und schnitt einen Silberknopf von Marshs Jacke. Er fiel klappernd auf das Deck und rollte umher, bis Sour Billy den Fuß darauf setzte. »Heute wird nicht geschwommen, Cap’n. Wir werden Sie jetzt hübsch ins Bett legen. Sie bekommen sogar Ihre eigene Kabine. Und glauben Sie nicht, daß Sie sich von dort wegschleichen können. Mag sein, daß das Nachtvolk schläft, aber Noseless und ich werden den ganzen Tag draußen Wache halten. Kommen Sie schon!« Billy schnippte das Messer in die Luft, ließ es geschickt in die Nackenscheide gleiten und wandte sich um. Er ging nach achtern voraus, während Noseless Marsh vor sich her stieß und der dritte Mann die Nachhut bildete.

Sie bogen um eine Ecke auf dem Texasdeck und stießen beinahe mit Toby Lanyard zusammen.

»Toby!« rief Marsh aus. Er versuchte, noch einen Schritt zu tun, doch Noseless verdrehte ihm den Arm ein Stück, und Marsh stöhnte vor Schmerzen auf und blieb stehen.

Sour Billy Tipton verharrte ebenfalls mitten im Schritt und starrte sein Gegenüber an. »Was, zum Teufel, hast du hier oben zu suchen, Nigger?« schnappte er.

Toby sah ihn nicht an. Er stand da in einem zerschlissenen braunen Anzug, hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt, hielt den Kopf gesenkt und scharrte nervös mit einem Schuh auf dem Deck herum.

»Ich habe gefragt: Was hast du verdammter Nigger hier zu suchen?« wiederholte Sour Billy seine Frage mit drohender Stimme. »Warum bist du nicht in der Küche angekettet? Entweder ich bekomme gleich eine Antwort, oder es geht dir schlecht.«

»Angekettet!« brüllte Marsh.

Darauf hob Toby Lanyard endlich den Kopf und nickte. »Mister Billy sagt, ich bin wieder Sklave, meine Freiheitspapiere sind nichts wert. Er legt uns alle in Ketten, wenn wir nicht arbeiten.«

Sour Billy Tipton griff sich in den Nacken und zückte das Messer. »Wie bist du losgekommen?« wollte er wissen.

»Ich hab’ seine Ketten zerrissen, Mister Tipton«, erklang eine Stimme über ihnen. Sie schauten alle hinauf. Auf dem höchsten Teil des Texasdecks stand Joshua York und blickte auf sie herab. Sein weißer Anzug leuchtete in der Morgensonne, und sein graues Cape flatterte im Wind. »Und jetzt«, sagte York, »laßt Captain Marsh freundlicherweise los!«

»Es ist doch Tag«, sagte der stämmige Junge und wies mit seinem Eichenknüppel auf die Sonne. Seine Stimme klang angsterfüllt.

»Verschwinden Sie lieber«, sagte Sour Billy Tipton zu York, wobei er den Kopf in den Nacken legen mußte, um den Störenfried erkennen zu können. »Wenn Sie irgendwelche Dummheiten machen, rufe ich Mister Julian.«

Joshua York lächelte. »Tatsächlich?« fragte er und schaute zur Sonne. Sie war jetzt deutlich zu sehen als brennendes gelbes Auge inmitten von roten und orangefarbenen Wolken. »Meinst du, er kommt heraus?«

Sour Billys Zunge tanzte nervös über die Lippen. »Sie machen mir nicht angst.« Er packte das Messer fester. »Der Tag ist angebrochen, und Sie sind ganz allein.«

»Nein, das ist er nicht«, sagte Toby Lanyard. Seine Hände tauchten hinter dem Rücken auf. Eine hielt ein Fleischerbeil und die andere ein langes Tranchiermesser mit gezackter Klinge. Sour Billy starrte den Neger verblüfft an und wich einen Schritt zurück.

Abner Marsh warf einen verstohlenen Blick über die Schulter. Noseless blickte immer noch mit zusammengekniffenen Augen zu Joshua hinauf. Sein Griff hatte sich etwas gelockert. Marsh erkannte seine Chance. Mit aller Kraft warf er sich nach hinten gegen den Riesen, und Noseless geriet ins Stolpern und stürzte. Abner Marsh ließ sich einfach auf ihn fallen, mit seinen gesamten dreihundert Pfund Lebendgewicht, und der Riese knurrte, als wäre er gerade von einer Kanonenkugel getroffen worden, und sämtliche Luft wurde ihm zischend aus dem Wanst getrieben. Marsh riß den verdrehten Arm los und rollte sich seitlich ab. Er hielt mit dem Rollen gerade noch rechtzeitig inne — ein Messer steckte plötzlich federnd wenige Zentimeter vor seinem Gesicht in den Decksbohlen. Marsh schluckte krampfhaft, dann lächelte er. Er riß die Klinge heraus und kam auf die Füße.

Der Mann mit dem Knüppel hatte zwei schnelle Schritte vorwärts getan und sich dann eines Besseren besonnen. Nun wich er wieder zurück, und Joshua sprang schneller, als Marsh überhaupt denken konnte, landete hinter dem Mann, wehrte einen wilden Hieb mit dem Eichenknüppel ab, und plötzlich lag der stämmige Junge auf dem Deck, bewußtlos. Marsh hatte den Schlag, der das ausgelöst hatte, nicht gesehen.

»Bleib mir vom Leib!« stieß Sour Billy hervor. Er machte vor Toby einen Rückzug. Dabei stieß er gegen Marsh, der ihn packte, herumriß und rücklings gegen eine Tür schmetterte. »Nicht töten!« kreischte Billy. Marsh stemmte ihm einen Unterarm gegen die Kehle und stützte sich darauf. Dabei drückte er das Messer gegen Billys magere Rippen, dicht über dem Herzen. Die eisfarbenen Augen waren weit aufgerissen und voller Panik. »Nein!« winselte er erstickt.

»Warum nicht, verdammt noch mal?«

»Abner!« warnte Joshua, und Marsh drehte den Kopf gerade rechtzeitig, um Noseless auf die Füße kommen zu sehen. Er stieß einen tierhaften Laut aus und stürmte los, und dann bewegte Toby sich schneller, als Marsh es sich jemals hätte vorstellen können, und der Riese brach in die Knie und würgte an seinem eigenen Blut. Toby hatte einen einzigen Stoß mit dem Tranchiermesser ausgeführt und ihm die Kehle aufgeschlitzt. Blut strömte heraus, und Noseless blinzelte mit den kleinen Augen und griff sich mit den Händen an den Hals, als wolle er den Lebenssaft auffangen, der aus ihm herausrann. Schließlich brach er zusammen.

»Das war nicht nötig, Toby«, sagte Joshua York ruhig. »Ich hätte ihn aufhalten können.«

Der sonst so stille Toby Lanyard runzelte nur skeptisch die Stirn, betrachtete sein Fleischerbeil und das blutige Messer. »Ich bin eben nicht so gut wie Sie, Cap’n York«, bekannte er. Dann wandte er sich zu Marsh und Sour Billy um. »Schneiden Sie ihn auf, Cap’n Marsh«, feuerte er ihn an. »Ich wette, Mister Billy hat kein Herz im Leib.«

»Nicht, Abner! Ein Toter ist genug.«

Abner Marsh hörte beide Männer. Er stieß das Messer vor, bis die Spitze sich durch Billys Hemd bohrte und die Haut ritzte, so daß ein dünner Blutfaden hervortrat. »Gefällt dir das?« fragte Marsh. Schweiß klebte Billy das dünne Haar an den Schädel. »Wenn du selbst das Messer in der Hand hast, dann macht dir das doch richtigen Spaß, nicht wahr?«

Billy bekam keinen Laut über die Lippen, und Marsh lockerte den Druck seines Arms auf der Kehle des anderen, damit er wieder reden konnte. »Töten Sie mich nicht!« keuchte Billy, und seine Stimme klang dünn und schrill. »Ich kann doch nichts dafür, Julian ist schuld, er zwingt mich, diese Dinge zu tun. Er tötet mich, wenn ich nicht ausführe, was er mir befiehlt.«

»Er hat den alten Hairy Mike und auch Whitey getötet«, meldete Toby sich, »und noch eine ganze Menge anderer Leute. Einen Mann hat er sogar in den Ofen gesteckt, man konnte den armen Teufel die ganze Zeit schreien hören. Mir hat er gesagt, ich wäre wieder ’n Sklave, Cap’n Marsh, und als ich ihm die Papiere zeigte, daß ich frei bin, da hat er sie zerrissen und verbrannt. Stoßen Sie zu, Cap’n!«

»Er lügt! Das sind alles verdammte Niggerlügen!«

»Abner«, sagte Joshua, »lassen Sie ihn los. Sie haben seine Waffe, er ist jetzt harmlos. Wenn Sie ihn jetzt töten, dann sind Sie nicht besser als er. Er kann uns helfen, falls jemand uns in die Quere kommt, wenn wir von hier verschwinden. Wir müssen es noch bis zur Jolle schaffen und ablegen.«

»Zur Jolle?« fragte Abner Marsh. »Zur Hölle mit dem Boot! Ich hole mir meinen Dampfer zurück!« Er grinste Sour Billy an. »Ich glaube, unser Billy kann uns sicherlich Julians Kabine öffnen.« Sour Billy schluckte krampfhaft. Marsh spürte die Bewegung des Adamsapfels an seinem Arm.

»Wenn Sie Julian angreifen wollen, dann müssen Sie das allein tun«, entschied Joshua. »Ich werde Ihnen dabei nicht helfen.«

Marsh verrenkte sich fast den Hals, als er York verblüfft anstarrte. »Nach allem, was er getan hat?«

Plötzlich sah Joshua furchtbar schwach und müde aus. »Ich kann nicht«, flüsterte er. »Er ist zu stark, Abner. Er ist ein Blutmeister, er beherrscht mich. Schon daß ich das gewagt habe, ist in der Geschichte meines Volkes ohne Vorbild. Er hat mich dutzendfach an sich gebunden, hat mich gezwungen, ihn mit meinem Blut zu ernähren. Jede dieser Gesten der Unterwerfung schwächt mich mehr. Bringt mich noch mehr in seine Gewalt. Abner, bitte, verstehen Sie mich doch! Ich könnte es niemals tun. Er würde mich mit seinen Augen ansehen, und ehe ich noch einen weiteren Schritt tun könnte, wäre ich völlig unter seinem Einfluß. Sehr wahrscheinlich wären Sie es, den ich töten würde, und nicht Julian.«

»Dann werden Toby und ich die Angelegenheit erledigen«, entschied Marsh.

»Abner, Sie hätten keine Chance. Hören Sie auf mich. Jetzt können wir noch fliehen. Ich bin ein großes Risiko eingegangen, um Sie zu retten. Setzen Sie nicht alles aufs Spiel!«

Marsh schaute Billy hilflos an und ließ sich alles durch den Kopf gehen. Wahrscheinlich hatte Joshua recht. Außerdem war das Gewehr nicht mehr in seinem Besitz, und sie hatten nichts mehr, um Julian endgültig auszuschalten. Messer und Fleischerbeile wären dazu wohl ungeeignet, und Marsh hatte eigentlich nicht allzuviel Interesse, sich mit Julian auf einen Zweikampf einzulassen. »Wir verschwinden«, entschied er endlich, »aber erst, nachdem ich den hier zur Hölle geschickt habe.«

Sour Billy wimmerte. »Nein!« heulte er. »Lassen Sie mich gehen, ich werde Ihnen helfen!« Sein pockennarbiges Gesicht war schweißnaß. »Sie haben es immer gut gehabt, mit Ihrem verdammten eleganten Dampfer und allem, ich hatte keine andere Wahl, ich hatte nie etwas, keine Zuhause, kein Geld, ich mußte immer tun, was andere mir befahlen.«

»Du bist nicht der einzige, der arm aufgewachsen ist«, sagte Marsh. »Das ist keine Entschuldigung. Daß du so bist, wie du bist, war verdammt noch mal deine eigene Entscheidung.« Seine Hand zitterte. Er hätte ihm das Messer so gern zwischen die Rippen gejagt, daß es ihm schon fast weh tat, aber irgendwie schaffte er es nicht, jedenfalls nicht so. »Verdammter Kerl!« knurrte er unwillig. Er nahm den Arm von Billys Kehle und trat zurück, während Billy auf die Knie sank. »Komm schon, du bringst uns jetzt unbehelligt zur Jolle.«

Toby stieß einen enttäuschten Laut aus, und Sour Billy musterte ihn wachsam. »Halten Sie mir ja diesen verdammten Niggerkoch vom Leib! Ihn und sein Fleischerbeil, die sollen mir ja nicht zu nahe kommen!«

»Auf die gottverdammten Füße!« befahl Marsh. Er schaute hinüber zu Joshua, der sich eine Hand auf die Stirn gelegt hatte. »Ist mit Ihnen alles in Ordnung?«

»Die Sonne«, murmelte York matt. »Wir müssen uns beeilen!«

»Die anderen«, sagte Marsh. »Was ist mit Karl Framm? Lebt er noch?«

Joshua nickte. »Ja, und die anderen, aber wir können sie nicht alle befreien. Wir haben keine Zeit dazu. Es dauert sowieso schon viel zu lange.«

Abner Marsh runzelte die Stirn. »Das kann schon sein«, sagte er, »aber ich gehe nicht ohne Mister Framm von hier weg. Er und Sie sind die einzigen, die diesen Dampfer steuern können. Wenn Sie beide nicht mehr da sind, dann hängt das Schiff hier fest, bis wir zurückkommen können.«

Joshua nickte. »Er wird bewacht. Billy, wo ist Framm jetzt?«

Sour Billy hatte sich aufgerafft und stand wieder. »Valerie«, sagte er, und Marsh erinnerte sich an die bleiche Gestalt und an die verlockenden violetten Augen, die ihn in die Dunkelheit gezogen hatten.

»Gut«, sagte Joshua. »Dann schnell!« Und sie gingen los, wobei Marsh Sour Billy bewachte und Toby seine Waffen wieder in den Falten und Taschen seines Anzugs versteckte. Framms Kabine befand sich oben auf dem Texasdeck, aber auf der anderen Seite des Schiffs. Das Fenster war mit Vorhängen zugezogen und mit Fensterläden gesichert. Die Tür war abgeschlossen. Joshua zertrümmerte das Schloß mit einem einzigen Schlag seiner harten weißen Hand und stieß die Tür auf. Marsh drängte sich hinter ihm hinein und stieß Sour Billy vor sich her.

Framm war vollständig bekleidet, lag bäuchlings auf dem Bett und bekam von dem Geschehen nichts mehr mit. Aber neben ihm richtete sich eine bleiche Gestalt auf und starrte sie mit wütenden Augen an. »Wer … Joshua?« Sie erhob sich schnell vom Bett. Das Nachthemd umfloß sie wie ein weiter Schleier. »Es ist Tag. Was willst du?«

»Ihn«, antwortete Joshua.

»Es ist Tag!« wiederholte Valerie drängend. Ihre Blicke glitten über Marsh und Sour Billy. »Was hast du vor?«

»Ich verschwinde«, sagte Joshua York, »und Mister Framm begleitet uns.«

Marsh wies Toby an, auf Billy zu achten, und trat zum Bett. Karl Framm rührte sich nicht. Marsh drehte ihn auf den Rücken. An seinem Hals waren Wunden zu erkennen, und getrocknetes Blut klebte ihm auf dem Hemd und am Kinn. Er bewegte sich matt und mühsam und gab keine Anzeichen von sich, daß er erwachte. Aber er atmete noch.

»Der Durst hat mich gepeinigt«, sagte Valerie mit zaghafter Stimme und blickte von Marsh zu York. »Nach der Jagd … Ich hatte keine Wahl … Damon hat ihn mir überlassen.«

»Lebt er noch?« erkundigte Joshua sich.

»Ja«, sagte Marsh, »aber wir müssen ihn trotzdem tragen.« Er richtete sich auf und winkte. »Toby, Billy, ihr tragt ihn hinunter zur Jolle.«

»Joshua, bitte!« flehte Valerie. Wie sie dastand, in ihrem Nachthemd, sah sie hilflos und verängstigt aus. Es fiel schwer, sie so zu sehen, wie sie auf der Eli Reynolds erschienen war, oder sich vorzustellen, wie sie Karl Framms Blut trank. »Wenn Damon feststellt, daß er weg ist, dann bestraft er mich grausam. Bitte, tu’s nicht!«

Joshua zögerte. »Wir müssen ihn mitnehmen, Valerie.«

»Dann laß mich mitkommen!« sagte sie. »Bitte!«

»Es ist Tag.«

»Wenn du es wagen kannst, dann kann ich es auch. Ich bin stark, ich habe keine Angst.«

»Es ist zu gefährlich«, beharrte Joshua.

»Wenn du mich hier zurückläßt, dann denkt Damon, daß ich dir geholfen habe«, sagte Valerie. »Er wird mich bestrafen. Habe ich denn nicht schon genug gelitten? Joshua … Er haßt mich, weil ich dich liebte! Hilf mir! Ich will ihn nicht — den Durst. Wirklich nicht! Bitte, Joshua, laß mich mitkommen!«

Abner Marsh konnte ihre Furcht erkennen, und plötzlich schien sie keine von ihnen zu sein, sondern nur eine Frau, eine menschliche Frau, die um Hilfe flehte. »Lassen Sie sie mitkommen, Joshua!«

»Dann zieh dich an!« forderte Joshua sie auf. »Beeil dich! Nimm dir ein paar von Mister Framms Kleidern. Sie sind dichter als deine eigenen, und sie werden mehr von deiner Haut bedecken.«

»Ja«, sagte sie. Sie streifte das Nachthemd ab, und ihr schlanker weißer Körper mit hohen vollen Brüsten und kräftigen Beinen kam zum Vorschein. Aus einer Schublade holte sie eines von Framms Hemden, zog es über und knöpfte es zu. Innerhalb einer knappen Minute war sie vollständig angezogen mit Hose, Schuhen, einer Weste mit Rock und einem Schlapphut. Alles war viel zu groß für sie, aber es schien sie in ihren Bewegungen nicht zu behindern.

»Kommen Sie!« schnappte Marsh.

Billy und Toby trugen Framm. Der Lotse war noch immer bewußtlos, und seine Stiefel scharrten über das Deck, als sie zur Treppe eilten. Marsh kam direkt hinter ihnen, eine Hand an seinem Messer, das er sich hinter den Gürtel geschoben hatte und das nun durch seinen Kapitänsrock verborgen wurde. Valerie und Joshua kamen als letzte.

Der große Salon war voller Passagiere. Einige musterten sie argwöhnisch, doch keiner machte eine Bemerkung. Unten auf dem Deck mußten sie über schlafende Deckshelfer hinwegsteigen, von denen Marsh keinen einzigen kannte. Während sie sich der Lot‐Jolle näherten, kamen ihnen zwei Männer entgegen. »Wohin wollen Sie?« wollte einer wissen.

»Das geht euch nichts an«, erwiderte Sour Billy. »Wir bringen Framm zum Arzt. Er scheint sich nicht besonders gut zu fühlen. Ihr beide, helft uns lieber, ihn in die Jolle zu laden!«

Einer der Männer zögerte, starrte Valerie und Joshua an. Es war ganz eindeutig das erstemal, daß er einen der beiden bei Tag sah. »Weiß Julian darüber Bescheid?« fragte er. Andere auf dem Hauptdeck waren aufmerksam geworden und schauten zu ihnen herüber, wie Marsh bemerkte. Er hatte die Hand um den Messergriff gelegt und war jederzeit bereit, Sour Billy die verdammte Gurgel durchzuschneiden, wenn er auch nur ein falsches Wort hervorbrachte.

»Willst du mir widersprechen, Tim?« fragte Billy kalt. »Denk lieber daran, was mit Alligator George passiert ist. Und jetzt beweg deinen verfluchten Arsch und tu, was man dir befiehlt!«

Tim duckte sich und beeilte sich zu gehorchen. Drei andere kamen schnell herbei und halfen ihm, und im Handumdrehen schwamm die Jolle neben dem Dampfer im Wasser, und Karl Framm wurde vorsichtig hineingelegt. Joshua half Valerie beim Einsteigen, und Toby sprang nach ihnen ins Boot. Abner Marsh schob sich dicht an Sour Billy Tipton heran und flüsterte: »Bis jetzt hast du deine Sache gut gemacht. Und nun steig ins Boot!«

Sour Billy starrte ihn an. »Sie haben versprochen, mich laufen zu lassen«, sagte er.

»Ich habe gelogen«, entgegnete Marsh. »Du bleibst bei uns, bis wir in Sicherheit sind.«

Sour Billy wich zurück. »Nein«, sagte er. »Ihr werdet mich am Ende töten.« Er erhob seine Stimme. »Haltet sie auf!« rief er. »Sie haben mich bedroht, sie fliehen, haltet sie!« Er warf sich nach hinten, außer Marshs Reichweite. Marsh fluchte und zog das Messer, aber es war zu spät, alle Deckshelfer und Schauerleute rückten auf ihn zu. Zwei hatten selbst Messer in den Händen, wie er erkennen konnte. »Tötet ihn!« brüllte Sour Billy … »Holt Julian, weckt ihn, tötet sie!«

Marsh packte das Seil, das die Jolle mit dem Dampfer verband, und durchtrennte es mit einem schnellen Schnitt des Messers und schleuderte dann die Klinge auf Billys schreienden Mund. Aber der Wurf war schlecht gezielt, und Sour Billy duckte sich sowieso. Jemand faßte nach Marshs Rock. Er schlug dem Betreffenden ins Gesicht und stieß ihn den Männern hinter ihm in den Weg. Die Jolle trieb mittlerweile in der Flußströmung. Marsh tat einen Schritt auf sie zu, ehe sie außer Reichweite geriet. Joshua brüllte ihm zu, er solle sich beeilen, aber jemand legte ihm die Hände um den Hals und riß ihn zurück. Abner Marsh trat wütend aus, aber der Mann hielt fest, und die Jolle entfernte sich immer weiter, flußabwärts, Joshua rief etwas, und Marsh glaubte, mit ihm sei es aus. Dann pfiff ihm Toby Lanyards gottverdammtes Fleischerbeil am Ohr vorbei, nahm ein Stück davon mit, und der Arm um seinen Hals sank herab, während Marsh spürte, wie Blut seine Schulter benetzte. Er warf sich nach vorn, der Jolle entgegen, und schaffte den halben Abstand, schlug schwer auf die Wasserfläche auf, mit dem Bauch zuerst. Sämtliche Luft wurde ihm aus den Lungen gepreßt, und die Kälte traf ihn wie ein Schock. Abner Marsh ruderte mit den Armen und trat wild aus und bekam den Mund voll Wasser und Flußschlamm, ehe er wieder auftauchte. Er sah die Jolle schnell davontreiben, den Fluß hinunter, und paddelte auf sie zu. Ein Stein oder ein Messer klatschte dicht neben seinem Kopf ins Wasser, und ein anderer Gegenstand landete einige Zentimeter vor ihm, aber Toby hatte die Ruder eingelegt und bremste die Fahrt des Bootes etwas, und Marsh erreichte es und schob einen Arm über den Rand. Er brachte das Boot fast zum Kentern bei dem Versuch, hineinzuklettern, aber Joshua hatte ihn gepackt und zog ihn, und ehe er sich versah, lag Marsh auf dem Boden der Jolle und spuckte Wasser. Dann richtete er sich auf, sie waren mittlerweile sieben, acht Meter von der Fiebertraum entfernt und nahmen nun zügig Fahrt auf, als die Strömung sie voll erfaßte. Sour Billy Tipton hatte sich irgendwo eine Pistole besorgt, stand auf dem Vorderdeck und schoß auf sie, doch er traf nichts.

»Dieser verdammte Bastard!« stieß Marsh hervor. »Ich hätte ihn töten sollen, Joshua.«

»Wenn Sie das getan hätten, dann wären wir niemals weggekommen.«

Marsh blickte finster. »Zur Hölle. Vielleicht. Ich glaube, es wäre die Sache fast wert gewesen.« Er schaute sich in der Jolle um. Toby ruderte und sah aus, als brauche er dringend Hilfe. Marsh nahm das andere Ruder. Karl Framm war noch bewußtlos. Marsh fragte sich insgeheim, wieviel Blut Valerie ihm wohl geraubt hatte. Valerie selbst machte keinen besonders guten Eindruck. Eingehüllt in Framms weite Kleider, den Hut tief ins Gesicht gezogen, sah sie aus, als schrumpfe sie im Tageslicht immer weiter ein. Ihre bleiche Haut hatte bereits einen rosigen Schimmer, und die großen violetten Augen erschienen klein, matt und schmerzerfüllt. Er fragte sich auch, ob sie es wirklich geschafft hatten, sich in Sicherheit zu bringen, während er das Ruder ins Wasser tauchte und sich dagegen stemmte. Der Arm schmerzte ihn, das Ohr blutete, und die Sonne strahlte hell vom Himmel und stieg dem Zenit entgegen.

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