Zwei Haussklaven hoben Joshua York vom Wagen und trugen ihn ins Haus, die breite geschwungene Treppe hinauf in ein Schlafzimmer. »Aber in einen dunklen Raum!« rief Abner Marsh zu ihnen hinauf. »Und zieht verdammt noch mal die Vorhänge zu, verstanden? Ich will dort nicht den kleinsten Sonnenstrahl sehen!« Er wandte sich zu seinen Gefährten um, während der Plantagenbesitzer, seine Söhne und zwei weitere Sklaven wieder hinausgingen, um sich um Valeries Leiche zu kümmern. Framm hatte einen Arm um Tobys Schultern gelegt, um sich auf den Beinen zu halten. »Sehen Sie zu, daß Sie endlich was Anständiges in den Magen bekommen, Mister Framm«, riet Marsh ihm.
Der Lotse nickte.
»Und vergessen Sie nicht, was passiert ist. Wir waren auf der Eli Reynolds, und deren Kessel ist explodiert. Dabei sind alle ums Leben gekommen — außer uns. Sie ist sofort gesunken, ziemlich weit weg von hier flußaufwärts, wo der Fluß am tiefsten ist. Das ist alles, was Sie wissen, klar? Den Rest erzähle ich.«
»Das ist mehr, als ich weiß«, sagte Framm. »Wie, zum Teufel, bin ich hierhergekommen?«
»Das soll Sie jetzt nicht interessieren. Befolgen Sie nur, was ich Ihnen gesagt habe.« Marsh wandte sich ab und stampfte die Treppe hinauf, während Toby Framm dabei behilflich war, sich in einen Sessel zu setzen.
Sie hatten Joshua auf ein breites Baldachinbett gelegt und waren gerade im Begriff, ihn auszuziehen, als Marsh hereinkam. Joshuas Gesicht und seine Hände sahen am schlimmsten aus, schrecklich verbrannt, doch selbst unter der Kleidung war die weiße Haut leicht gerötet. Er bewegte sich schwach, während sie ihm die Stiefel auszogen, und stöhnte. »Jesus, ist der Mann schlimm verbrannt«, meinte einer der Sklaven kopfschüttelnd.
Marsh blickte finster drein und trat an die Fenster, die weit geöffnet waren. Er schloß sie und legte auch die Läden vor. »Besorgt mir eine Decke oder so etwas«, befahl er, »damit ich sie davorhängen kann. Hier ist zuviel verdammtes Licht. Und zieht auch die Vorhänge um das Bett zu.« Er sagte das im polternden Ton eines Dampferkapitäns, der jeden Widerspruch im Keim erstickte.
Erst als es in dem Zimmer so finster war, wie Marsh es sich vorstellte, und eine gebeugte hagere Schwarze heraufgekommen war, um Yorks Verbrennungen mit Kräutern, Wundsalben und kalten feuchten Handtüchern zu behandeln, verließ Abner Marsh das Zimmer. Im Erdgeschoß saßen der Plantagenbesitzer — ein stämmiger hartgesichtiger Mann mit ausgeprägtem Kinn, der sich als Aaron Gray vorstellte — und zwei seiner Söhne mit Karl Framm bei Tisch. Der Duft der Speisen erinnerte Marsh daran, wie lange es her war, seit er das letztemal gegessen hatte. Er fühlte sich ausgehungert. »Setzen Sie sich zu uns, Cap’n«, bat Gray, und Marsh zog sich dankbar einen Stuhl heran und ließ sich Brathuhn, Maisbrot, süße Erbsen und Kartoffeln auf den Teller laden.
Joshua hat mit seiner Angst vor Fragen durchaus recht gehabt, dachte Marsh bei sich, während er seine Mahlzeit hinunterschlang. Die Grays stellten mindestens hundert Fragen, und Marsh beantwortete sie, so gut er konnte, wenn sein Mund nicht gerade voll war. Framm entschuldigte sich, während Marsh sich eine zweite Portion nahm — der Lotse sah immer noch sehr mitgenommen aus —, und ließ sich ein Bett zeigen. Je mehr Fragen Marsh beantwortete, desto unbehaglicher fühlte er sich. Er war kein geborener Lügner wie einige Flußleute, die er kannte, und das wurde mit jedem verdammten Wort deutlicher, das er hervorstotterte. Trotzdem überstand er die Mahlzeit irgendwie, obgleich Marsh sehr wohl bemerkte, daß Gray und sein ältester Sohn ihn einigermaßen seltsam betrachteten, als er seinen Nachtisch verzehrt hatte.
»Ihrem Nigger geht es gut«, sagte der zweite Sohn, während sie vom Tisch aufstanden, »und Robert ist losgefahren, um Doktor Moore zu holen, damit er die anderen beiden behandelt. Unterdessen wird Sally sich um sie kümmern. Es hat keinen Sinn, wenn Sie sich jetzt aufregen, Cap’n. Wahrscheinlich wollen Sie sich auch etwas ausruhen. Sie haben schließlich eine Menge durchgemacht, haben Ihren Dampfer und alle Ihre Freunde verloren.«
»Ja, das ist wahr«, gab Abner Marsh zu. Und kaum war ihm dieses Geständnis entschlüpft, da fühlte Marsh sich unendlich müde. Er hatte nun seit dreißig Stunden kein Auge mehr zugetan. »Das wäre jetzt genau das richtige für mich«, sagte er dankbar.
»Zeig ihm ein Zimmer, Jim!« bat der Pflanzer. »Und noch eins, Cap’n, Robert benachrichtigt auch noch den Totengräber. Wegen dieser armen Frau. Eine ganz tragische Sache, wirklich. Wie, sagten Sie, lautet ihr Name?«
»Valerie«, sagte Marsh. Er konnte sich absolut nicht an ihren Nachnamen erinnern, den sie genannt hatte. »Valerie York«, improvisierte er daher.
»Sie bekommt ein anständiges christliches Begräbnis«, versprach Gray, »es sei denn, Sie wollen sie zu ihrer Familie bringen, oder?«
»Nein«, sagte Marsh, »nein.«
»Gut. Jim, bring Cap’n Marsh nach oben. Gib ihm ein Zimmer gleich neben seinem bedauernswerten verbrannten Freund.«
»Klar, Daddy.«
Marsh schaute sich kaum in dem Zimmer um, in das man ihn führte. Er schlief wie ein Murmeltier.
Als er erwachte, war es dunkel.
Marsh richtete sich schwerfällig in seinem Bett auf. Das lange Rudern forderte seinen Tribut. Seine Gelenke knackten, wenn er sich bewegte, er hatte einen furchtbaren Krampf in den Schultern, und seine Arme fühlten sich an, als hätte jemand ständig mit einem dicken Eichenknüppel darauf eingeschlagen. Er stöhnte, rutschte vorsichtig zum Matratzenrand und stellte behutsam die nackten Füße auf den Boden. Jeder Schritt löste in ihm eine Schmerzwoge aus, als er zum Fenster ging und es weit öffnete, um etwas kühle Nachtluft ins Zimmer zu lassen. Draußen befand sich ein kleiner Steinbalkon, dahinter ein Streifen Chinabäume, und dann waren da noch die Felder, kahl und verlassen im Mondschein. In der Ferne konnte Marsh den matten Schein des Bagassehaufens erkennen, von dem noch immer ein Rauchschleier aufstieg. Jenseits davon war der Fluß aus dieser Entfernung nur ein winziger Schimmer.
Marsh fröstelte, schloß das Fenster und kehrte ins Bett zurück. In dem Zimmer war es jetzt ziemlich kühl; daher wickelte er sich in die Decken und drehte sich auf die Seite. Das Mondlicht schuf überall dunkle Nischen und Schatten, und die Möbel, die ihm allesamt fremd waren, wurden in dem vagen Licht beinahe unheimlich. Er konnte nicht schlafen. Seine Gedanken gingen auf die Reise, wanderten zu Damon Julian und der Fiebertraum und warfen die drängende Frage auf, ob der Dampfer immer noch an der Stelle lag, wo er ihn verlassen hatte. Er dachte auch an Valerie. Er hatte sie eingehend betrachten können, als sie sie unter dem Boot hervorgezogen hatten, und sie hatte keinen besonders schönen Anblick geboten. Niemals hätte man geglaubt, daß sie eine Schönheit war, blaß, voller Grazie und sinnlich, mit großen violetten Augen. Abner Marsh hatte Mitleid mit ihr und fand dies eine seltsame Reaktion angesichts der Tatsache, daß er einen Abend vorher um die gleiche Zeit versucht hatte, sie mit seiner Büffelflinte zu erlegen. Die Welt ist schon ein furchtbar seltsamer Ort, dachte, wenn sich an einem einzigen Tag so vieles so gründlich verändern kann.
Schließlich schlief er wieder ein.
»Abner«, erklang das Flüstern und störte seine Träume, »Abner, lassen Sie mich hinein!«
Abner Marsh setzte sich jäh auf. Joshua York stand auf seinem Balkon und klopfte mit der bleichen wunden Hand gegen die Fensterscheibe.
»Moment!« murmelte Marsh. Es war draußen noch stockfinster, und im Haus war alles still. Joshua lächelte, als Marsh aus dem Bett stieg und auf ihn zutappte. Sein Gesicht war von Rissen und Falten gezeichnet und wies Fetzen abgestorbener Haut auf. Marsh öffnete die Balkontüren, und Joshua trat ein, bekleidet mit seinem ramponierten weißen Anzug, der nun fleckig und zerknittert war. Erst als er sich im Zimmer befand, fiel Abner Marsh die leere Flasche ein, die er in den Fluß geschleudert hatte. Er wich plötzlich zurück. »Joshua, Sie haben doch — keinen Durst, oder?«
»Nein«, erwiderte Joshua York. Sein grauer Umhang wehte und flatterte im Wind, der durch die offenen Balkontüren hereinblies. »Ich wollte nicht das Schloß zerstören oder die Scheiben einschlagen. Haben Sie keine Angst, Abner.«
»Das war auch gut so«, sagte Marsh und betrachtete ihn. Yorks Lippen waren immer noch aufgesprungen, die Augen lagen in tiefen rotschwarzen Schächten, aber er hatte sich deutlich erholt. Noch gegen Mittag hatte er ausgesehen wie der leibhaftige Tod.
»Ja«, sagte Joshua, »Abner, ich bin gekommen, um mich zu verabschieden.«
»Wie bitte?« Marsh war völlig entgeistert. »Sie können nicht weg!«
»Ich muß, Abner. Man hat mich gesehen, wem immer diese Plantage gehört. Ich habe auch eine vage Erinnerung daran, daß mich ein Arzt behandelt hat. Morgen bin ich wieder geheilt. Was werden die Leute dann denken?«
»Was denken die erst, wenn sie Ihnen das Frühstück bringen und Sie gar nicht da sind?« hielt Marsh ihm entgegen.
»Zweifellos werden sie verwirrt reagieren, aber dafür lassen sich sehr viel einfacher passende Erklärungen finden. Sie werden genauso entsetzt reagieren wie Sie, Abner. Erklären Sie ihnen, ich sei im Fieberwahn davongelaufen. Niemand wird mich jemals finden.«
»Valerie ist tot«, sagte Marsh.
»Ja«, sagte Joshua. »Draußen steht ein Wagen mit einem Sarg. Ich dachte mir schon, daß er für sie gedacht ist.« Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich habe versagt. Ich habe mein ganzes Volk verraten, habe es ins Unglück gestürzt. Wir hätten sie niemals mitnehmen dürfen.«
»Sie hatte ihre Wahl getroffen«, wandte Marsh ein. »Wenigstens hat sie sich von ihm befreien können.«
»Frei«, sagte Joshua York bitter. »Ist das die Freiheit, die ich meinem Volk bringe? Ein trauriges Geschenk. Eine Zeitlang, ehe Damon Julian in mein Leben trat, wagte ich sogar zu träumen, daß Valerie und ich eines Tages vielleicht ein Paar werden könnten. Nicht nach Art meines Volkes, füreinander entflammt durch den Ruf des Blutes, sondern mit einer Leidenschaft füreinander, geboren aus Zärtlichkeit und Zuneigung und gegenseitiger Hingabe und Sehnsucht zueinander. Wir haben darüber gesprochen.« Sein Mund verzog sich traurig. »Sie hat an mich geglaubt. Und ich habe sie getötet.«
»Einen Teufel haben Sie«, widersprach Marsh. »Am Ende sagte sie, daß sie Sie liebte. Sie mußte ja nicht mit uns kommen. Sie wollte es so. Wir alle müssen uns entscheiden, haben Sie mal selbst gesagt. Ich glaube, sie hat die richtige Wahl getroffen. Sie war eine ungemein schöne Lady.«
Joshua York erschauerte. »In Schönheit wandelt sie wie wolkenlose Sternennacht«, sagte er leise und starrte auf die geballten Fäuste. »Manchmal frage ich mich, ob es irgendeine Stunde gibt, da meine Rasse in Ruhe leben kann, Abner. Die Nächte sind voller Blut und Schrecken, aber die Tage sind gnadenlos.«
»Wo wollen Sie denn hin?« fragte Marsh.
Joshua biß die Zähne zusammen. »Zurück.«
Marsh schüttelte den Kopf. »Das können Sie nicht!«
»Ich habe keine andere Wahl.«
»Sie sind doch gerade erst von dort geflohen«, sagte Marsh hitzig. »Nach allem, was wir auf uns genommen haben, um von dort zu verschwinden, können Sie nicht einfach aufstehen und wieder zurückgehen. Warten Sie ab! Verstecken Sie sich im Wald oder sonstwo, gehen Sie in irgendeine Stadt. Ich werde auch irgendwann von hier verschwinden, und dann treffen wir uns und schmieden Pläne, wie wir das Dampfschiff zurückerobern.«
»Schon wieder?« Joshua schüttelte den Kopf. »Es gibt da eine Geschichte, die ich Ihnen noch nicht erzählt habe, Abner. Es passierte vor langer Zeit, während meiner ersten Monate in England, als mich der rote Durst noch regelmäßig überkam und mich hinaustrieb auf die Suche nach Blut. Eines Abends hatte ich mich dagegen gewehrt und verloren, und ich schlich durstig durch die mitternächtlichen Straßen. Ich traf ein Pärchen, einen Mann und eine Frau, die eilig irgendwohin unterwegs waren. Meine Gewohnheit war, solche Beute aus Sicherheitsgründen entkommen zu lassen und nur jene anzugreifen, die allein waren. Aber der Durst hatte mich schrecklich gepackt, und selbst auf diese Entfernung konnte ich sehen, daß die Frau sehr schön war. Sie zog mich an, wie eine Flamme die Motten anlockt, und ich näherte mich ihr. Ich griff aus der Dunkelheit an, legte die Hände um den Hals des Mannes und riß ihm die halbe Kehle weg, wie ich annahm. Dann stieß ich ihn beiseite, und er fiel. Es war ein großer Mann. Ich nahm die Frau in die Arme und beugte mich sanft mit den Zähnen zu ihrem Hals hinunter. Meine Augen fixierten sie, versetzten sie in einen Trancezustand. Ich hatte gerade den ersten heißen süßen Schwall Blut geschmeckt, als ich von hinten erfaßt und von ihr weggerissen wurde. Es war der Mann, ihr Begleiter. Ich hatte ihn überhaupt nicht getötet. Sein Hals war kräftig und dick von Muskeln und Fett, und als ich ihn aufriß, blutete er heftig, aber er war noch immer auf den Beinen. Er sagte kein Wort. Er hob einfach die Fäuste wie ein Preisboxer und schlug mir mitten ins Gesicht. Er war ziemlich stark. Der Schlag betäubte mich und führte zu einer Platzwunde über dem Auge. Ich war bereits reichlich abgelenkt. So von seinem Opfer weggerissen zu werden, ist ein widerwärtiges Gefühl, macht einen benommen und durcheinander. Der Mann schlug mich erneut, und ich versetzte ihm einen brutalen Hieb. Er brach zusammen, hatte lange Risse in seiner Wange, und eines der Augen hing ihm halb aus dem Schädel. Ich wandte mich wieder der Frau zu und preßte den Mund auf die offene Wunde. Und dann stürzte er sich erneut auf mich. Ich riß seinen Arm von mir los und fetzte ihn fast aus dem Gelenk, und dann brach ich ihm noch schnell mit einem Tritt das Bein — als Denkzettel sozusagen. Er brach zusammen. Diesmal beobachtete ich ihn. Mühsam raffte er sich wieder auf, hob die Fäuste kampfbereit und kam auf mich zu. Zweimal noch schlug ich ihn nieder, und zweimal erhob er sich wieder. Schließlich brach ich ihm das Genick, und er starb, und dann tötete ich seine Frau.
Anschließend konnte ich ihn nicht vergessen. Er mußte gewußt haben, daß ich nicht ganz menschlich war. Er mußte erkannt haben, so stark er auch war, daß er gegen meine Kraft nichts ausrichten konnte, gegen meine Schnelligkeit, meinen Durst. Ich war abgelenkt durch meine Gier und durch die Schönheit seiner Gefährtin, und ich tötete nicht auf Anhieb. Er hätte verschont werden können. Er hätte weglaufen können. Er hätte auch um Hilfe rufen können. Er hätte sich sogar wegschleichen und irgendwo eine Waffe besorgen können. Aber er tat es nicht. Er sah die Frau in meinen Armen, sah, wie ich ihr Blut trank, und er konnte an nichts anderes denken als daran, aufzustehen und sich mit seinen großen dummen Fäusten auf mich zu stürzen. Als ich Zeit zum Nachdenken fand, ertappte ich mich dabei, wie ich seine Kraft, seinen wahnwitzigen Mut und die Liebe, die er für diese Frau empfunden haben mußte, zutiefst bewunderte.
Aber, Abner, trotz allem war er dumm. Er rettete weder seine Lady noch sich selbst.
Und Sie erinnern mich an diesen Mann, Abner. Julian hat Ihnen die Fiebertraum weggenommen, und Sie können an nichts anderes denken, als sie sich zurückzuholen; daher stehen Sie auf, nehmen die Fäuste hoch und greifen an, und Julian trifft Sie und schickt Sie wieder zu Boden. Eines Tages werden Sie nicht mehr aufstehen können, wenn Sie Ihre Angriffe fortsetzen. Abner, geben Sie auf!«
»Was, zum Teufel, reden Sie da?« fragte Marsh wütend. »Es sind Julian und seine Vampire, die sich jetzt in acht nehmen müssen. Dieser gottverdammte Dampfer fährt ohne Lotsen nirgendwo mehr hin.«
»Ich kann sie steuern«, meinte Joshua York.
»Und werden Sie das tun?«
»Ja.«
Marsh fühlte sich krank und wie zerschlagen vor Wut über diesen Verrat. »Warum?« wollte er wissen. »Joshua, Sie sind doch gar nicht wie die anderen!«
»Doch, das bin ich, wenn ich nicht zurückkehre«, erklärte York ernst. »Wenn ich nicht mein Elixier habe, dann wird der Durst mich wieder heimsuchen, und das noch viel heftiger nach den ganzen Jahren, in denen ich ihn unter Kontrolle halten konnte. Und dann werde ich töten und trinken und genauso sein wie Julian. Und wenn ich das nächstemal zu nächtlicher Stunde ein Schlafzimmer betrete, dann nicht, um mich zu unterhalten.«
»Dann kehren Sie nur zurück! Holen Sie sich Ihr verdammtes Getränk! Aber bewegen Sie den Dampfer nicht von der Stelle, nicht eher jedenfalls, als bis ich ebenfalls dort erscheine.«
»Mit bewaffneten Männern. Mit angespitzten Holzpflöcken und Haß im Herzen. Um zu töten. Das werde ich nicht zulassen.«
»Auf wessen Seite stehen Sie dann?«
»Auf der Seite meines Volks.«
»Also auf Julians Seite«, zischte Marsh und spuckte aus.
»Nein«, widersprach Joshua York. Er seufzte. »Hören Sie zu, Abner, und versuchen Sie zu verstehen. Julian ist der Blutmeister. Er beherrscht sie alle. Einige von ihnen sind genauso wie er, verdorben, böse. Katherine, Raymond, andere, sie folgen ihm bereitwillig. Aber nicht alle. Sie haben Valerie gesehen, Sie haben sie heute im Boot reden hören. Ich bin nicht allein. Unsere Rassen unterscheiden sich gar nicht so wesentlich. Wir alle haben das Gute und das Böse in uns, und wir alle träumen. Wenn Sie den Dampfer angreifen, wenn Sie sich gegen Julian stellen, dann werden sie ihn verteidigen, ganz gleich, welche persönlichen Hoffnungen sie hegen. Jahrhunderte der Unterwerfung und der Angst treiben sie dann an. Ein Strom aus Blut wird zwischen Tag und Abend fließen, der nur schwer durchschritten werden kann. Diejenigen, die zögern — wenn es überhaupt jemand ist —, werden ausgebootet.
Wenn Sie kommen, Abner, Sie und Ihre Leute, dann wird der Tod regieren. Und nicht Julians Tod allein. Die anderen werden ihn beschützen, und sie werden dabei untergehen, und Ihre Leute ebenfalls.«
»Manchmal muß man eben ein Risiko auf sich nehmen«, sagte Marsh. »Und diejenigen, die Julian helfen, verdienen es sowieso zu sterben.«
»Tun sie das?« Joshuas Gesicht zeigte Trauer. »Vielleicht ist es so. Vielleicht sollten wir alle sterben. Wir sind in dieser Welt, die Ihre Rasse für sich gebaut hat, fehl am Platze. Ihre Rasse hat uns bis auf eine Handvoll ausgerottet. Vielleicht ist es an der Zeit, auch die letzten Überlebenden noch abzuschlachten.« Er lächelte grimmig. »Wenn es das ist, was Sie vorhaben, Abner, dann denken Sie daran, wer ich bin. Sie sind mein Freund, aber die anderen sind Blut von meinem Blut: mein Volk, Ich gehöre zu ihnen. Ich dachte, ich sei ihr König.«
Seine Stimme klang so bitter und verzweifelt, daß Abner Marshs Wut verflog. Statt dessen empfand er Mitleid. »Sie haben alles versucht und sich Mühe gegeben«, sagte er.
»Ich habe versagt. Ich habe auch Valerie nicht helfen können, und Simon und allen anderen, die an mich geglaubt haben. Ich habe euch und Mister Jeffers geschadet, und ich habe auch das kleine Kind umkommen lassen. Ich glaube, auf irgendeine seltsame Art habe ich auch Julian verraten.«
»Es war nicht Ihre Schuld«, beharrte Marsh.
Joshua York hob die Schultern, aber in seinen grauen Augen lag ein entschlossener kalter Ausdruck. »Was vergangen ist, ist vergessen. Ich denke nur noch an heute und an morgen und an übermorgen. Ich muß zurück. Sie brauchen mich, auch wenn sie das vielleicht nicht erkennen. Ich muß zurückkehren und mein möglichstes tun, so wenig und unwichtig es vielleicht auch sein mag.«
Abner Marsh schnaubte. »Und Sie raten mir zur Aufgabe? Meinen Sie, ich sei wie dieser arme Narr, der Sie ständig angegriffen hat? Verdammt, Joshua, was ist mit Ihnen? Wie oft hat Julian sich jetzt an Ihnen gelabt? Mir kommt es so vor, als seien Sie genauso verflucht stur und dumm, wie Sie es von mir behaupten.«
Joshua lächelte. »Vielleicht«, gab er zu.
»Verflucht noch mal«, schimpfte Marsh. »Na schön, gehen Sie zurück zu Julian wie ein armseliger Idiot. Was, zum Teufel, soll ich jetzt tun?«
»Sie sollten lieber so schnell wie möglich von hier verschwinden«, riet Joshua ihm, »ehe unsere Gastgeber noch mißtrauischer werden, als sie es ohnehin schon sind.«
»Soviel habe ich mir auch schon gedacht.«
»Es ist vorbei, Abner. Suchen Sie nicht mehr nach uns.«
Abner Marsh schüttelte wütend den Kopf. »Verdammt noch mal!«
Joshua lächelte. »Sie verfluchter Narr«, sagte er. »Nun, dann suchen Sie, wenn Sie es nicht lassen können. Sie werden uns nicht finden.«
»Ich werde sehen.«
»Vielleicht gibt es für uns noch Hoffnung. Ich kehre zurück, zähme Julian und errichte meine Brücke zwischen Nacht und Tag, und zusammen werden Sie und ich die Eclipse besiegen.«
Abner Marsh schnaubte abfällig, doch tief in seinem Innern wollte er daran glauben. »Kümmern Sie sich um mein verdammtes Dampfschiff«, sagte er. »Es gab nie ein schnelleres, und wenn ich sie zurückbekomme, dann sollte es schon in gutem Zustand sein.«
Als Joshua lächelte, sprang die trockene tote Haut um seinen Mund auf. Er hob eine Hand und riß die Haut ab. Sie ließ sich leicht abziehen, als wäre sie Teil einer Maske, die er trug, einer häßlichen Fratze voller Narben und Falten. Darunter war die Haut milchig weiß, rein und glatt, bereit, von neuem zu beginnen, bereit, daß die Welt sich darauf verewigte. York zerknüllte das alte Gesicht in der Hand; Flocken alten Schmerzes und Hautschuppen rieselten durch seine Finger und segelten zu Boden. Er wischte sich die Hand an der Jacke ab und streckte sie Abner Marsh entgegen. Sie schüttelten sich die Hände.
»Wir alle müssen unsere Wahl treffen«, sagte Marsh. »Das haben Sie mir gesagt, Joshua, und Sie hatten recht. Diese Wahl ist nicht immer leicht. Ich glaube, eines Tages sind auch Sie mit dieser Wahl an der Reihe. Zwischen Ihrem Volk der Nacht — und nun, nennen Sie es das Gute. Recht zu handeln. Sie wissen genau, was ich meine. Entscheiden Sie sich richtig, Joshua.«
»Und Sie, Abner, entscheiden Sie für sich stets weise.«
Joshua York wandte sich mit flatterndem Umhang um und ging hinaus. Er setzte mit lässiger Eleganz über die Balustrade und sprang sieben Meter weit in die Tiefe auf den Erdboden, als täte er dies jeden Tag, und landete geschickt auf den Füßen. Dann war er nicht mehr zu sehen, war verschwunden und bewegte sich so schnell, daß er mit der Nacht zu verschmelzen schien. Vielleicht hat er sich auch in einen verfluchten Nebelhauch verwandelt, dachte Abner Marsh.
Weit weg, auf dem hellen Streifen, der zum Fluß gehörte, betätigte ein Dampfer seine Pfeife. Es war ein melancholischer Ruf, irgendwie verloren und einsam. Es war eine schlimme Nacht auf dem Fluß. Aber Marsh fröstelte und fragte sich, ob es gar schon gefroren hatte. Er schloß die Balkontür und ging wieder zu Bett.