KAPITEL EINUNDDREISSIG

New Orleans, Mai 1870

Die Gallatin Street sah aus wie die Hauptstraße durch die Hölle, fand Abner Marsh, während er sie entlangeilte. Sie war gesäumt mit Tanzhallen, Saloons und Freudenhäusern, alle überfüllt, schmuddelig und laut, und auf den Gehsteigen wimmelte es von Betrunkenen, Huren und Taschendieben. Die Huren riefen ihm spöttische Einladungen hinterher, die in wütendes Geschrei übergingen, als er sie nicht beachtete. Rauhe Männer mit kalten Augen und mit Messern und Messingschlagringen musterten ihn mit einem Ausdruck offener Feindseligkeit und weckten in ihm den Wunsch, nicht so wohlhabend und gleichzeitig so gottverdammt alt auszusehen. Er überquerte die Straße, um einer Schlange von Männern vor einer Tanzhalle auszuweichen, die dicke Eichenknüppel in den Händen hielten, und stand plötzlich vor dem Green Tree.

Es war eine Tanzhalle wie alle anderen, ein Höllenloch, das von anderen Höllenlöchern umgeben war. Marsh drängte sich hinein. Das Innere war verraucht, überfüllt und lag im Halbdunkel. Paare bewegten sich durch den bläulichen Dunst, drehten sich im Rhythmus zu der primitiven lauten Musik. Einer der Männer, ein rundlicher unrasierter Bursche in einem roten Flanellhemd, stolperte mit einer Partnerin über den Tanzboden, die aussah, als wäre sie ohnmächtig. Der Mann drückte und massierte ihre Brust durch das dünne Kalikokleid, während er sie stützte und mit sich schleifte. Die anderen Tänzer beachteten das Paar nicht. Die Frauen waren typische Tanzhallenmädchen in verblichenen Kalikokleidern und mit ausgefransten Schuhen an den Füßen. Während Marsh sich suchend umsah, stolperte der Mann im roten Hemd, ließ seine Partnerin fallen und stürzte auf sie; brüllendes Gelächter brandete auf. Er fluchte und kam schwankend wieder auf die Füße, während die Frau liegenblieb. Dann, während das Gelächter versiegte, beugte er sich über sie und packte ihr Kleid vor der Brust und zog daran. Der Stoff zerriß, und er fetzte ihr das Kleidungsstück vom Leib und schleuderte es grinsend beiseite. Sie trug nichts darunter als einen roten Strumpfhalter um einen strammen weißen Oberschenkel, mit einem kleinen Dolch darin. Der Griff war rosafarben und herzförmig. Der Mann in dem roten Hemd knöpfte sich bereits die Hose auf, als zwei Rausschmeißer sich von beiden Seiten auf ihn zubewegten. Es waren massige rotgesichtige Männer mit Messingschlagringen und dicken Holzknüppeln. »Geh mit ihr nach oben!« knurrte einer von ihnen. Der Mann im roten Hemd fluchte los, lud sich aber die Frau auf die Schulter und stolperte mit ihr davon, begleitet von weiterem Gelächter.

»Wolln Se tanzen, Mister?« raunte eine lallende Frauenstimme in Marshs Ohr. Er drehte sich um und sah sie drohend an. Die Frau wog sicherlich genausoviel wie er. Sie war teigig weiß und nackt, wie sie zur Welt gekommen war, bis auf einen schmalen Ledergürtel, an dem zwei Messer hingen. Sie lächelte und streichelte Marshs Wangen, ehe er sich brüsk von ihr abwandte und seinen Weg durch das Gedränge fortsetzte. Er machte eine Runde durch den Raum auf der Suche nach Joshua. In einer besonders lauten Ecke hatte sich ein Dutzend Männer um eine Holzkiste versammelt, rülpste und brüllte, während man einen Rattenkampf verfolgte. An der Bar standen die Männer in zwei Reihen, und fast jeder von ihnen war bewaffnet und machte eine gefährlichen Eindruck. Marsh murmelte in einem fort Entschuldigungen und schob sich an einem ziemlich windig aussehenden Burschen vorbei, der sich eine Garotte an den Gürtel gehängt hatte und angeregt mit einem Mann sprach, der ein Pistolenhalfter trug. Der Mann mit der Garotte verstummte und beäugte Marsh argwöhnisch, bis der andere ihm etwas zurief und er sich wieder in seine Unterhaltung vertiefte. »Whiskey!« verlangte Marsh und lehnte sich an die Bar.

»Dieser Whiskey wird Ihnen ein Loch in den Magen brennen, Abner«, sagte der Barkeeper leise, wobei seine Stimme sogar den ohrenbetäubenden Lärm in der Halle durchdrang. Abner Marshs Mund klappte auf. Der Mann hinter der Bar, der ihn anlächelte, trug eine ausgebeulte grobe Hose, die durch einen Strick als Gürtel gehalten wurde, ein weißes Hemd, das so schmutzig war, daß es eher grau wirkte, und eine schwarze Weste. Aber das Gesicht war dasselbe wie vor dreizehn Jahren, bleich und faltenlos, eingerahmt von jenem glatten weißen Haar, das nun ein wenig zerzaust wirkte. Joshua Yorks Augen schienen im Halbdunkel der Tanzhalle von innen zu leuchten. Er streckte eine Hand über die Bartheke und ergriff Marshs Arm. »Kommen Sie mit nach oben«, sagte er drängend, »dort können wir reden.«

Als er um die Bar herumkam, starrte der andere Barkeeper ihn an, und ein drahtiger kleiner Mann in einem dunklen Anzug kam herangewieselt und sagte: »Wo, zum Teufel, gehst du hin? Zurück hinter die Theke, und schenk Whiskey aus!«

»Ich kündige«, erwiderte Joshua.

»Kündigen? Ich schlitz dir die verdammte Gurgel auf!«

»Wirklich?« fragte Joshua. Er wartete, schaute sich in dem plötzlich still gewordenen Raum um und forderte alle nur mit seinen Blicken heraus. Keiner rührte sich. »Ich bin mit meinem Freund oben, falls jemand es mal versuchen möchte«, sagte er zu dem halben Dutzend Rausschmeißer, die sich an der Bar eingefunden hatten. Dann ergriff er Marshs Ellbogen und führte ihn vorbei an den Tanzenden zu einer schmalen Hintertreppe. Im Geschoß darüber befanden sich ein kurzer Flur, der von einer flackernden Gasflamme erleuchtet wurde, sowie ein halbes Dutzend Zimmer. Geräusche waren hinter einer der geschlossenen Türen zu hören, Grunzen und Stöhnen. Eine andere Tür stand offen, und ein Mann lag ausgebreitet davor auf dem Fußboden, das Gesicht nach unten, halb innerhalb und halb außerhalb des Zimmers. Während sie über ihn hinwegstiegen, sah Marsh, daß es der Mann im roten Hemd aus der Halle war. »Was, zum Teufel, ist denn mit dem passiert?« fragte Marsh laut.

Joshua York zuckte die Achseln. »Bridget ist wahrscheinlich aufgewacht, hat ihn zusammengeschlagen und ihm das Geld abgenommen. Sie ist ein richtiger Schatz. Ich glaube, sie hat mit ihrem kleinen Messer mindestens vier Leute umgebracht. Sie schnitzt sich Kerben in dieses Herzchen an ihrem Messer.« Er verzog das Gesicht. »Wenn es um das Thema Blutvergießen geht, Abner, dann gibt es nur noch wenig, was mein Volk dem Ihren beibringen kann.«

Joshua öffnete die Tür zu einem leeren Zimmer. »Hier drin, wenn Sie wollen.« Er schloß die Tür hinter sich, nachdem er eine der Lampen angezündet hatte.

Marsh ließ sich schwer auf das Bett sinken. »Herrgott im Himmel«, sagte er, »das ist aber ein schlimmes Loch, in das Sie mich bestellt haben, Joshua. Das ist ja so schlimm wie Natchez‐under‐the‐Hill vor dreißig Jahren. Ich will verdammt sein, wenn ich jemals damit gerechnet hätte, Sie an einem solchen Ort wiederzusehen.«

Joshua York lächelte und ließ sich in einem zerschlissenen alten Sessel nieder. »Das gilt auch für Sour Billy und für Julian. Das ist der Punkt. Ich weiß, daß sie nach mir suchen. Aber selbst wenn sie vorhaben sollten, auch in der Gallatin Street nachzusehen, wird es schwierig für sie. Julian würde allein schon wegen seines offensichtlichen Reichtums angegriffen, und Sour Billy kennt man hier vom Sehen. Er hat zu viele Frauen von hier weggeholt, die nie wieder aufgetaucht sind. Heute waren mindestens zwei Männer im Green Tree, die ihn sofort getötet hätten. Die Straßen draußen gehören den Live Oak Boys, der Knüppelbande, die Sie vielleicht schon gesehen haben, die Billy einfach so zum Spaß totprügeln könnten, wenn sie nicht beschließen, ihm zu helfen.« Er zuckte die Achseln. »Nicht einmal die Polizei wagt sich in die Gallatin Street. Ich bin hier so sicher wie nirgends, und in dieser Straße fallen meine nächtlichen Gewohnheiten nicht sonderlich auf. Sie sind hier völlig normal.«

»Vergessen Sie das mal einstweilen«, sagte Marsh ungeduldig. »Sie haben mir einen Brief geschickt. Sie schrieben, Sie hätten Ihre Wahl getroffen. Sie wissen, warum ich hergekommen bin, aber ich bin mir nicht ganz sicher, warum Sie mich riefen. Vielleicht sollten Sie mir das mal verraten.«

»Ich weiß kaum, wo ich anfangen soll. Es ist so lange her, Abner.«

»Für mich ebenfalls«, sagte Marsh unwirsch. Dann wurde seine Stimme etwas leiser. »Ich habe Sie gesucht, Joshua. Länger, als ich mir anfangs vorstellen konnte, habe ich versucht, Sie und meinen Dampfer zu finden. Aber der Fluß war so verdammt groß, und ich hatte weder genug Zeit noch genug Geld.«

»Abner«, sagte York, »selbst wenn Sie alle Zeit und alles Geld dieser Welt gehabt hätten, dann hätten Sie uns auf dem Fluß niemals gefunden. Während der letzten dreizehn Jahre hat die Fiebertraum auf dem Trockenen gelegen. Sie liegt in der Nähe der alten Indigogruben auf der Plantage, die Julian gehört, ungefähr fünfhundert Meter vom Bayou entfernt, aber gründlich versteckt.«

Marsh sagte: »Wie zum Teufel …«

»Das war mein Werk. Lassen Sie mich von Anfang an erzählen.« Er seufzte. »Ich muß dreizehn Jahre zurückgehen bis zu dem Abend, da wir uns trennten.«

»Ich erinnere mich.«

»Ich zog so schnell wie möglich flußaufwärts«, begann Joshua, »versessen auf die Rückkehr und voller Furcht, daß der rote Durst mich wieder überkäme. Vorwärtszukommen war recht schwierig, aber ich erreichte die Fiebertraum am zweiten Abend nach meinem Aufbruch. Sie hatte sich kaum vom Fleck gerührt. Sie hatte jetzt einen größeren Abstand zum Ufer, und die dunklen Fluten umspülten sie auf beiden Seiten. Es war ein nebliger kalter Abend, als ich mich ihr näherte, und sie wirkte völlig tot und dunkel. Kein Rauch, kein Dampf, nicht eine Flamme war zu sehen, so still war es, daß ich sie in dem Nebel beinahe verfehlt hätte. Ich wollte nicht, aber ich wußte, daß es sein müßte. Ich schwamm hinüber.« Er zögerte kurz. »Abner, Sie wissen ja, welches Leben ich geführt habe. Ich habe viele schreckliche Dinge gesehen und getan. Aber nichts war mit dem Zustand zu vergleichen, in dem ich den Dampfer vorfand, absolut nichts.«

Marshs Gesicht verhärtete sich. »Reden Sie weiter!«

»Ich erzählte Ihnen ja bereits, daß ich annahm, Damon Julian sei verrückt.«

»Ich kann mich entsinnen.«

»Verrückt und gedankenlos und voller Todesträume«, fuhr Joshua fort. »Und er hatte es bewiesen. O ja. Er hatte es bewiesen. Als ich an Deck kletterte, herrschte auf dem Dampfer Totenstille. Kein Laut, keine Bewegung, nur der Fluß, der rauschend vorbeiströmte. Ich wanderte unbehelligt durch das ganze Schiff.« Seine Augen waren auf Abner Marsh gerichtet, aber sie hatten einen weitentfernten, leicht glasigen Ausdruck, als sähen sie etwas anderes, etwas, das sie immer sahen. York verstummte.

»Erzählen Sie schon, Joshua!« drängte Marsh.

Yorks Mund wurde zu einem schmalen Strich. »Es war ein Schlachthaus, Abner.« Er ließ die simple Feststellung für einen Moment einfach in der Luft hängen, ehe er fortfuhr: »Überall lagen Leichen. Überall. Und auch nicht unversehrt. Ich ging über das Hauptdeck und fand Leichen … zwischen der Fracht und den Maschinen im hinteren Teil. Da waren … Arme, Beine, andere Körperteile. Losgerissen. Abgetrennt. Die Sklaven, die Heizer, die Billy gekauft hatte, die meisten trugen noch ihre Fesseln, tot, die Kehlen aufgerissen. Der Maschinist war mit dem Kopf nach unten über dem Kolben aufgehängt und aufgeschnitten worden … Er muß verblutet sein … als könnte Blut die Rolle von Schmieröl übernehmen.« Joshua schüttelte knapp den Kopf. »Diese große Zahl von Toten, Abner. Das können Sie sich nicht vorstellen. Und wie sie zerfetzt, verstümmelt waren. Der Nebel war ins Schiff eingedrungen, daher konnte ich das Grauen nicht in seinem ganzen Ausmaß auf Anhieb erkennen. Ich ging umher, wanderte herum, und die Dinge tauchten plötzlich vor mir auf, wo noch vor einem winzigen Augenblick gar nichts gewesen war, als undeutliche Schatten und ein dahintreibender Nebelschleier. Und ich sah das ganze Grauen, das der Nebel für meine Augen enthüllte, und ich wich zurück, tat zwei, drei Schritte, ehe der Dunst sich erneut verzog und weitere Schrecklichkeiten preisgab.

Schließlich, krank, niedergeschlagen und erschüttert, stieg ich die breite Treppe zum Kesseldeck hinauf. Der Salon … Dort sah es genauso aus. Leichen und Leichenteile. So viel Blut war vergossen worden, daß der Teppich noch immer triefnaß war, sogar nach dieser Zeit. Überall fand ich Zeichen des Kampfes. Dutzende von Spiegeln waren zerschlagen, drei oder vier Kabinentüren zertrümmert, Tische umgekippt worden. Auf einem Tisch, der immer noch auf seinen Beinen stand, befand sich ein menschlicher Kopf auf einem Silbertablett. Niemals habe ich Schlimmeres gesehen als in der Zeit, als ich durch den Salon schritt, insgesamt knapp hundert furchtbare Meter entlang. Nichts rührte sich in der Dunkelheit, in dem Nebel. Nichts Lebendiges sah ich. Ich ging ruhelos hin und her und wußte nicht, was ich tun sollte. Ich blieb vor dem Wasserkühler stehen, diesem großen, reich verzierten Ungetüm, den Sie am vorderen Ende der Kabine aufgestellt hatten. Meine Kehle war sehr trocken. Ich nahm eine der Silbertassen und drehte an dem Hahn. Das Wasser … das Wasser floß langsam, Abner. Sehr langsam. Sogar in der Dunkelheit des Salons konnte ich erkennen, daß es schwarz war und zähflüssig. Halb … geronnen.

Ich stand da, mit der Tasse in der Hand, schaute mich verständnislos um, und meine Nase füllte sich mit dem Geruch … diesem Geruch, ich brauche kaum zu erwähnen, daß der Geruch furchtbar war, er … aber ich glaube, das können Sie sich vorstellen. Ich stand inmitten diese grauenvollen Infernos und beobachtete das quälend langsame Heraussickern aus dem Wasserkühler. Ich hatte das Gefühl, als würde ich gleich ersticken. Mein Grauen, diese Wut, ich spürte … wie es in mir hochstieg. Ich schleuderte die Tasse quer durch die Kabine, und ich schrie.

Dann begannen die Laute. Flüstern, Klopfen, Betteln, Jammern, Drohungen. Stimmen, Abner, lebendige Menschenstimmen. Ich schaute mich um, und mir wurde noch elender. Mindestens ein Dutzend Kabinen war zugenagelt worden, und die Bewohner waren darin gefangen. Und warteten, so wußte ich, auf heute oder auf morgen abend. Julians lebendige Vorratskammer. Ich fing an zu zittern. Ich ging zur nächsten Tür und fing an, die Bretter herunterzureißen, die sie geschlossen hielten. Sie lösten sich mit lautem Quietschen und Knarren, fast wie mit einem Schmerzensschrei. Ich war immer noch mit dieser Tür beschäftigt, als er meinte: ›Lieber Joshua, hör sofort damit auf. Armer verirrter Joshua, komm zu uns zurück!‹

Als ich mich umwandte — waren sie plötzlich. Julian lächelte mich an, Sour Billy stand neben ihm, und die anderen, alle anderen, sogar meine eigenen Leute, Simon, Smith und Brown, alle, die noch übrig waren … schauten mich an. Ich schrie sie an, wild und unkontrolliert. Sie waren meinesgleichen, und dennoch hatten sie das getan, Abner. Ich war so voller Haß und Abscheu …

Später, mehrere Tage später erfuhr ich dann die ganze Geschichte, erhielt ich Kenntnis vom vollen Umfang von Julians Wahnsinn. Vielleicht war es meine Schuld, in gewisser Weise. Indem ich Sie und Toby und Mister Framm rettete, verursachte ich den Tod von mehr als hundert unschuldigen Passagieren.«

Abner Marsh schnaubte. »Nein«, sagte er, »was geschehen ist, ist allein Julian zuzuschreiben. Es war Julian, der es getan hat, und er muß sich dafür verantworten. Sie waren ja noch nicht einmal in der Nähe, also machen Sie sich auch keine Vorwürfe, hören Sie?«

Joshuas graue Augen waren voller Sorgen. »Das habe ich mir selbst schon mehrmals gesagt«, meinte er. »Lassen Sie mich meine Geschichte beenden. Folgendes war geschehen: Julian war an diesem Abend erwacht und hatte festgestellt, daß wir verschwunden waren. Er raste vor Wut. Er war wie ein wildes Tier. Seine Wut läßt sich wohl mit Worten nicht ausdrücken. Vielleicht war es auch der rote Durst, der in ihm erwachte, nach all den Jahrhunderten. Außerdem muß es für ihn ausgesehen haben, als stünde eine allgemeine Vernichtung bevor. Seine Lotsen waren weg. Der Dampfer konnte sich ohne Lotsen überhaupt nicht vom Fleck rühren. Und er muß gewußt haben, daß Sie vorhatten, zurückzukehren, bei Tag anzugreifen und ihn zu vernichten. Er vermutete wohl nicht, daß statt dessen ich zurückkäme. Zweifellos haben mein Verrat und Valeries Flucht ihn mit Angst erfüllt, mit Ungewißheit, was als nächstes geschehen konnte. Er hatte die Kontrolle verloren. Er war Blutmeister, und dennoch haben wir alle gegen seinen Willen gehandelt. In der langen Geschichte des Nachtvolkes ist so etwas bisher noch nie geschehen. Ich denke, daß in jener schrecklichen Nacht Damon Julian den Tod sah, nach dem er sich sehnte, den er aber auch gleichzeitig fürchtete.

Wie ich später erfuhr, drängte Sour Billy, daß sie alle an Land gehen und sich trennen sollten. Sie wollten getrennt weiterziehen und sich später in Natchez oder in New Orleans treffen. Das wäre vernünftig gewesen. Aber Julian war nicht mehr ansprechbar. Er hatte soeben die Hauptkabine betreten, der Wahnsinn loderte in seinen Augen, als ein Passagier auf ihn zutrat und sich beschweren wollte, daß der Dampfer längst Verspätung und sich einen ganzen Tag nicht von der Stelle gerührt habe. ›Aha‹, sagte Julian, ›dann müssen wir schnell etwas unternehmen.‹ Er ließ das Schiff etwas weiter in die Flußmitte manövrieren, damit niemand an Land konnte. Danach kehrte er in die Hauptkabine zurück, wo die Passagiere zu Abend aßen, trat zu dem Mann, der sich beschwert hatte, und tötete ihn vor den Augen aller Anwesenden.

Dann begann das Gemetzel. Natürlich schrien die Leute, rannten davon, versteckten sich und schlossen sich in ihren Kabinen ein. Aber es gab keinen sicheren Ort. Und Julian setzte seine Macht ein, benutzte seine Stimme und seine Augen und schickte seine Leute los zum Töten. Ich glaube, die Fiebertraum hatte an jenem Abend etwa hundertdreißig Passagiere an Bord sowie zwanzig Angehörige meines Volks, einige getrieben vom roten Durst, andere von Julians Einfluß. Aber der Durst kann in solchen Momenten furchtbar sein. Wie ein Fieber kann er von einem zum anderen springen, bis alle davon verzehrt werden. Sour Billy veranlaßte die Männer, die er in Natchez‐under‐the‐Hill angeheuert hatte, ebenfalls in den Kampf einzugreifen. Er sagte ihnen, es sei Teil eines Plans, die Passagiere auszurauben und zu töten, und daß sie sich nachher die Beute teilen würden. Als meine Leute sich schließlich auch gegen ihre menschlichen Helfer wandten, war es zu spät.

Es passierte, während wir in jener letzten Nacht oben am Balkon standen und uns unterhielten, Abner. Die Schreie, das Gemetzel, Julians wilde Todeszuckungen. Nicht alles verlief ganz nach seinem Willen. Die Passagiere wehrten sich. Ich erfuhr, daß praktisch jeder meiner Leute irgendwelche Wunden davontrug, obgleich die natürlich sofort wieder verheilten. Vincent Thibaut wurde ins Auge geschossen, und er starb. Katherine wurde von zwei Heizern gepackt und in einen Ofen gestopft. Sie verbrannten sie, ehe Kurt und Alain einschreiten konnten. Demnach fanden zwei meiner Leute den Tod. Zwei von uns und weit über hundert von Ihrer Rasse. Die Überlebenden wurden in ihren Kabinen eingesperrt.

Als es vorüber war, begann für Julian das Warten. Die anderen waren voller Angst und wollten fliehen, aber das ließ Julian nicht zu. Er wollte entdeckt werden, so glaube ich. Man erzählt sich, er habe von Ihnen gesprochen, Abner.«

»Von mir?« Marsh war wie vom Donner gerührt.

»Er versprach Ihnen angeblich, daß der Fluß die Fiebertraum niemals vergessen werde. Er lachte und meinte, er habe sein Versprechen wohl gehalten.«

In Abner Marsh wallte Wut auf und brach in einem Fluch aus ihm heraus. »Er soll zur Hölle fahren!« sagte er mit seltsam ruhiger Stimme.

»Genau das«, sagte Joshua York, »geschah damals. Aber ich hatte davon keine Ahnung an jenem Abend, als ich zur Fiebertraum zurückkehrte. Ich wußte nur, was ich mit eigenen Augen gesehen hatte, was ich roch, was ich vermuten und mir zusammenreimen konnte. Und ich war wie besessen, wild. Ich riß die Bretter an den Kabinentüren herunter, wie ich erzählte, und dann war Julian da, und plötzlich konnte ich nur noch schreien, und ich schrie ihn an. Ich wollte Rache. Ich wollte ihn töten, wie ich noch niemals jemand hatte umbringen wollen, ich wollte seinen bleichen Hals aufreißen und wollte sein verdammtes Blut schmecken! Meine Wut … ach, Worte können es nicht beschreiben!

Julian wartete, bis ich mit dem Schreien aufhörte, und dann sagte er ruhig: ›Zwei Bretter sind noch an Ort und Stelle, Joshua. Mach sie los und laß die Leute heraus. Du mußt sehr viel Durst haben.‹ Sour Billy kicherte. Ich sagte nichts. ›Mach weiter, lieber Joshua‹, meinte Julian. ›Heute wirst du wirklich wieder zu uns zurückkehren und uns in Zukunft nie mehr verlassen. Fahr fort, Joshua! Befrei ihn! Töte ihn!‹ Und seine Augen hielten mich fest. Ich spürte ihre Kraft, spürte, wie sie mich zu ihm hinzogen, mir seinen Willen aufzwangen. Sobald ich sein Blut wieder gekostet hätte, würde ich ihm gehören, mit Leib und Seele, für immer. Er hatte mich ein dutzendmal geschlagen, mich gezwungen, vor ihm niederzuknien, bereit, ihm mein Blut anzubieten. Aber er hat es nie geschafft, mich soweit zu bringen, daß ich tötete. Es war der letzte Schutzwall für alles, was ich war, woran ich glaubte und was ich zu tun versuchte, und nun rissen seine Augen diesen Schutzwall nieder, und dahinter warteten nur noch Tod, Blut, Grauen und die endlose leere Nacht, die schon bald mein Leben bestimmen sollte.«

Joshua York unterbrach seinen Bericht und senkte den Blick. In seinen Augen hatte ein umwölkter und undeutbarer Ausdruck gelegen. Abner Marsh sah zu seiner Verwunderung, daß Joshuas Hand zitterte. »Joshua«, sagte er, »was immer geschehen ist, es liegt jetzt dreizehn Jahre zurück. Es ist vorbei, versunken wie jene Leute, die Sie in England getötet haben. Und Sie hatten nie eine Wahl. Sie haben mir doch erklärt, daß man nicht ohne eigene Entscheidung gut oder böse ist. Sie sind niemals so, wie Julian ist, ganz gleich, ob Sie den Mann umbrachten oder nicht.«

York blickte ihm in die Augen und lächelte seltsam. »Abner, ich habe den Mann nicht getötet.«

»Nein? Was dann …«

»Ich habe mich dagegen gewehrt«, sagte Joshua. »Ich war wütend, Abner. Ich schaute ihm in die Augen, und ich verabscheute ihn. Ich kämpfte gegen ihn an. Und diesmal gewann ich. Wir standen volle zehn Minuten lang da, und schließlich riß Julian sich los, zähnefletschend, und wich über die Treppe zu seiner Kabine zurück, und Sour Billy rannte hinter ihm her. Meine Leute standen da und starrten mich verblüfft an. Raymond Ortega trat vor und forderte mich heraus. Keine Minute verging, und er kniete vor mir. ›Blutmeister‹, sagte er und senkte den Kopf. Dann, nacheinander, knieten auch die anderen nieder. Armand und Cara, Cynthia, Jorge und Michel LeCouer, sogar Kurt, alle. Simons Gesicht leuchtete triumphierend. Auch die anderen freuten sich. Julian hatte ein schlimmes Regiment geführt. Nun waren sie frei. Ich hatte Damon Julian besiegt, trotz seiner Kraft, trotz seines Alters. Ich war wieder der Anführer meiner Leute. Dann begriff ich, daß ich vor einer Entscheidung stand. Wenn ich mich nicht beeilte, würde die Fiebertraum entdeckt, und Julian und ich und unsere gesamte Rasse müßten sterben.«

»Was haben Sie getan?«

»Ich suchte Sour Billy. Er war trotz allem als Maat erfahren. Er stand vor Julians Kabine, verwirrt, feige. Ich übertrug ihm die Verantwortung über das Hauptdeck und erklärte den anderen, sie sollten seinen Befehlen gehorchen. Sie arbeiteten. Als Heizer, als Maschinisten, als Mechaniker. Mit Billys Hilfe, der Todesängste litt und seine Befehle gab, heizten wir ein. Wir verbrannten Holz und Talg und Leichen. Schlimm, ich weiß, aber wir mußten die Toten verschwinden lassen, oder wir hätten ohne Risiko an keinem Holzplatz mehr anlegen können. Ich ging ins Ruderhaus und übernahm das Steuer. Dort oben war wenigstens niemand ums Leben gekommen. Das Schiff fuhr bei gelöschter Beleuchtung los, damit niemand uns sehen konnte. Manchmal mußten wir die Fahrrinne ausloten und kamen nur langsam voran, aber dann, als der Nebel sich hob, schafften wir ein zügiges Tempo und waren so schnell, daß Sie auf Ihr Schiff stolz gewesen wären. Wir überholten einige Dampfer in der Dunkelheit, und ich grüßte sie mit der Dampfpfeife, und sie pfiffen zurück, aber niemand kam nahe genug heran, um unseren Namen zu lesen. Der Fluß war in dieser Nacht fast leer wegen des Nebels. Ich war ein tollkühner Lotse, aber die Alternative wären für uns die Entdeckung und der sofortige Tod gewesen. Als die Dämmerung anbrach, waren wir noch immer auf dem Fluß unterwegs. Ich ließ ihnen keine Ruhepause. Billy ließ Planen um das Hauptdeck spannen als Schutz vor der Sonne. Ich blieb im Ruderhaus. Wir passierten New Orleans bei Sonnenaufgang, fuhren weiter stromabwärts und bogen in ein Bayou ein. Es war schmal und seicht und stellte den schwierigsten Teil unserer Reise dar. Wir mußten ständig das Lot ausbringen. Aber schließlich erreichten wir Julians alte Plantage. Erst dann zog ich mich in meine Kabine zurück. Ich war schrecklich verbrannt. Wieder einmal.« Er lächelte bitter. »Ich schien mir das zur Gewohnheit gemacht zu haben«, sagte er. »Am nächsten Abend schaute ich mir Julians Land an. Wir hatten den Dampfer an einem halbverfaulten Floß festgemacht, aber er war zu auffällig. Wenn Sie nach Cypress Landing gekommen wären, hätten Sie ihn sofort gefunden. Ich wollte ihn aber auch nicht zerstören, da wir ihn vielleicht noch brauchen würden, dennoch wußte ich, daß es besser war, ihn zu verstecken.

Ich fand eine Lösung. Die Plantage hatte früher einmal Indigo produziert. Dann hatten die Eigentümer vor mehr als fünfzig Jahren begonnen, statt dessen das gewinnträchtigere Zuckerrohr anzubauen, und Julian hatte sich natürlich um gar nichts gekümmert; aber südlich des Haupthauses fand ich die alten Indigogruben an einem Wasserweg, der zum Bayou führte. Es war ein stilles, abgelegenes Gewässer, zugewachsen und stinkend. Indigo ist nichts Angenehmes. Der Kanal war kaum breit genug für die Fiebertraum und ganz eindeutig nicht tief genug.

Daher ließ ich den Kanal ausgraben. Wir entluden den Dampfer und schufen im Unterholz eine Lichtung und fällten die Bäume, die den Kanal einengten. Einen Monat Arbeit hatten wir, Abner, fast jede Nacht. Und dann lenkte ich den Dampfer durch das Bayou, bugsierte ihn in den Seitenarm. Als wir Grundberührung hatten, stoppte ich ihn. Aber nun war das Schiff praktisch unsichtbar. In den folgenden Wochen sperrten wir den Seitenarm ab und legten ihn trocken. Nach etwa einem Monat stand die Fiebertraum auf feuchtem schlammigen Grund, verhüllt von Eichen und Zypressen, und niemand wäre auf die Idee gekommen, daß dort einmal ein Gewässer existiert hatte.«

Abner Marsh runzelte mißbilligend die Stirn. »Das ist aber kein schönes Ende für ein Dampfschiff«, knurrte er bitter. »Vor allem nicht für die Fiebertraum. Sie hätte etwas Besseres verdient.«

»Ich weiß«, sagte Joshua, »aber ich mußte an die Sicherheit meiner Leute denken. Ich hatte meine Wahl getroffen, Abner, und als alles vollbracht war, war ich zufrieden. Niemand würde uns finden. Die meisten Leichen waren verbrannt oder beerdigt. Julian hatte sich seit dem Abend seiner Niederlage kaum mehr blicken lassen. Er verließ seine Kabine nur, um zu essen. Sour Billy war der einzige, der mit ihm redete. Er hatte Angst und gehorchte ihm noch. Die anderen folgten mir und tranken mit mir. Ich hatte Billy befohlen, mein Elixier aus Julians Kabine zu holen und in das Regal hinter der Bar im Hauptsalon zu stellen. Wir tranken jeden Abend zum Abendessen davon. Nur ein Problem gab es noch zu lösen, ehe ich mir Gedanken über die Zukunft meiner Rasse machen konnte — unsere Gefangenen, jene Passagiere, die die Nacht des Schreckens überlebt hatten. Wir hatten sie in ihren Gefängnissen gelassen, während wir arbeiteten, aber keinem war ein Haar gekrümmt worden. Wir versorgten sie mit Speisen und Getränken. Ich redete sogar mit ihnen und versuchte sie zu überzeugen, aber es war sinnlos — wenn ich ihre Kabinen betrat, gerieten sie vor Entsetzen in Panik. Ich hatte keine Lust, sie für immer eingesperrt zu lassen, aber sie hatten alles gesehen, und ich wußte nicht, wie ich sie gefahrlos laufen lassen sollte.

Dann löste sich das Problem von selbst. Eines Nachts verließ Damon Julian seine Kabine. Er lebte immer noch auf dem Dampfer, ebenso ein paar andere, nämlich die, die ihm am nächsten gestanden hatten. Ich war in dieser Nacht mit einigen anderen an Land gegangen und arbeitete im Haupthaus, das Julian schändlich hatte verkommen lassen. Als ich zur Fiebertraum zurückkehrte, stellte ich fest, daß zwei Gefangene aus ihren Kabinen herausgeholt und getötet worden waren. Raymond, Kurt und Adrienne saßen mit den Leichen im großen Salon und labten sich an ihnen, und Julian residierte am Kopf der Tafel.«

Abner Marsh schüttelte den Kopf. »Verdammt, Joshua, Sie hätten ihn töten sollen, als Sie die Gelegenheit dazu hatten.«

»Ja«, gab Joshua zu Marshs Verblüffung zu, »ich dachte, ich besäße die Herrschaft über ihn. Das war ein schwerer Irrtum. Natürlich versuchte ich an diesem Abend alles wiedergutzumachen. Ich raste vor Zorn. Ich beschimpfte ihn und war entschlossen, sein langes und ungeheuerliches Leben an diesem Abend zu beenden. Ich forderte ihn heraus, wollte ihn dazu zwingen, vor mir niederzuknien und mir sein Blut darzubieten, jeden Tag aufs neue, bis er leer und harmlos wäre. Er stand auf und sah mich an und …« York lachte bitter.

»Er bezwang Sie?« fragte Marsh.

Joshua nickte. »Ohne Mühe. So wie er es bisher immer geschafft hatte, bis auf einen einzigen Abend. Ich raffte meine ganze Energie zusammen, aber ich konnte ihm nicht standhalten. Ich glaube, nicht einmal Julian hatte etwas Derartiges erwartet.« Er schüttelte den Kopf. »Joshua York, der König der Vampire, versagte schon wieder. Zwei Monate hatte ich geherrscht. Und für die letzten dreizehn Jahre war Julian unser Meister gewesen.«

»Und die Gefangenen?« fragte Marsh und kannte die Antwort bereits, hoffte aber, daß er sich irrte.

»Tot. Julian und seine Gefährten holten sie in den folgenden Monaten nacheinander heraus.«

Marsh verzog mitfühlend das Gesicht. »Dreizehn Jahre, das ist eine lange Zeit, Joshua. Warum sind Sie nicht einfach geflohen? Sie hatten doch sicher eine Gelegenheit dazu.«

»Viele sogar«, gab Joshua York zu. »Ich glaube, es wäre Julian sogar ganz lieb gewesen, wenn ich verschwunden wäre. Er war schließlich tausend Jahre lang Blutmeister gewesen, und ich hatte ihn zwei Monate lang zum Sklaven gemacht. Immer wieder maßen wir unsere Kräfte, und immer wieder sah ich in seinen Augen plötzlich das Flackern der Unsicherheit, der Angst, daß er diesmal wieder besiegt würde. Aber es geschah nicht. Und ich blieb. Wohin hätte ich gehen sollen, Abner? Und was hätte ich tun können? Mein Platz war bei meinem Volk. Und die ganze Zeit über hoffte ich, daß ich sie eines Tages würde befreien können. Selbst in meiner Niederlage glaubte ich, daß meine Anwesenheit Julian irgendwie im Zaum hielt. Stets war ich es, der unsere Zweikämpfe auslöste, niemals er. Er versuchte auch niemals mehr, mich zum Töten zu zwingen. Als mein Elixier zur Neige ging, baute ich meine Geräte auf und braute mir einen frischen Vorrat, und Julian ließ mich gewähren. Er gestattete sogar anderen, sich zu beteiligen. Simon, Cynthia, Michel und noch einigen. Wir tranken und stillten unseren Durst.

Dabei blieb Julian in seiner Kabine. Manchmal bekam nicht einmal Sour Billy ihn zu Gesicht, und das wochenlang. So vergingen die Jahre. Julian verlor sich in seinen eigenen Träumen, wenngleich seine Anwesenheit uns stets bewußt war. Er hatte natürlich immer sein Blut. Einmal im Monat begab Sour Billy sich nach New Orleans und kehrte mit einem Opfer zurück. Vor dem Krieg waren es Sklaven. Danach Tanzhallenmädchen, Prostituierte, Säufer, Ganoven — wen immer er zu uns herauslocken konnte. Der Krieg war eine schwierige Zeit. Julian zog mehrmals mit einigen Leuten in die Stadt. Später schickte er immer andere los. Dieser Krieg forderte auch bei uns seine Opfer. Cara wurde eines Abends von einem Unionssoldaten in New Orleans angegriffen. Sie tötete ihn, natürlich, aber er war nicht allein, und so war Cara die erste von uns, die sterben mußte. Philip und Alain wurden verhaftet und eingesperrt. Sie wurden in einen offenen Gefängnishof gesperrt, wo sie darauf warten mußten, verhört zu werden. Die Sonne ging auf, und sie mußten beide sterben. Und eines Abends zündeten Soldaten das Plantagenhaus an. Es war sowieso halb verfallen, aber nicht unbewohnt. Armand starb in der Feuersbrunst, und Jorge und Michel trugen furchtbare Verbrennungen davon, allerdings erholten sie sich wieder. Wir anderen flohen und kehrten erst zur Fiebertraum zurück, als die Marodeure sich verzogen hatten. Und seitdem ist das Schiff unser Zuhause.

In den Jahren hatte zwischen mir und Julian eine Art Waffenstillstand geherrscht. Es sind nur noch wenige von uns da, kaum ein Dutzend, und wir sind unter uns uneinig. Meine Getreuen nehmen mein Elixier, und Julians Gefolgsleute schwören auf Blut. Simon, Cynthia und Michel stehen auf meiner Seite, die anderen auf seiner, einige, weil sie genauso denken wie er, andere, weil er ein Blutmeister ist. Kurt und Raymond sind seine stärksten Helfer. Und Billy.« Sein Gesicht verzog sich grimmig. »Billy ist ein Kannibale, Abner. Seit dreizehn Jahren macht Julian ihn zu einem von uns, jedenfalls behauptet er es. Nach dieser langen Zeit wird Billy immer noch von dem Blut schlecht. Ich habe mindestens ein dutzendmal gesehen, wie er es wieder erbrochen hat. Aber dafür ißt er jetzt Menschenfleisch, allerdings kocht er es vorher. Julian findet das amüsant.«

»Sie hätten zulassen sollen, daß ich ihn töte.«

»Vielleicht. Obgleich wir ohne Billy an jenem Tag wahrscheinlich auf dem Dampfer unser Leben gelassen hätten. Er hat einen wachen, schnellen Geist, aber Julian hat ihn furchtbar verwirrt, so wie er alle verwirrt, die auf ihn hören. Ohne Billy würde das Leben, das Julian sich zusammengebaut hat, regelrecht zerschellen. Es ist Billy, der in die Stadt fährt und Julians schreckliche Beute mitbringt. Es ist Billy, der das Silber aus dem Schiff oder Landparzellen verkauft oder was immer sonst noch gebraucht wird, um Geld in die Finger zu bekommen. Und in gewissem Sinn ist Billy dafür verantwortlich, daß wir beide uns wiedersehen.«

»Ich dachte mir schon, daß Sie früher oder später darauf kommen würden«, sagte Marsh. »Sie waren so lange bei Julian, ohne zu fliehen oder sonst etwas zu tun. Und jetzt sind Sie hier, Julian und Sour Billy sind hinter Ihnen her, und Sie schreiben mir diesen verdammten Brief. Warum gerade jetzt? Was hat sich geändert?«

Joshuas Hände krampften sich um die Armlehnen seines Sessels. »Der Waffenstillstand, von dem ich sprach, ist vorüber«, sagte er. »Julian ist wieder erwacht.«

»Wie?«

»Billy«, sagte Joshua, »ist unsere Verbindung zur Welt draußen. Wenn er nach New Orleans fährt, dann bringt er mir auch immer Zeitungen und Bücher sowie Lebensmittel, Wein und neue Opfer. Billy hört auch die Geschichten, die man sich erzählt, das Gerede in der Stadt und am Fluß.«

»Und?« fragte Abner Marsh.

»Seit kurzem geht es nur noch um ein Thema. Die Zeitungen sind voll davon. Es ist eine Sache, die ganz nach Ihrem Herzen sein dürfte, Abner. Es geht um Dampfschiffe. Genaugenommen um zwei Dampfschiffe.« Abner Marsh runzelte die Stirn. »Die Natchez und die Wild Bob Lee«, sagte er. Er wußte nicht, worauf Joshua hinauswollte.

»Genau«, sagte York. »Nach dem, was ich in den Zeitungen gelesen habe und was Billy erzählt, scheint ein Wettrennen unvermeidlich zu sein.«

»Zum Teufel, ja«, sagte Marsh, »und das schon bald. Leathers prahlt überall auf dem Fluß herum, und soweit ich es gehört habe, beschneidet er ganz schön die Geschäfte der Lee. Cap’n Cannon läßt sich das nicht mehr lange gefallen. Das wird sicher ein ganz wildes Rennen.« Er zupfte sich am Bart. »Nur weiß ich nicht, was das mit Julian und Billy und Ihrem verdammten Nachtvolk zu tun haben soll.«

Joshua York lächelte verkniffen. »Billy hat zuviel geredet. Julian fing an, sich dafür zu interessieren. Und er erinnert sich, Abner, er erinnert sich an das Versprechen, das er Ihnen gegeben hat. Einmal konnte ich ihn zurückhalten. Aber jetzt, verflucht noch mal, will er es wieder tun.«

»Was tun?«

»Er will das Gemetzel wiederholen, das ich auf der Fiebertraum vorgefunden habe«, sagte Joshua. »Abner, diese Rivalität zwischen der Natchez und der Robert E. Lee hat das Interesse der gesamten Nation geweckt. Sogar in Europa werden große Wetten abgeschlossen, wenn man den Zeitungen glauben kann. Wenn sie von New Orleans bis nach St. Louis um die Wette fahren, dann sind sie drei oder vier Tage unterwegs. Und drei oder vier Nächte, Abner. Drei oder vier Nächte

Und plötzlich begriff Abner Marsh, was Joshua meinte, und eine Kälte breitete sich in ihm aus, wie er sie noch nie kennengelernt hatte. »Die Fiebertraum«, sagte er.

»Sie machen sie wieder flott«, sagte York, »und räumen die Fahrtrinne aus, die wir aufgefüllt haben. Sour Billy besorgt Geld. Ende dieses Monats will er in die Stadt fahren und eine Mannschaft anheuern, die sie herrichten und später besetzen soll, wenn sie bereit ist. Julian hält das alles für einen großen Spaß. Er will sie nach New Orleans bringen und sie bis zum Tag des Rennens verstecken. Er will die Natchez und die Robert E. Lee starten lassen und dann mit der Fiebertraum folgen. Wenn die Dunkelheit hereinbricht, dann will er am führenden Schiff festmachen und … Nun ja, Sie können sich schon denken, was er beabsichtigt. Beide Dampfer haben nur eine kleine Besatzung, keine Passagiere, um das Gewicht niedrig zu halten. Julian wird es leicht haben. Und er wird uns alle dazu bringen, bei der Sache mitzumachen. Ich bin sein Lotse.« Er lachte bitter. »Oder ich war es. Als ich das erstemal von diesem Wahnsinnsplan hörte, da stellte ich mich ihm zum Kampf und verlor erneut. Am nächsten Morgen stahl ich Billys Pferd und floh. Ich dachte, ich könnte seinen Plan vereiteln, indem ich mich aus dem Staub machte. Ohne Lotsen könnte er nichts unternehmen. Aber als ich mich wieder von meinem Sonnenbrand erholt hatte, erkannte ich die Sinnlosigkeit meines Tuns. Billy würde ganz einfach einen anderen Lotsen engagieren.«

Abner Marsh verspürte ein heftiges Rumoren in der Magengrube. Zum Teil war er wütend und angeekelt von Julians Plan, die Fiebertraum zu einem Satansdampfer zu machen. Doch ein anderer Teil seiner Persönlichkeit war gefesselt von der Kühnheit des Plans, von der Vision seiner Fiebertraum, die es allen zeigte, Cannon und Leathers und der ganzen verdammten Welt. »Ein Lotse, verdammt noch mal«, sagte Marsh. »Die beiden Dampfer sind die schnellsten Fahrzeuge auf dem ganzen gottverdammten Fluß, Joshua. Wenn er die beiden anderen vor sich herfahren läßt, dann wird er sie niemals einholen, und er wird niemanden töten können.« Doch noch während er das aussprach, wußte Marsh, daß er das eigentlich gar nicht glaubte.

»Julian findet es deshalb um so amüsanter«, erwiderte Joshua York. »Wenn sie den Vorsprung vor ihm halten können, dann bleiben sie am Leben. Wenn nicht …« Er schüttelte den Kopf. »Und er sagt, er setze das größte Vertrauen in unseren Dampfer, Abner. Er will ihn berühmt machen. Anschließend sollen beide Schiffe zerstört werden, und Julian meint, wir sollten dann auf dem Landweg fliehen und nach Osten gehen, nach Philadelphia oder vielleicht auch nach New York. Er ist den Fluß leid, behauptet er. Ich halte das eher für leeres Geschwätz. Julian ist das Leben leid. Wenn er diesen Plan durchführt, dann bedeutet es das Ende meiner Rasse.«

Abner Marsh erhob sich von dem Bett und stieß seinen Stock wuchtig auf den Fußboden. »Verdammte Hölle!« brüllte er. »Sie wird sie einholen, das weiß ich genau, sie hätte auch die verdammte Eclipse geschafft, wenn sie die Chance bekommen hätte, darauf schwöre ich. Sie wird keine Probleme haben, die Natchez und die Bad Bob einzuholen. Zum Teufel, keines der Schiffe hätte gegen die Eclipse etwas ausrichten können. Himmelherrgott, Joshua, das wird er mit meinem Dampfer nicht tun, ganz gewiß nicht.«

Joshua York reagierte mit einem gefährlichen schmalen Lächeln, und als Abner Marsh ihm in Augen blickte, sah er darin die Entschlossenheit, die er damals im Planters’ House gesehen hatte, und die kalte Wut, als er York einmal bei Tag gestört hatte. »Nein«, sagte York, »das wird er nicht tun. Und deshalb habe ich Ihnen geschrieben, Abner, und habe gebetet, daß Sie noch leben. Ich habe lange darüber nachgedacht. Ich habe mich endlich entschlossen. Wir werden ihn töten. Es gibt keinen anderen Weg.«

»Verdammt«, sagte Marsh. »Es hat ja lange genug gedauert, daß Sie das endlich begreifen. Das hätte ich Ihnen schon vor dreizehn Jahren sagen können. Nun, ich bin dabei. Nur eins …« Er richtete die Spitze seines Stocks auf Yorks Brust. »… wir richten auf dem Dampfer keinen Schaden an, verstanden? Das einzige, was an Julians Plan nicht in Ordnung ist, ist der Teil, daß alle getötet werden sollen. Der Rest gefällt mir sehr gut.« Er lächelte. »Cannon und Leathers werden eine Überraschung erleben, daß ihnen die Augen übergehen.« Joshua erhob sich lächelnd. »Abner, wir werden unser Bestes tun, das verspreche ich, und uns bemühen, daß die Fiebertraum heil bleibt. Denken Sie nur daran, die Männer entsprechend zu instruieren.«

Marsh runzelte die Stirn. »Welche Männer?«

Das Lächeln wich aus Joshuas Gesicht. »Ihre Mannschaft«, sagte er. »Ich nahm an, Sie sind mit einem Ihrer Dampfschiffe hergekommen und mit einer ganzen Mannschaft.«

Marsh erinnerte sich plötzlich daran, daß Joshua seinen Brief an die Fevre River Packets in St. Louis geschickt hatte. »Verdammt«, sagte er, »Joshua, ich habe keinen Dampfer und auch keine Männer. Ich bin auf einem Dampfer hergekommen, schon richtig, aber als Kabinenpassagier.«

»Karl Framm«, sagte Joshua. »Toby. Die anderen, die Männer, die Sie auf der Eli Reynolds hatten …«

»Tot oder in alle Winde zerstreut. Ich war ja selbst schon fast tot.«

Joshua runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich hatte angenommen, wir greifen tagsüber mit geballter Wucht an. Das ändert natürlich alles, Abner.«

Abner Marsh schüttelte den Kopf. »Einen Teufel tut es«, sagte er. »Das ändert überhaupt nichts, soweit ich es überblicken kann. Vielleicht haben Sie geglaubt, wir würden mit einer Armee in den Kampf ziehen, aber da weiß ich was Besseres. Ich bin ein gottverdammter alter Mann, Joshua, und ich werde wahrscheinlich schon bald sterben, und Damon Julian jagt mir keine Angst mehr ein. Er sitzt schon zu lange auf meinem Dampfer, und mir gefällt überhaupt nicht, was er mit ihr angestellt hat, und ich werde sie mir von ihm zurückholen, und wenn ich bei dem Versuch draufgehe. Sie haben geschrieben, daß Sie Ihre Wahl getroffen haben, verflucht noch mal. Was ist jetzt? Kommen Sie mit oder nicht?«

Joshua York hörte sich Marshs Wutausbruch ruhig an, und allmählich schlich sich ein widerwilliges Lächeln in die bleichen weißen Gesichtszüge. »Na schön«, meinte er schließlich, »wir versuchen es allein.«

Загрузка...