KAPITEL DREIUNDDREISSIG

An Bord des Raddampfers Fiebertraum
Mai 1870

Sour Billy Tipton versuchte zu schreien. Nichts drang über seine Lippen außer einem leisen Wimmern. Er sog den Atem ein und schluckte Blut. Sour Billy hatte genug Blut getrunken, um den Geschmack zu kennen. Nur war es diesmal sein eigenes Blut. Er hustete und rang nach Luft. Er fühlte sich nicht besonders gut. Seine Brust schien in Flammen zu stehen, und dort, wo er lag, war es naß. Blut, mehr Blut. »Helft mir!« rief er matt. Niemand, der weiter als einen Meter von ihm entfernt gewesen wäre, hätte ihn gehört. Er erschauerte und schloß die Augen wieder, als wolle er einschlafen und so die Schmerzen vertreiben.

Aber der Schmerz blieb. Sour Billy lag lange dort, die Augen geschlossen und abgehackt atmend, bis seine Brust vor Schmerzen schrie. Er konnte an nichts anderes denken als an das Blut, das aus seinem Körper herausfloß, an die harten Bretter unter seinem Gesicht und an den Gestank. Eine faulige Wolke hüllte ihn ein. Schließlich erkannte Sour Billy den Geruch: Er hatte sich in die Hose gemacht. Er fühlte nichts, aber er roch es. Er begann zu weinen.

Am Ende schaffte Sour Billy Tipton auch das nicht mehr. Seine Tränen versiegten, und die Schmerzen waren zu schlimm. Er versuchte an etwas anderes zu denken, um die Schmerzen zu vergessen. Die Erinnerung stellte sich ein. Marsh und Joshua York und die Schrotflinte, die vor seinem Gesicht losgegangen war. Sie waren gekommen, um Julian zu töten, und er hatte versucht, sie aufzuhalten, doch diesmal war er nicht schnell genug gewesen. Er versuchte erneut zu rufen. »Julian!« Ein wenig lauter diesmal, aber immer noch nicht laut genug.

Keine Antwort. Sour Billy Tipton wimmerte und öffnete wieder die Augen. Er war vom Sturmdeck herabgestürzt. Er sah, daß er auf dem Vorderdeck lag. Und es war heller Tag. Damon Julian konnte ihn gar nicht hören. Und selbst dann wäre es zu hell gewesen. Julian würde nicht zu ihm kommen, erst nach Einbruch der Dunkelheit wieder. Aber dann wäre er längst tot. »Heute abend bin ich gestorben«, sagte er laut und zugleich so leise, daß er kaum sich selbst hörte. Er hustete und schluckte noch mehr Blut. »Mister Julian …«, röchelte er.

Er ruhte sich für eine Weile aus und versuchte nachzudenken. Auf ihn war geschossen worden, und er war voller Löcher. Seine Brust mußte aussehen wie rohes Fleisch. Eigentlich müßte er längst tot sein, Marsh hatte direkt vor ihm gestanden. Nur er lebte noch. Sour Billy kicherte. Er wußte, warum er noch nicht tot war. Gewehrschüsse konnten ihm nichts anhaben. Er war jetzt schon fast einer von ihnen. Es war genauso, wie es Julian vorausgesagt hatte. Sour Billy hatte gespürt, wie es passierte. Jedesmal, wenn er in den Spiegel schaute, war er etwas heller, etwas weißer geworden, und seine Augen glichen mehr und mehr den Augen Julians. Er konnte es selbst sehen, und er dachte, daß er auch schon mehr in der Dunkelheit erkennen konnte. Während der vergangenen ein, zwei Jahre war es immer besser geworden. Das hatte das Blut bewirkt. Wenn ihm davon nur nicht immer so übel geworden wäre. Manchmal hatte er richtige Magenkrämpfe und mußte sich übergeben, aber er trank immer wieder, wie Julian es erklärt hatte, und das machte ihn stärker. Manchmal spürte er es, wie diesmal. Sie hatten auf ihn geschossen, und er war gefallen, aber er war nicht gestorben, nein, er lebte noch. Und erholte sich, genauso wie Damon Julian. Er war jetzt fast einer von ihnen. Sour Billy lächelte. Er würde hier liegenbleiben, bis er völlig wiederhergestellt wäre, und dann würde er aufstehen und Abner Marsh töten. Er konnte sich sehr gut vorstellen, welchen Schreck Marsh bekäme, wenn er Billy auf sich zukommen sah, den Billy, den er vermeintlich erschossen hatte.

Wenn nur die Schmerzen nicht gewesen wären! Sour Billy fragte sich, ob Julian auch solche Schmerzen durchlitten hatte, als dieser dandyhafte Zahlmeister ihn mit der Degenklinge durchbohrte. Ihm hatte Mister Julian es aber gezeigt. Und Billy würde es auch einigen Leuten zeigen. Er dachte eine Weile darüber nach, über die Dinge, die er tun würde. Er würde in die Gallatine Street gehen, wann immer er dazu Lust hätte, und alle würden ihm respektvoll begegnen, und er würde sich die blonden Mädchen nehmen und die Kreolenladies anstatt der Huren aus den Tanzhallen, und wenn er mit ihnen fertig war, dann würde er ihr Blut trinken, und dann bekäme kein anderer sie mehr, und dann würden sie ihn nie mehr auslachen, wie die Huren es früher mit ihm getan hatten, in den traurigen alten Zeiten.

Sour Billy Tipton malte sich gern aus, wie es sein würde. Aber nach einiger Zeit — ein paar Minuten, ein paar Stunden, er wußte nicht wie lange — schaffte er es nicht mehr. Statt dessen dachte er nur an seine Schmerzen, die sich bei jedem Atemzug meldeten. Dabei müßte es eigentlich weniger weh tun, dachte er. Und außerdem blutete er noch immer so schlimm, daß er sich schon richtig benommen fühlte. Wenn er sich erholte, warum blutete er dann noch? Plötzlich hatte Sour Billy Angst. Vielleicht war er noch nicht weit genug verwandelt. Vielleicht erholte er sich überhaupt nicht. Vielleicht könnte er es Abner Marsh niemals zeigen, vielleicht verblutete er. Er schrie auf. »Julian!« Er rief es so laut wie möglich. Julian könnte die Verwandlung abschließen, er könnte ihn stärker machen. Wenn er ihn nur irgendwie erreichen könnte, dann wäre alles in Ordnung. Julian würde für ihn sorgen. Das wußte Sour Billy. Was täte Julian denn ohne ihn? Er rief erneut, schrie so laut, daß der Schmerz ihm fast die Kehle zerriß.

Nichts. Stille. Er lauschte auf Schritte, auf Julian oder einen der anderen, die kämen, um ihm zu helfen. Nichts. Außer … Er lauschte angestrengt. Sour Billy glaubte Stimmen zu hören. Und eine gehörte Damon Julian! Er konnte ihn hören! Erleichterung erfüllte ihn.

Nur konnte Julian Billy nicht hören. Und selbst wenn er ihn gehört hätte, dann käme er nicht, nicht hinaus in die Sonne. Dieser Gedanke erfüllte Sour Billy mit Angst. Julian würde erst kommen, wenn es dunkel war, dann erst würde er die Verwandlung vollenden. Aber dann wäre es zu spät.

Er müßte irgendwie zu Julian gelangen, beschloß Sour Billy Tipton, als er dalag in seinem Blut und von Schmerzen gepeinigt. Er müßte sich aufraffen und dorthin gehen, wo Julian sich aufhielt, damit er ihm helfen könnte.

Sour Billy biß sich auf die Unterlippe, raffte seine ganze Energie zusammen und versuchte aufzustehen.

Und schrie auf.

Der Schmerz, der seinen Körper durchschnitt, war wie ein glühendes Messer, eine Woge der Pein, die jeden Gedanken, jede Hoffnung und jegliche Angst aus ihm hinausspülte, bis nichts anderes blieb als nur noch Schmerz. Er schrie erneut und blieb reglos liegen. Sein ganzer Körper pulsierte. Sein Herz schlug wild, und der Schmerz flaute allmählich ab. Und in diesem Moment bemerkte Sour Billy, daß er seine Beine nicht mehr spüren konnte. Er versuchte, mit den Zehen zu wackeln. Er fühlte nichts da unten.

Er starb. Es ist nicht gerecht, dachte Sour Billy. Er stand so dicht davor. Dreizehn Jahre lang hatte er Blut getrunken und war stärker und stärker geworden, und jetzt hatte er es fast geschafft. Er würde ewig leben, doch nun nahmen sie ihm alles wieder weg, beraubten ihn, wie sie ihn immer beraubt und betrogen hatten. Niemals hatte er etwas für sich gehabt. Es war alles ein großer Betrug. Die Welt hatte ihn wieder übertölpelt, die Nigger und die Kreolen und die reichen Dandies, sie hauten ihn übers Ohr und lachten ihn aus, und nun betrogen sie ihn um sein Leben, um seine Rache, um alles.

Er mußte Julian erreichen. Wenn er die Verwandlung schaffte, dann wäre alles wieder in Ordnung. Ansonsten würde er hier sterben, und sie würden ihn erneut auslachen. Sie würden ihn einen Narren nennen, Abschaum, Niggerdreck, und sie würden auf sein Grab pinkeln. Er mußte zu Mister Julian. Dann wäre er derjenige, der lachte, ja, das würde er tun, lachen.

Sour Billy holte tief Luft. Er spürte das Messer, das er noch immer in der Hand hielt. Er bewegte den Arm, steckte sich das Messer in den Mund, zwischen die Zähne. Er zitterte. So! Das tat nicht mehr so furchtbar weh. Seine Arme waren noch in Ordnung. Seine Finger tasteten über den Boden und suchten nach einem Widerstand unter dem Moder und dem Blut. Dann zog er mit aller Kraft und rutschte vorwärts. Die Brust brannte ihm, der Schmerz tobte in den Eingeweiden, die Messerklinge verrichtete ihr furchtbares Werk in ihm. Er blieb erschöpft liegen. Aber als der Schmerz etwas abebbte, öffnete Sour Billy die Augen und lächelte. Er hatte sich bewegt! Er hatte sich fast einen halben Meter vorwärts gezogen. Noch fünf‐ oder sechsmal das gleiche, und er hätte die Treppe erreicht. Dann könnte er sich an dem reichverzierten Geländerbalken abstützen und sich nach oben ziehen. Denn von dort drangen die Stimmen zu ihm. Er würde zu ihnen gelangen. Er wußte, daß er es schaffen könnte. Er mußte es einfach schaffen.

Sour Billy Tipton streckte die Arme aus, grub die langen Fingernägel ins Holz, und die Zähne bissen hart auf die Messerklinge.

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