Am folgenden Abend fand ich einen Brief des Anwalts vor: Meine Aufenthaltserlaubnis war um sechs Monate verlängert worden. Es war ein Gefühl wie auf einer Schaukel, einmal war man oben, dann wieder unten. Man konnte sich daran gewöhnen. Der Anwalt schrieb mir, ich solle ihn am nächsten Vormittag anrufen. Ich konnte mir denken, weshalb.
Als ich in das schäbige Hotel kam, saß Natascha Petrowna da.»Warten Sie auf Melikow?«fragte ich etwas befangen.
«Nein, ich warte auf Sie.«
Sie lachte.»Wir kennen uns so wenig und haben uns so vieles zu vergeben, daß es geradezu spannend ist. Wie stehen wir zuein ander?«
«Großartig«, sagte ich.»Zum mindesten scheinen wir uns nicht langweilig zu sein.«
«Haben Sie schon gegessen?«
Ich zählte rasch in Gedanken mein Geld.»Nein, noch nicht. Wollen wir zu Longchamps gehen?«
Sie musterte mich. Ich hatte meinen neuen Anzug an.»Neu!«sagte sie, und ich folgte ihrem Blick. Ich hob meine Schuhe hoch.»Auch neu. Glauben Sie, daß ich Longchamps-reif bin?«
«Ich war gestern abend im Pavillon. Es war ziemlich langweilig. Im Sommer sollte man draußen sitzen können. Man hat das in Amerika noch nicht entdeckt. Hier gibt es ja auch keine Cafes.«
«Konditoreien.«
Sie funkelte mich an.»Ja, für alte Weiber, die sanft nach welkem Laub riechen.«
«Ich habe einen Topf Szegediner Gulasch auf meinem Zimmer«, sagte ich.»Genug für sechs starke Esser, von einer ungarischen Köchin zubereitet. Es war gestern abend schon hervorragend, heute ist es noch besser. Szegediner Gulasch mit Kümmel und Kraut schmeckt aufgewärmt besser als frisch.«
«Wie kommen Sie zu Szegediner Gulasch?«
«Ich war gestern abend bei einer Feier.«
«Ich habe noch nie erlebt, daß man von einer Feier Gulasch für sechs nach Hause bringt. Wo war denn das? Bei…?«
Ich warf ihr einen warnenden Blick zu.»Nein, in keinem deutschen Bierrestaurant. Gulasch ist ungarisch, nicht deutsch. Ich war privat eingeladen. Mit Tanz!«fügte ich hinzu, um mich für ihre Gedanken zu rächen.
«So, mit Tanz! Sie scheinen ja tüchtig herumzukommen.«
Ich hatte keine Lust, weiter verhört zu werden.»Es ist dort so Sitte«, erklärte ich.»Einsame Junggesellen, die in trostlosen Hotellöchern hausen, bekommen von der menschenfreundlichen Wirtin einen Topf übriggebliebenen Gulaschs mit nach Hause. Es war genug da für eine Kompanie. Kriegsstark. Dazu haben ein Freund und ich noch Gurken in Dill und Kirschenstrudel mitbe kommen. Ein Mahl für Götter. Aber leider ist es kalt.«
«Kann man es nicht aufwärmen?«
«Wo?«sagte ich.»Auf meinem Zimmer habe ich einen kleinen elektrischen Kocher für Kaffee, das ist alles.«
Natascha Petrowna lachte.»Ich hoffe, Sie haben nicht auch noch ein paar Radierungen auf Ihrem Zimmer, die Sie Ihren Damen besuchen zeigen wollen!«
«Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Wollen Sie nicht Longchamps versuchen?«
«Nein. Sie haben Ihr Gulasch zu verlockend beschrieben.«»Melikow muß bald kommen«, sagte Natascha Petrowna.»Er kann uns sicher helfen. Spazieren wir eine halbe Stunde in der Stadt umher. Ich war heute noch nicht draußen. Zu Ihrem Gulasch gehört sicher ein gehöriger Appetit.«
«Gut.«
Wir gingen zusammen durch die Straßen. Die Häuser schwammen im rötlichen Licht. In den Geschäften blinkten die Lichter auf. Natascha Petrowna erklärte mir, daß sie einen Schuhkomplex habe. Es sei ihr unmöglich, an einem Laden mit Schuhen vorbeizugehen. Selbst wenn sie ihn eine Stunde vorher angeschaut habe, müsse sie auf dem Rückweg nachschauen, ob sich nichts verändert habe.»Verrückt? Nicht wahr?«
«Warum?«
«Es kann sich doch nichts verändert haben. Ich habe mir doch gerade vorher alles angesehen.«
«Sie könnten etwas übersehen haben. Außerdem könnte der Besitzer auf die Idee gekommen sein, neu zu dekorieren.«
«Nach Geschäftsschluß?«
«Wann sonst? Solange er offen hat, muß er verkaufen.«
Sie sah mich rasch an.»Sie sind…«sie tippte an ihre Schläfe,»halt. Dabei ist es mir ein paarmal passiert, daß tatsächlidi gerade neu dekoriert wurde. Sie wissen, wie: Alles huscht lautlos auf Strümpfen im Fenster umher und tut so, als bemerke es die Passanten nicht, die stehengeblieben sind.«
Sie machte es vor.»Wie ist es mit Modegeschäften?«fragte ich.»Das ist mein Beruf. Davon habe ich tagsüber genug.«
Wir waren in die Nähe von Kahns Geschäft gekommen. Ich hatte inzwischen einen Entschluß gefaßt. Ich wollte Kahn bitten, mir einen elektrischen Kocher zu leihen. Zu meinem Erstaunen war er noch im Laden.»Einen Augenblick«, sagte ich zu Natascha Petrowna,»hier ist die Lösung des Problems, das wir mit unserem Abendessen haben.«
Ich öffnete die Tür.»Sie kommen wie gerufen!«sagte Kahn und sah an mir vorbei auf Natascha Petrowna.»Wollen Sie die Dame nicht hereinbringen?«
«Nichts liegt mir ferner«, erwiderte ich.»Ich wollte mir nur Ihren elektrischen Kocher leihen.«
«Jetzt?«
«Jetzt.«
«Das geht nicht. Ich brauche ihn selbst. Heute abend ist die letzte Ausscheidung der Boxmeisterschaften im Radio. Ich erwarte Carmen zum Essen. Sie muß jeden Augenblick kommen. Sie hat bereits eine dreiviertel Stunde Verspätung. Zum Glück macht das nichts bei aufgewärmtem Gulasch.«
«Carmen«, sagte ich und blickte auf Natascha, die plötzlich so fremd und begehrenswert auf der anderen Seite des Schaufensters stand, als wäre sie hundert Kilometer weit entfernt.»Carmen«, widerholte ich.
«Ja. Warum bleiben Sie nicht hier? Wir können zusammen essen und dann den Boxkampf anhören.«
«Großartig«, sagte ich.»Zu essen ist ja genug da.«
«Es ist sogar fertig.«
«Aber wo essen wir? Ihr Zimmer ist doch für vier Personen viel zu klein!«
«Im Laden.«
«Im Laden?«
Ich ging zu der immer noch so weit entfernten, durch den Licht reflex im Schaufenster grau und silbern schimmernden Natascha Petrowna hinaus. Als ich neben ihr stand, hatte ich das merkwürdige Gefühl, daß sie mir näher war als vorher. Eine Illusion von Licht, Schatten und Spiegelung, dachte ich idiotisch.
«Wir sind zum Abendessen eingeladen«, sagte ich.»Und zum Boxkampf.«
«Und mein Gulasch?«
«Und zum Gulasch«, sagte ich.
«Wie?«
«Das werden Sie sehen.«
«Haben Sie überall in der Stadt Schüsseln mit Gulasch versteckt?«fragte sie überrascht.
«Nur an strategischen Punkten.«
Ich sah Carmen kommen. Sie trug einen hellen Regenmantel ohne Hut. Kahn kam aus dem Laden. Ich sah, wie Natascha Carmen blitzschnell musterte. Carmen tat nichts dergleichen. Sie war auch nicht überrascht. Der rötliche Schein des Abends färbte ihr schwarzes Haar wie eine Hennawolke.»Ich bin etwas spät«, erklärte sie gelassen.»Das macht doch nichts, wie? Bei Gulasch. Haben Sie von dem Kirschenstrudel auch etwas mit gebracht?«
«Kirschenstrudel, Topfenstrudel und Apfelstrudel«, sagte Kahn.»Heute vormittag kam ein Paket aus der unerschöpflichen Vries- länderschen Küche.«
«Sogar Wodka«, erwiderte Natascha Petrowna.»Welch ein Tag der Überraschungen.«
Das Gulasch war tatsächlich noch besser als am Tage vorher. Es war schon deshalb besser, weil wir es umrauscht von Orgelklang aßen. Kahn hatte seinen Radioapparat angestellt, er wollte den Boxkampf auf keinen Fall versäumen, deshalb hörten wir schon das Vorprogramm. Sonderbar genug, ging Johann Sebastian Bach nicht schlecht mit dem Szegediner Gulasch, obschon ich geglaubt hatte, Franz Liszt hätte besser dazu gepaßt. Normales Gulasch mit Bach wäre allerdings unmöglich gewesen. Wir aßen die Dillgurken mit den Fingern und das Gulasch mit Löffeln. Draußen versammelten sich einige Passanten vor dem Fenster, sie wollten die Übertragung des Boxkampfes hören und schauten uns dabei gleichzeitig zu. Sie waren Aquariumsfische für uns und wir wahrscheinlich auch für sie.
Plötzlich klopfte es energisch an der Tür. Kahn und ich glaubten schon, es wäre die Polizei — aber es war nur der Kellner von gegenüber. Er brachte vier doppelte Drinks.»Wer hat die bestellt?«fragte Kahn.
«Ein Herr mit einer Glatze. Er hätte durch das Fenster gesehen, daß Sie Wodka trinken und daß die Flasche fast leer sei.«
«Wo ist er?«
Der Kellner zuckte die Schultern.»Die vier Wodka sind bezahlt. Ich hole die Gläser später.«
«Bringen Sie dann noch vier mit.«
«Gut.«
Wir hoben die Gläser gegen die unbekannten Menschen draußen. Ich zählte im gedämpften Licht der Reklamen mindestens fünf Glatzen. Es war unmöglich, unseren Wohltäter zu erkennen. Wir taten deshalb, was man so selten kann und am liebsten tut: Wir hoben unsere Gläser hoch, für und gegen die anonyme Menschheit. Die Menschheit antwortete mit Fingergeprassel an die Scheibe. Die Orgelmusik brach ab. Kahn drehte das Radio noch lauter und verteilte die verschiedenen Strudel. Er entschuldigte sich, daß er keinen Kaffee machte, er konnte jetzt nicht nach oben laufen und nach der Kaffeebüchse suchen. Die erste Runde begann.
Der Kampf war vorbei. Natascha Petrowna griff nach ihrem Wodkaglas. Kahn schien etwas erschöpft, er hatte sich während der Runden ausgegeben. Carmen schlief, gelöst und friedlich.
«Was habe ich Ihnen gesagt«, sagte Kahn.
«Lassen Sie sie schlafen«, flüsterte Natascha.»Ich muß jetzt gehen. Vielen Dank für alles. Gute Nacht.«
Wir traten auf die feuchte Straße hinaus.»Er will doch sicher mit seiner Freundin allein bleiben.«
«Das weiß ich nicht einmal so genau.«
«Warum sollte er nicht? Sie ist sehr schön. «Sie lachte.»Unbequem schön. So schön, daß man Minderwertigkeitskomplexe bekommen kann.«
«Sind Sie deshalb weggegangen?«
«Nein. Ich bin deshalb geblieben. Ich mag schöne Menschen. Allerdings machen sie mich manchmal traurig.«
«Warum?«
«Weil sie nicht schön bleiben. Den wenigsten bekommt das Alter. Darum braucht man möglicherweise mehr, als nur schön zu sein. «Wir gingen die Straße entlang. Die schlafenden Schaufenster waren voll von billigem Modeschmuck. Ein paar Delikatessen den waren noch offen.»Sonderbar«, sagte ich.»Ich habe noch nie darüber nachgedacht, wie es ist, wenn man alt wird. Wahrscheinlich war ich so sehr mit Überleben beschäftigt, daß ich nie dazu gekommen bin.«
Natascha lachte.»Ich denke über nichts anderes nach.«
«Ich werde es wohl auch noch tun. Melikow sagt, man versteht es nie.«
«Melikow war immer alt.«
«Immer?«
«Immer zu alt für Frauen. Und das ist Alter, oder nicht?«
«Wenn man es sehr einfach auffaßt.«
«Ich glaube, das ist es. Alles andere ist nur Resignation mit schönen Namen. Meinen Sie nicht?«
"Vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich kann es mir im Augenblick mich nicht vorstellen."
Sie warf mir einen ihrer raschen Blicke zu.»Bravo«, sagte sie und nahm meinen Arm.
Ich zeigte nach links.»Da ist ein Schuhgeschäft. Noch erleuchtet. Wollen wir es ansehen?«
«Wir müssen.«
Wir gingen hinüber.»Wie groß die Stadt ist!«sagte sie.»Sie hört nie auf. Sind Sie gern in New York?«
«Sehr.«
«Warum?«
«Weil man mich hiersein läßt. Einfach, nicht?«
Sie sah mich grübelnd an.»Wenn es genug ist?«
"Es ist genug für ein kleines Glück. Das Glück des primitiven Menschen, Unterkunft und Nahrung."
«Ist das genug?«wiederholte sie.
«Genug für einen Anfang. Abenteuer sind reichlich langweilig, wenn sie Gewohnheit werden.«
Natascha lachte.»Das Glück im Winkel, wie? Wie gut Sie sich etwas vormachen können. Ich glaube Ihnen nicht ein Wort.«
«Ich mir auch nicht. Aber es beruhigt mich manchmal, mir selbst Nolche Sprüche vorzusagen.«
Sie lachte wieder.»Um nicht zu verzweifeln, wie? Oh, wie ich das kenne!«
«Wo wollen wir jetzt hingehen?«fragte ich.
"Das große Problem der großen Stadt. Alle Lokale werden bald langweilig.«
«Wie ist es mit El Morocco?«
Sie drückte zärtlich meinen Arm.»Sie haben es heute mit den MiIlionärslokalen — als wären Sie ein reicher Schuhfabrikant.«»Ich muß meinen neuen Anzug doch ausführen.«
«Mich nicht?«
Ich werde mich hüten, darauf zu antworten.«
Wir gingen in den kleinen Raum des Morocco, nicht in den großen mit der Sternendecke und den Zebrasofas. Im kleinen spielte Karl Inwald Wiener Lieder.
«Was möchten Sie haben?«fragte ich.
«Einen Moscow Mule.«
«Was ist denn das?«
«Ein Moskauer Maulesel. Wodka, Ingwer-Bier und Lime-Saft. Sehr erfrischend.«
«Das werde ich auch versuchen.«
Natascha zog ihre Füße auf das Sofa. Sie ließ ihre Schuhe auf dem Boden stehen.»Ich bin nicht sehr für Sport«, sagte sie.»Nicht wie die Amerikaner. Ich kann weder reiten noch schwim men noch Tennis spielen. Ich bin eine Sofahockerin und eine Schwätzerin.«
«Was sind Sie noch?«
«Sentimental und romantisch und unausstehlich. Billige Roman tik finde ich unwiderstehlich. Je billiger, um so besser. Wie schmeckt der Moscow Mule?«
«Wunderbar.«
«Und die Wiener Lieder?«
«Auch wunderbar.«
«Gut. «Sie lehnte, sich zufrieden in ihre Sofaecke zurück.»Manchmal ist es absolut nötig, sich von einer Riesenwoge Sentimentalität überfluten zu lassen, in der alle Vorsicht und aller guter Geschmack glorios untergehen. Später kann man sich dann trocken schütteln und sich auslachen. Wollen wir?«
«Ich bin schon dabei.«
Sie hatte etwas von einer verspielten und doch traurigen Katze. Sie sah auch so aus mit dem kleinen Gesicht, dem vielen Haar und den grauen Augen.»Fangen wir gleich an«, sagte sie.»Ich bin unglücklich verliebt, entsetzlich enttäuscht, einsam, trostbedürftig, will von nichts mehr etwas wissen und weiß wirklich nicht, warum ich lebe. Ist das genug?«Sie nahm einen großen Schluck und sah mich erwartungsvoll an.
«Nein«, erwiderte ich.»Das sind unbequeme Details.«
«Auch daß ich nicht weiß, warum ich lebe?«
«Wer weiß das? Und wenn man es weiß, so macht es das Leben nur noch mehr zu einer Heißaufgabe. Wollen Sie das?«
Sie starrte mich an.»Meinen Sie das ehrlich?«
«Natürlich nicht. Wir reden Unsinn. Wollten wir das nicht?«»Nicht ganz. So halb und halb.«
Der Pianist kam an den Tisch und begrüßte Natascha.»Karl«, Mgte Natascha,»bitte spielen Sie doch das Lied aus dem >Graf von Luxemburgs«
«Aber gern.«
Karl begann zu spielen. Er sang sehr gut und war ein ausgezeich neter Pianist.»Lieber Freund, man greift nicht nach den Sternen, die für uns in nebelhaften Fernen. «
Natascha hörte ihm entrückt zu. Es war eine hübsche Melodie. Tingeltangel, aber der Text war blödsinnig, wie immer.
«Wie finden Sie es?«fragte Natascha.
«Kleinbürgerlich.«
Sie überlegte nur eine Sekunde.»Dann müßten Sie es ja lieben. Wie das Glück im Winkel, das Sie doch so sehr schätzen.«
Die Kanaille war schnell, dachte ich.»Müssen Sie denn alles zu lode kritisieren?«sagte sie plötzlich sanft.»Können Sie sich nicht loslassen? Haben Sie so viel Angst?«
Auch eine Frage in einem Nachtklub in New York! Ich ärgerte mich über mich dabei, denn sie hatte recht. Wie ein Götze gab ich, während ich es doch gleichzeitig verabscheute, typisch deutsche Antworten. Es hätte nur noch gefehlt, daß ich einen Vortrag über die Vergnügungsstätten vom grauen Altertum bis in die Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der Dielen und Nachtklubs seit dem ersten Kriege gehalten hätte.»Das Lied erinnert mich eine Zeit lange vor dem Kriege«, sagte ich dann.»Es ist ein sehr altes Lied, ich glaube, mein Vater kannte es schon. Mir ist, aIs hätte er es manchmal gesungen. Er war ein schmaler Mann mit einer Liebe für alte Dinge, alte Gärten. Ich habe das Lied gehört. Es ist ein schmalziges Operettenlied; aber in den ubenddunklen Gärten der Wiener Vorstädte und Dörfer, wo der junge Wein unter Windlichtern, unter hohen Nußbäumen und Kastanien ausgeschenkt wird, ist es nicht mehr schmalzig. Es ist wehmütig, mit den Kerzen, der leisen Schrammelmusik und der weichen Nacht. Nicht mehr kleinbürgerlich, das habe ich nur so gesagt. Ich habe es lange nicht mehr gehört. Und da war noch ein linderes Lied: >Erst wenn’s aus wird sein, mit einer Musik und einem Wein.< Das war das letzte, was man damals hören konnte.«
«Karl kennt es sicher.«
«Ich möchte es lieber nicht mehr hören. Es war das letzte Lied, bevor die Nazis Österreich einnahmen. Danach gab es nur noch Marschlieder.«
Natascha schwieg eine Weile.»Karl wird das andere Lied noch ein paarmal spielen. Wenn Sie wollen, sagen wir ihm, daß er es nicht tut.«
«Er hat es doch gerade gespielt.«
«Wenn ich hier bin, spielt er es öfters.«
«Aber wir waren doch schon einmal hier. Da habe ich es nicht gehört.«
«Da hatte er seinen freien Abend. Jemand anders spielte.«
«Ich höre es ebenso gerne wie Sie.«
«Wirklich? Hat es keine traurigen Erinnerungen für Sie?«
«Das ist, wie man es nimmt. Alle Erinnerungen sind zum Schluß traurig, weil sie mit Vergangenem zu tun haben, wenn man so will.«
Sie betrachtete mich.»Ich glaube, es wird jetzt Zeit für einen neuen Moscow Mule.«
«Unbedingt. «Ich betrachtete sie. Sie hatte wenig von Carmens tragischer Schönheit, dafür wechselte ihr kleines Gesicht sehr rasch zwischen wacher Intelligenz, einem fast spitzbübischen, pfeilschnellen und aggressiven Humor und einer plötzlichen, überraschenden Sanftheit.
«Was sehen Sie mich so an?«fragte sie, mit einemmal hellwach und mißtrauisch.»Glänzt meine Nase?«
«Nein. Ich denke nur darüber nach, warum Sie so freundlich zu Kellnern und Klavierspielern sind und so aggressiv zu Ihren Freunden.«
«Weil die Kellner sich nicht wehren können. «Sie sah mich an.»Bin ich wirklich so aggressiv? Oder sind Sie nur übersensibel?«»Ich glaube, ich bin übertrieben sensibel.«
Sie lachte.»Das glauben Sie gar nicht. Niemand, der es ist, glaubt es. Glauben Sie das?«
«Auch das.«
Karl begann das Lied aus dem >Graf von Luxemburg< zum zweiten Male.»Ich habe Sie gewarnt«, sagte Natascha.
Ein paar Leute kamen herein und winkten ihr zu. Auch vorher hatten andere sie schon begrüßt. Sie kannte sehr viele Leute, das hatte ich schon bemerkt. Gleich darauf kamen zwei Männer an den Tisch und sprachen mit ihr. Ich stand dabei und hatte plötzlich jenes Gefühl, das man hat, wenn ein kleines Flugzeug in ein Luftloch gerät. Nichts war mehr fest, alles schwebte und fiel, die grün- und blaugestreiften Wände, die vielen Köpfe und die ver fluchte Musik schwankten — es war wie eine Gleichgewichtsstörung, die blitzartig auftrat. Es konnte nicht der Wodka sein und auch nicht das Gulasch, dafür war das Gulasch zu gut gewesen und der Wodka zu wenig. Wahrscheinlich war es die Erinnerung an Wien, dachte ich erbittert, an Wien und meinen toten Vater, der nicht rechtzeitig genug geflohen war. Ich starrte auf den Flü gel und auf Karl Inwald, ich sah seine Hände auf den Tasten und hörte kaum etwas. Dann begannen die Wände sich wieder zu beruhigen. Ich atmete tief und hatte das Gefühl, von einer wei ten Reise zurückgekommen zu sein.
«Es wird zu voll«, sagte Natascha Petrowna.»Die Theater sind aus. Wollen wir gehen?«
Die Theater sind aus, dachte ich, und die Nachtklubs füllen sich um Mitternacht mit Millionären und Gigolos, und es ist Krieg, und ich hocke dazwischen. Es war ein lächerlicher und ungerechter Gedanke, denn viele der Männer, die an den Tischen saßen, waren in Uniform, und sicher waren nicht alle Etappenschweine, sondern es waren wohl auch Urlauber von der Front darunter, aber mir lag im Augenblick nichts daran, gerecht zu sein. Ein hilfloser Zorn würgte mich.
Wir drängten uns über den schmalen Gang, an dem die Pissoirs und Garderoben lagen, zwischen Gelächter und Grüßen hinaus. Die Straße war warm und feucht. Eine Reihe von Taxis stand vor der Tür. Der Portier öffnete einen Schlag.
«Wir brauchen keines«, sagte Natascha Petrowna.»Ich wohne nicht weit von hier.«
Die Straße wurde dunkler. Wir kamen zu dem Haus, in dem sie wohnte. Sie räkelte sich wie eine Katze.»Ich liebe solche nächtlichen Gespräche über alles und nichts«, sagte sie.»Natürlich ist alles das, was ich Ihnen gesagt habe, nicht wahr.«
Das Licht der Straßenlampe fiel voll auf ihr Gesicht.»Natürlich nicht«, erwiderte ich, immer noch hilflos und zornig auf mich, weil ich mich bemitleidete. Ich nahm sie und küßte sie und erwartete, daß sie mich ärgerlich als vulgären Plebejer zurückstoßen würde. Sie tat es nicht, sie sah mich nur mit einem sonderbaren, stillen Blick an, blieb noch einen Augenblick stehen und ging dann schweigend ins Haus.