Der Traum kam erst mehr als eine Woche später. Ich hatte ihn früher erwartet und schon geglaubt, er würde nicht mehr kommen. Zögernd und vorsichtig hatte sich in mir eine Hoffnung geregt, daß es vielleicht sogar für immer damit vorbei sein könnte. Ich hatte getan, was ich konnte, um ihm zu entgehen, ich hatte mir fast überstürzt und hastig eingeredet, es seien nur noch Nach gewitter, wenn ich plötzlich diese jähen, atemlosen Augenblicke hatte, wie sie jemand während eines Erdbebens fühlen mußte, Gefühle, in denen es schien, als wäre alles lose.
Ich hatte mich getäuscht. Es war derselbe klebrige, zähe schwarze Traum gewesen wie früher, nicht schwächer, sondern eher noch drohender, und es war ebenso schwer für mich, mich von ihm zu befreien, wie sonst. Erst sehr langsam war das Bewußtsein klarer geworden, daß es keine Wirklichkeit war, sondern ein Traum. Er hatte begonnen mit dem Keller im Museum von Brüssel, mit der abgestandenen Dunkelheit darin und dem Gefühl, daß die ände begannen, sich zu verschieben, von oben und von den Seiten auf mich zu, um mich zu erdrücken. Dann, während ich nach Luft keuchte und schreiend auffuhr, ohne zu erwachen, war der klebrige Schlamm gekommen und später das Gefühl, gejagt zu werden, weil ich mich zurückgetraut hatte über die Grenze und nun im Schwarzwald die SS hinter mir her hatte mit Polizei hunden, angeführt von dem Mann, an dessen nacktes Gesicht ich mich nicht erinnern konnte, ohne zu. zittern bis in die Eingeweide. Sie hatten mich erwischt, und ich war wieder in dem Raum, wo die Krematorienöfen standen, allein, ausgeliefert den Gesichtern, den Hals ohne Atem, weil man mich eben bewußtlos von dem Haken an der Wand losgemacht hatte, an dem sie einen aufhängten, während die Opfer die Wände mit den Händen und den gebundenen Füßen zerkratzten und die Peiniger Wetten ab schlossen, wer sich am längsten am Leben erhalten konnte. Dann hörte ich wieder den Lächler, der nach Parfüm roch und mir er klärte, wie er mich noch lange nicht, aber vielleicht später, wenn ich ihn auf den Knien darum bitten würde, lebendig verbrennen wolle, und was dabei mit meinen Augen geschähe. Der letzte Traum war wie jedesmal der gewesen, daß ich jemand in einem Garten vergraben und daß ich es schon fast vergessen hatte, bis die Polizei im Sumpf die Leiche fand und ich nicht begreifen konnte, warum ich sie nicht anderswo und besser versteckt hatte.
Es dauerte lange, bis ich begriff, daß ich in Amerika war und geträumt hatte.
Ich war so erschöpft, daß ich mich eine Zeitlang nicht erheben konnte. Ich blieb liegen und starrte in die rötliche Nacht. Schließlich stand ich auf und zog mich an. Ich wollte nicht riskieren, noch einmal in den Schlaf zu rutschen und dann aufs neue überwältigt zu werden. Das war mir auch schon passiert, und der zweite Traum war dann stets schlimmer als der erste. Nicht nur Traum und Wirklichkeit mischten sich auf eine unlösliche Weise miteinander, sondern auch die beiden Träume, wobei der erste die Rolle einer verstärkten Wirklichkeit übernahm und mich völlig in Verzweiflung stürzte.
Ich ging hinunter in die Hotelhalle, in der nur noch ein trübseli ges Licht brannte. In der Edce schnarchte der Mann, der Melikow dreimal in der Woche vertrat. Er sah mit dem gefurchten, von Seele entleerten Gesicht und dem offenen, stöhnenden Mund selbst wie ein Gefolterter aus, der soeben bewußtlos von einem Fleischerhaken losgemacht worden war.
Ich gehöre zu ihnen, dachte ich, ich gehöre zu dieser Horde von Mördern, es war mein Volk, ganz gleich, was ich mir am Tage auch vortäuschen mochte, ganz gleich, ob sie mich gejagt und verstoßen und ausgebürgert hatten, ich war unter ihnen geboren, und es war töricht, wenn ich mir vormachen wollte, daß ein treues, ehrliches, unwissendes Volk durch Legionen vom Mars überfallen und hypnotisiert worden sei. Diese Legionen waren unter ihm selbst aufgewachsen, sie hatten sich aus brüllenden Kasernenhofschindern und tobenden Demagogen entwickelt, es war der alte, von Oberlehrern angebetete furor teutonicus gewesen, der zwischen Gehorsamsknechten, Uniformvergötzern und viehischem Atavismus aufgeblüht war; mit der einzigen Einschränkung freilich, daß das Vieh niemals so viehisch war. Es war keine Einzelerscheinung! Die Wochenschauen mit ihren Zehntausenden von aufgerissenen, tobenden Mäulern zeigten nicht ein geduldiges, unwilliges Volk, dem befohlen worden war, es war das Urvolk selbst, das jauchzte, das die dünne Schicht der Zivilisation durchbrochen hatte und sich nun in seinem barbarischen Blut-Kot wälzte. Furor teutonicus! Heiliges Wort meines bebrillten Vollbart-Oberlehrers! Wie er es kostete! Wie selbst Thomas Mann es noch gekostet hatte zu Beginn des ersten Krieges, als er die >Gedanken zum Kriege< schrieb und >Friedrich und die Große Koalition^ Thomas Mann, der Hort und Führer der Emigranten. Wie tief mußte die Barbarei sitzen, wenn sie selbst in diesem humanen und humanistischen Dichter nicht ganz aus gerottet war!
Ich trat auf die Straße. Die Nacht schlief noch zwischen den Mauern. Ich wandte mich zum Broadway, auf der Suche nach Licht. Ein paar Buden mit Hamburgers, die die ganze Nacht offen hatten, schütteten ihr sparsames Licht über die Straße. In einigen hochten Leute auf Barstühlen wie verdammte Geister. Licht ohne Menschen war gespensterhafter als Dunkel, es war zweddos in unserem immer auf Zweck ausgerichteten Dasein und wirkte mondhaft, als schiene es in Kratern, die in Häusern eingelassen und verlassen waren.
Ich blieb vor einem Delikatessengeschäft stehen. Im Fenster trau erten Mortadella-Würste und viele Käsesorten. Irwin Wolff hieß der Besitzer, der Europa wahrscheinlich zur rechten Zeit verlassen hatte. Ich starrte auf den Namen. Nicht einmal das hatte ich als Ausrede. Nicht einmal diese künstliche Unterscheidung konnte ich benutzen! Ich konnte nicht sagen, daß ich ein Jude wäre, ich konnte mich darauf nicht berufen, um klarzustellen, daß ich mit den Teutonen nichts zu tun habe; ich konnte sie nicht mit ihren eigenen falschen Waffen schlagen. Ich gehörte zu ihnen, ich war einer der Ihren, und wenn mir in diesem nebligen Morgengrauen Herr Irwin Wolff plötzlich gegenübergetreten und mit einem Messer nachgejagt wäre, als einem der Mörder seines Volkes, so hätte mich das in dieser Stunde nicht überrascht.
Ich ging weiter, über die nächtliche 20. Straße, ein Stüde den Broadway hinauf, dann nach rechts zur Dritten Avenue. Ich überquerte sie, ging wieder zurüdc, den Broadway entlang, des sen Lichter blasser geworden waren, und dann hinauf, bis ich zur Fifth Avenue gelangte, die schweigend und fast menschenleer war. Nur die Verkehrslichter funktionierten, die ganze lange Straße wurde nach einem sinnlosen, entmenschten Willen rot und grün, so wie Völker ohne Grund plötzlich umgeschaltet wurden aus friedlichem Grün in die düsteren Fackeln kilometerweiten Rots. Uber dieser unheimlichen Landschaft der Lautlosigkeit begann langsam der Himmel höher zu wachsen. Die Häuser wur den ebenfalls höher, sie schoben das Dunkel an sich empor wie Frauen, die sich entblößen, von Stockwerk zu Stockwerk, bis ganz oben die Kanten bleich sichtbar wurden und sich das ge staltlose Chaos mit einem fast fühlbaren Ruck von den Gebäu den löste, verschwamm und zerfloß. Ich ging und ging, ich wußte, daß Gehen und tiefes Atmen das einzige war, was mir immer ge holfen hatte, und unwillkürlich blieb ich auf der breiten Fifth Avenue, auf der die Läden im grauer werdenden Tag verwelkten, als wären ihre eingesperrten Lichtkuben von Krebs befallen. Ich hielt mich auf der Straße der billigen Zivilisation und der Luxusgeschäfte, als gäben sie mir Sicherheit und sogar Trost, als schritte ich diese Avenue nutzloser Bedürfnisse ab, und zu beiden Seiten, hinter den Steinmauern, fließe bereits klebrig schwarz das Chaos dahin, unterirdisch noch, aber bereit, auch hier aus den Kanälen hervorzubrechen und alles zu überschwemmen. Die Nacht erlosch, die haltlose Stunde vor der Frühe nebelte durch die Straßen, und über den Häuserblöcken erschien plötzlich, zart,jungfräulich, in Rosa, grauem Silber und einem Zugvögelflug von Lämmerwolken der junge Tag und legte seine ersten Licht pfeile auf die obersten Stockwerke der höchsten Gebäude, die in lichtem Pastell jetzt über dem dunkleren Gewoge der Straße schwebten. Es war vorbei, dachte ich und blieb vor den Schaufenstern von Saks stehen, in denen verzauberte Mannequin-Pupen im Dornröschenschlaf erstarrt schienen. Pelze um den Hals, Stolen, Pelerinen und Nerzkragen darüber, ein Dutzend erfrorener Anna Kareninas auf der Schnepfenjagd in Rußland. Ich war auf einmal sehr hungrig und fiel in die nächste Frühstücks stube ein, die offen war.
Betty Stein war jetzt überzeugt, daß sie Krebs habe. Niemand hatte es ihr gesagt, jeder hatte sie beruhigt, trotzdem hatte sie sich, mit dem nie erlahmenden Scharfsinn mißtrauischer Kranker, aus den vielen kleinen Zeugnissen, die sie zusammentrug und nicht vergaß, allmählich ein größeres Bild gemacht. Sie glich in dieser Zeit einem General, der alle Detailmeldungen einer Schlacht zusammenträgt und auf einer großen Karte verzeichnet. Nichts wird vergessen, Widersprüche werden verglichen, berichtigt und verzeichnet, und langsam schält sich das Bild der Schlacht heraus — während alle ändern noch Teilerfolge buchen und in Optimismus schwelgen, hat er allein bereits erkannt, daß die Schlacht verloren ist, und während rundherum noch Siegge- schrien wird, gruppiert er schon seine Truppen zum letzten Gefecht.
Betty hatte aus Winken, Blicken, zufälligen Bemerkungen und Büchern alles zusammengetragen, was ein Mensch nur finden kann, der um sein Leben kämpft. Die Periode, beruhigt zu werden, war der des Mißtrauens gewichen, diese der des Zweifels. Jetzt auf einmal fiel die wache Anspannung aller Sinne zusammen und gab Gewißheit. Aber anstatt nun aufzugeben und zu resignieren, begann bei Betty ein nahezu heroischer Kampf um jeden Tag. Sie wollte nicht sterben. Der Tod, der während der Periode des Zweifels neben ihrem Bett zu stehen schien, wurde von einer unerhörten Anstrengung ihres Willens verscheucht. Er mochte nach wie vor da sein, aber sie nahm ihn nicht mehr zur
Kenntnis. Sie wollte leben, und sie wollte zurück nach Berlin; sie wollte nicht in New York sterben. Sie wollte zum Olivaer Platz in Berlin. Sie war von dort gekommen, und dorthin wollte sie zurück.
Sie fing plötzlich an, fieberhaft die Zeitungen zu studieren. Sie kaufte sich Karten von Deutschland und befestigte sie in ihrem Schlafzimmer an der Wand, um den Vormarsch der Alliierten zu verfolgen. Sie besaß bunte Nadeln, die sie jeden Morgen ein Stück weiter steckte, wenn sie die militärischen Berichte gelesen hatte. Ihr eigener Tod und der Massentod in Deutschland liefen ein Rennen Kopf an Kopf. Betty war eisern entschlossen, länger auszuhalten.
Sie war früher eine Frau mit einem Herzen gewesen, das schmolz wie Butter in der Sonne. Sie blieb diese Frau für ihre Bekannten. Sie konnte keine Tränen sehen, ohne daß sie nicht versucht hätte, sie zu stillen. Aber sie verhärtete sich jetzt gegen den Untergang eines Volkes, er wurde keine menschliche, sondern eher eine mathematische Katastrophe. Sie konnte nicht verstehen, warum dieses Volk nicht aufgab. Kahn behauptete, daß sie das allmählich als eine schwere persönliche Beleidigung auffaßte. Es war vielen Emigranten unverständlich, am meisten denen, die immer noch an ein verführtes Deutschland glaubten. Auch sie begriffen nicht, weshalb man drüben nicht aufgab. Sie waren bereit, dem einfachen Mann zuzugestehen, daß er nicht anders konnte, er war ja eingeklemmt zwischen Gehorsam und Pflicht. Weshalb aber der Generalstab weitermachte, obschon er klar voraussah, daß alles verloren war, begriff niemand. Man wußte, daß ein Generalstab, der einen verlorenen Krieg nicht beendete, sich aus fragwürdigen Helden in eine Bande von Massenmördern verwandelte, und blickte voll Abscheu und Entsetzen auf Deutschland, wo Feigheit, Angst und mißverstandenes Großmannstum diese Verwandlung gestatteten. Das Attentat auf Hitler machte es nur deutlicher — den wenigen Mutigen stand die überwältigende Masse egoistischer und mörderischer Generäle gegenüber, die sich mit Durchhalteparolen, die ihnen selbst nicht gefährlich werden konnten, vor ihrer Schande retteten.
Für Betty Stein war das alles zur persönlichen Sache geworden.
Der Krieg ging nur noch darum, ob sie den Olivaer Platz er reichen würden oder nicht. Der Begriff des Blutes hatte sich in Vormarschziffern aufgelöst. Betty marschierte mit. Wenn sie nachher aufwachte, grübelte sie darüber nach, wo die Amerikaner inzwischen sein könnten; Deutschland hatte sich für sie verkleinert, es bestand nur noch aus Berlin. Von Berlin hatte sie nach langem Suchen eine Spezialkarte gefunden. Hier wurde der Krieg wieder zu Blut und Grauen für sie. Sie litt ihn mit, wenn sie die Bombardements markierte. Sie weinte, sie wütete, weil selbst Kinder dort in Uniformen gesteckt wurden und kämpften. Wie eine traurige Eule starrte sie aus großen, verschreckten Augen auf uns und begriff nicht mehr, daß ihr Berlin und ihre Berliner nicht aufgeben wollten und die Parasiten, die ihnen im Nadten saßen und sein Blut saugten, nicht verjagten.
«Für wie lange gehen Sie fort, Ross?«fragte sie mich.
«Ich weiß es nicht genau. Für zwei Wochen. Vielleicht auch für länger.«
«Ich werde Sie vermissen.«
«Ich Sie auch, Betty. Sie sind mein Schutzengel.«
«Ein Schutzengel, dem der Krebs im Bauche frißt.«
«Sie haben keinen Krebs, Betty.«
«Ich spüre ihn«, flüsterte sie.»Ich spüre, wie er nachts frißt. Ich höre ihn. Wie eine Seidenraupe, die Maulbeerlaub frißt. Ich muß dagegen anessen, sonst frißt er mich zu rasch auf. Ich esse fünf mal am Tage. Ich darf nicht dünner werden. Ich muß etwas zu zusetzen haben. Wie sehe ich aus?«
«Glänzend, Betty. Gesund.«
«Glauben Sie, daß ich es schaffen werde?«
«Was, Betty? Daß Sie zurückkommen nach Deutschland? Warum nicht?«
Betty sah mich mit ihren dunkel umrandeten, hungrigen Augen an.»Werden sie uns reinlassen?«
«Die Deutschen?«
Betty nickte.»Es ist mir heute nacht eingefallen. Vielleicht nehmen sie uns an der Grenze gefangen und stecken uns in ein Konzentrationslager.«
«Das ist unmöglich. Dann sind sie doch besiegt und haben nichts mehr zu befehlen und anzuordnen. Die Amerikaner und Engländer und Russen sind dann da und befehlen.«
«Die Russen? Haben die nicht auch Konzentrationslager? Die werden dann doch in Berlin sein! Werden sie uns nicht in ihre Bergwerke in Sibirien schicken? Oder in Arbeitslager? So heißen doch die Lager, in denen man stirbt.«
Ihre Lippen zitterten.»Ich würde darüber jetzt nicht nachdenken, Betty«, sagte ich.»Warten Sie erst einmal, bis der Krieg zu Ende ist. Dann werden wir sehen, was passiert. Vielleicht etwas ganz anderes, als wir heute denken.«
«Was?«fragte Betty ängstlich.»Meinen Sie, daß der Krieg weitergehen wird, wenn Berlin eingenommen ist? In den Alpen? In Berchtesgaden?«
Sie dachte nur an den Krieg im Verhältnis zu ihrem eigenen, rasch ablaufenden Leben. Ich merkte, wie sie mich beobachtete, und nahm mich zusammen; Kranke waren scharfsichtiger als Gesunde.»Sie denken, was Kahn denkt«, sagte sie klagend.»Daß die ändern sich um Siege und Niederlagen sorgen und ich nur an den Olivaer Platz denke.«
«Warum sollen Sie das nicht, Betty? Sie haben genug mitgemacht. Sie können Ihre Gedanken jetzt ruhig auf den Olivaer Platz beschränken.«
«Ich weiß. Aber…«
«Hören Sie nicht auf die ändern, die Sie kritisieren. Emigranten sind jetzt weit vom Schuß, und viele verfallen in die Fehler der Gefangenenpsychosen. So brutal das klingt, es hat Ähnlichkeit mit Stammtisch-Politikern. Jeder weiß alles und alles noch bes ser. Bleiben Sie, wie Sie sind, Betty. Wir haben bereits den Ge neral Tannenbaum mit seiner Blutliste. Wir brauchen keine zwei von der Sorte.«
Regen klatschte an die Scheiben. Es wurde dunkel im Zimmer. Betty kicherte plötzlich.»Dieser Tannenbaum! Er sagt, wenn er jemals Hitler im Film spielen müßte, würde er ihn wie einen schäbigen Heiratsschwindler spielen. So sähe er nämlich aus, mit der falschen Napoleonslocke und der Bürste unter der Nase. Ein Heiratsschwindler für ältere Damen!«
Ich nickte. Ich war dieser billigen Emigrantenwitze müde. Man tut etwas nicht mit Witzen ab, das eine Weltkatastrophe ausgelöst hat.»Tannenbaum ist unverwüstlich«, sagte ich.»Ein Mann von goldenem Humor!«
Ich stand auf.»Auf Wiedersehen, Betty. Ich bin bald wieder da. Dann werden Sie den ganzen Spuk, den Ihnen Ihre reiche Phantasie jetzt Vormacht, vergessen haben und wieder wie früher sein. Sie hätten Schriftstellerin werden sollen. Ich wollte, ich hätte die Hälfte Ihrer Phantasie!«
Sie nahm es als das, was es sein sollte, als ein Kompliment. Die armen, fragenden Augen belebten sich.»Das ist ein guter Gedanke, Ross! Aber worüber sollte ich wohl schreiben? Ich habe ja gar nichts erlebt.«
«Über Ihr Leben, Betty. Ihr volles Leben für uns alle.«
«Wissen Sie was, Ross? Das könnte ich wirklich einmal versuchen.«
«Tun Sie es.«
«Aber wer wird es lesen? Und wer wird es drucken? Das war es ja mit Möller! Er war verzweifelt, daß niemand in Amerika etwas von ihm drucken wollte. Deshalb hat er sich er hängt.«
«Das glaube ich nicht, Betty. Ich denke eher deshalb, weil er hier nicht schreiben konnte«, sagte ich rasch.»Das ist etwas ganz anderes als bei Ihnen! Möller konnte hier nicht schreiben, es fiel ihm nichts mehr ein. Im ersten Jahr noch, da war er noch voll Empörung und Protest. Aber dann wurde er still. Die Gefahr war vorüber, die Empörung wiederholte sich ohne neue persönliche Erfahrung, sie wurde zu einer rebellischen Langeweile und von da zu machtloser Resignation. Daß er sein Leben gerettet fand, genügte ihm nicht, wie den meisten von uns. Er wollte mehr, und daran zerbrach er.«
Betty hatte aufmerksam zugehört. Ihre Augen flatterten nicht mehr.»So wie Kahn?«fragte sie.
«Kahn? Was hat das mit Kahn zu tun?«
«Ich weiß nicht. Es fiel mir nur so ein.«
«Kahn ist kein Schriftsteller. Er ist das Gegenteil, ein Mann der Tat.«
«Eben«, erwiderte Betty zaghaft.»Aber vielleicht irre ich mich.«
«Sicher, Betty.«
Ich war nicht so sicher, als ich die dunklen Treppen hinabstieg. Im Flur begegnete ich Gräfenheim.»Wie ist sie?«fragte er.»Schwierig«, sagte ich.»Geben Sie ihr Mittel?«
«Noch nicht. Sie wird sie früh genug brauchen.«
Ich ging die regennasse Straße entlang. In der Nähe von Kahns Laden bog ich ab. Ich hatte zur 57. Straße weitergehen wollen, aber jetzt wollte ich nachsehen, was er machte.
Ich fand ihn in seinem Laden.»Wann fahren Sie nach Hollywood?«
«In zwei Tagen.«
«Es kann sein, daß Sie Carmen dort auftauchen sehen.«»Carmen?«
Kahn lachte.»Irgendein kleiner Assistent hat ihr einen Anfängerkontrakt gegeben. Für drei Monate. Hundert Dollar die Woche. Sie wird bald wieder hier sein. Sie ist ein Antitalent.«
«Wollte sie?«
«Nein. Sie ist zu bequem. Ich habe ihr Zureden müssen.«»Warum?«
«Damit sie nicht glaubt, etwas versäumt zu haben. Sie könnte es mir sonst ewig vorwerfen. So weiß sie es nach drei Monaten selbst. Stimmt’s?«
Ich antwortete nicht. Er war nervös.»Stimmt es nicht?«fragte er noch einmal.
«Ich hoffe es. Sie ist sehr schön. Ich hätte es nicht riskiert.«
Er lachte wieder, etwas hektisch.»Warum nicht? In Hollywood gibt es Tausende wie sie. Und solche mit mehr Talent. Sie kann ja nicht einmal Englisch! Kümmern Sie sich etwas um sie, wenn sie ankommt.«
«Natürlich, Kahn. Soweit man sich um ein hübsches Mädchen kümmern kann.«
«Bei Carmen ist das einfach. Sie schläft meistens.«
«Ich werde es gern tun. Aber ich kenne ja selbst niemand. Vielleicht Tannenbaum, sonst niemand.«
«Dann essen Sie ab und zu mit Carmen. Und reden Sie ihr zu, nach New York zurückzufahren, wenn es soweit ist.«
«Gut. Was machen Sie, wenn sie weg ist?«
«Dasselbe wie immer.«
«Was?«
«Nichts. Ich verkaufe Radioapparate. Was kann ich sonst machen? Der Enthusiasmus, am Leben zu sein, ist wie Champagner. Wenn man ihn geöffnet hat, wird er bald abgestanden. Gut, daß fast niemand lange darüber nachdenkt. Viel Glück, Ross! Werden Sie kein Schauspieler! Sie sind schon einer!«
«Wenn du zurückkommst, wird dieses Wolkenkuckucksnest wie der das Heim eines melancholischen Homosexuellen sein«, sagte Natascha.»Er kommt in einer Woche. Ein Brief auf grauem Bütten, nach Jockeyklub duftend, hat es mir heute morgen an gekündigt.«
«Von wo?«
«Interessiert dich das plötzlich?«
«Nein. Es war eine idiotische Frage, um meine Verwirrung zu verbergen.«
«Aus Mexiko. Auch dort ist eine große Liebe zu Ende gegangen.«
«Wieso auch dort?«
«Ist das wieder eine Frage, um deine Verwirrung zu verbergen?«
«Nein. Es ist eine Frage aus allgemeinem Interesse an menschlichen Entwicklungen.«
Sie stützte einen Arm auf und blickte in den Spiegel, so daß unsere Augen sich trafen.»Wie kommt es, daß wir viel mehr Interesse an Unglück haben als an Glück? Sind wir neidische Biester?«
«Das sicher. Aber außerdem ist Glück langweilig, Unglück nicht.«
Sie lachte.»Da ist was dran. Über Glück kann man höchstens fünf Minuten reden. Da ist nichts anderes zu sagen, als daß man glücklich ist. Über Unglück kann man nächtelang sprechen. Stimmt das?«
«Es stimmt bei kleinerem Unglück«, sagte ich zögernd.»Nicht bei wirklichem.«
Sie sah mich immer noch an. Das Licht vom Wohnzimmer fiel schräg in ihre Augen und machte sie seltsam hell und durchsich tig.»Bist du sehr unglücklich, Robert?«fragte sie, und ihre Au gen ließen mich nicht los.
«Nein«, erwiderte ich nach einer Weile.
«Gut, daß du nicht gesagt hast, du wärst glücklich. Meistens habe ich nichts gegen Lügen. Ich lüge selbst nicht schlecht. Aber manch mal kann ich es nicht ertragen.«
«Ich wünschte gerade sehr, daß ich glücklich wäre«, sagte ich.
«Du bist es nicht. Nicht so, wie andere Menschen glücklich sind.«
Wir sahen uns immer noch an. Es schien leichter, im Spiegel zu antworten, als wenn man sich direkt ansah.»Du hast mich neulich schon einmal so gefragt«, erwiderte ich.
«Damals hast du gelogen. Du dachtest, ich wollte dir eine Szene machen, und dem wolltest du aus dem Wege gehen. Ich wollte dir keine Szene machen.«
«Ich habe auch damals nicht gelogen«, sagte ich fast automatisch und bereute es gleich danach. Leider hatte ich im Leben einige Eigenschaften angenommen, die für meine Existenz wichtig waren, aber nicht für mein Privatleben — dazu gehörte es auch, nie eine Lüge einzugestehen. Es war ein gutes Prinzip im Kampf mit Behörden, aber nicht immer eines beim Umgang mit Geliebten, obschon es auch da mehr Vorteile als Nachteile hatte.
«Ich habe nicht gelogen«, sagte ich.»Ich habe mich nur ungeschickt ausgedrückt. Wir haben aus einem romantischeren Jahr hundert eine Anzahl Begriffe übernommen, die viel differenzier ter geworden sind. Dazu gehört auch wohl der Begriff Glück. Wie leicht war man früher glücklich! Und mit Glück meinte man das ganze Glück! Ich denke nicht an die Schriftsteller und Falsch münzer, die mit ihren geschichten Lügen ganze Epochen durch einandergebracht haben — selbst sehr große waren wie hypnotisiert von der leuchtenden, unwirklichen Kugel, die mit Flitter gold überzogen war: Glück, diese Panazee, dieses Allheilmittel für alle. Wer liebte, war glücklich, und wer glücklich war, der war rundum glücklich.«
Natascha ließ meine Augen los und streckte sich lang aus.»Ja, Professor«, murmelte sie.»Das ist sicher sehr gescheit, aber glaubst du nicht auch, das andere war einfacher?«
«Das war es wahrscheinlich.«
«Es kommt doch nur darauf an, was man glaubt. Was ist schon wahr? Was man fühlt, hat doch mit Wahrheit nichts zu tun.«
Ich lachte.»Natürlich nicht.«
«Ihr bringt alles durcheinander. Wie schön war das früher, als man zu einer Unwahrheit nicht Lüge sagte, sondern Phantasie, und als Gefühl nur nach Intensität beurteilt wurde und nicht nach moralischen Grundsätzen. Ich bin neugierig, wie du aus dem Schwindelnest Hollywood zurückkommst! Dort wird man dir die volltönenden Klischees nur so vor den Augen schwenken, als wären sie ein geplatztes Bett mit Federn.«
«Woher weißt du das? Warst du dort?«
«Ja«, sagte Natascha.»Zum Glück war ich nicht photogen.«
«Du nicht photogen?«
«Nein, was immer das heißt.«
«Wärst du sonst dort geblieben?«
Sie küßte mich.»Natürlich, mein deutscher Hamlet. Jede Frau, die etwas anderes sagt, lügt. Glaubst du, mein Beruf sei etwas so Erhabenes, daß ich ihn nicht aufgeben könnte? Ach, diese fetten reichen Frauen, denen man vorschwindeln muß, Kleider für schlanke Personen paßten auch ihnen! Und diese dünnen Bestien, die sich nicht trauen, einen Geliebten zu haben, und die auch keinen finden können und dafür ihre Wut an Menschen auslassen, die sich nicht wehren können!«
«Ich wollte, du könntest mitkommen«, sagte ich, ohne nachzudenken.
«Das geht nicht. Die Wintersaison geht an. Und wir haben kein Geld.«
«Wirst du mich betrügen?«
«Natürlich«, sagte sie.
«Ist das natürlich?«
«Ich betrüge dich nicht, wenn du da bist.«
Ich sah sie an. Ich wußte nicht, ob sie meinte, was sie sagte.
«Wenn jemand nicht da ist, ist das, als kämeer nie wieder«, sagte sie.»Nicht sofort, aber sehr bald.«
«Wie bald?«
«Wie soll ich das wissen? Laß mich nicht allein, und du brauchst mich nie zu fragen.«
«Das ist bequem«, sagte ich.
«Es ist einfacher«, erwiderte sie.»Wenn jemand da ist, braucht man keinen ändern. Wenn er nicht da ist, ist man allein, und wer kann schon allein sein? Ich nicht.«
«Geht das so schnell?«fragte ich, nun doch etwas beunruhigt.»Man tauscht einfach einen gegen den ändern aus?«
Sie lachte.»Natürlich nicht. So ist das nicht. Es ist nicht einer gegen den ändern — es ist Nichtalleinsein gegen Alleinsein. Männer können vielleicht allein sein, Frauen nicht.«
«Du kannst nicht allein sein?«
«Nicht gut, Robert. Ich bin ein Efeu. Allein krieche ich auf dem Boden herum und verfaule.«
«Auch in zwei Wochen schon?«
«Wer weiß, wie lange du wegbleibst. Ich glaube nie an Daten. Besonders nicht an Daten von Rückkehr.«
«Das sind ja schöne Aussichten!«
Sie warf sich herum und küßte mich.»Möchtest du lieber eine Tränenliese, die ins Kloster geht?«
«Zum Hierbleiben nicht, zum Weggehen schon.«
«Man kann nicht alles haben.«
«Das ist der traurigste Satz, den es gibt.«
«Nicht der traurigste. Der weiseste.«
Ich wußte, daß wir spielten, doch es war ein Spiel, in dem die Pfeile nicht stumpf waren. Die Worte drangen weiter als nur unter die Haut.»Ich würde hierbleiben, wenn ich könnte«, sagte ich.»In dieser Zeit nach Hollywood zu gehen, scheint mir genau das Verkehrte. Aber ich würde in einer Woche nichts mehr zu essen haben, wenn ich nicht mitginge. Silvers würde einen ande ren Assistenten engagieren.«
Ich haßte mich, weil ich das sagte. Ich hatte mich nicht auf Erklärungen einlassen wollen, ich wollte nicht in eine Situation solcher Abhängigkeit geraten, in der ich Erklärungen abgeben mußte wie ein Schlappschwanz von Ehemann. Sie war schlau, dachte ich erbittert, sie hatte den Schauplatz verlegt. Ich kämpfte nicht mehr auf ihrem Grunde, sondern auf meinem, und das be deutete Gefahr. Ich hatte das einmal von einem Stierkämpfer gelernt.»Ich werde mich damit abfinden müssen«, sagte ich und lachte.
Es gefiel ihr nicht, aber sie antwortete nicht darauf.»Es ist Herbst«, sagte sie in dem schnellen Wechsel von Stimmungen, den ich an ihr kannte,»und im Eierbst sollte man nicht mehr allein sein. Es ist ohnehin schwer genug, ihn zu bestehen.«
«Du hast bereits Winter, Natascha. Du bist immer eine Jahres zeit voraus, hast du mir erklärt, die Wintermode ist mit Schneestürmen in vollem Gange.«
«Du weißt auf alles eine Antwort«, erklärte sie feindselig.»Immer weißt du einen Ausweg.«
«Für etwas weiß ich keinen Ausweg«, sagte ich.»Für dich!«
Ihr Gesicht veränderte sich.»Ich wollte, du würdest nicht lügen.«
«Ich lüge nicht. Ich weiß wirklich keinen. Warum sollte ich auch?«
«Du bist immer voller Pläne. Du läßt dich nicht überraschen. Ich mich immer. Warum tust du es nicht?«
«Es ist mir immer schlecht bekommen. Nur bei dir nicht. Du bist eine Uberraschung, die nie zur Gewohnheit wird.«
«Bleibst du heute nacht hier?«
«Ich bleibe hier, bis ich im Sturmschritt zum Bahnhof rennen muß.«
«Das brauchst du nicht. Du kannst ein Taxi nehmen.«
Wir schliefen wenig in dieser Nacht. Wir erwachten und liebten uns und schliefen ein, dicht aneinandergepreßt, und wachten auf und sprachen und liebten uns wieder oder fühlten nur unsere Wärme und das Geheimnis der Haut, die vereinigt und doch auf immer trennt. Wir ermatteten im Versuch, sie zu besiegen, wir stießen Rufe aus, wie man sie Pferden zuruft, um sie zu größerer Anstrengung anzufeuern, sinnlos, aus unterbewußten Quellen plötzlich aufspringend, wir haßten uns und liebten uns, wir schrien wie die Fuhrknechte miteinander, um tiefer in uns hin einzudringen, um unser Gehirn auszuleeren von allen künstlich aufgerichteten Grenzen, um näher heranzukommen an das Geheimnis des Windes, des Meeres und der Tiere, wir überschütteten uns mit dem Jargon der Huren und den Zärtlichkeiten der Liebenden, wir ermüdeten und wurden stiller, wir warteten auf die tiefe, braune und goldene Stille der letzten Entspanntheit, wenn selbst Worte zuviel der Mühe sind und man sie ohnehin nicht braucht — sie liegen fern, verstreut wie Steine nach einem starken Regen — wir warteten, und sie kam und sie war bei uns und wir fühlten sie: diese Stille, in der man nur noch Atem ist; nicht heftiger Atem, sondern leisester, der die Lungen kaum noch bewegt. Wir warteten darauf, wir sanken hinein, und Natascha sank hindurch in den Schlaf. Ich aber sah sie an, und es dauerte lange, bis auch ich schlief. Ich sah sie an mit der geheimen Neugierde, die ich immer schon bei Schlafenden hatte, als wüßten sie etwas, was mir für immer verborgen war. Ich sah ihr gelöstes Gesicht mit den langen Wimpern, das mir durch die Schatten magie des Schlafes entrüdct war und nichts mehr von mir wußte, für das alle Schwüre, Schreie, Entzüdumgen der Stunde vorher nicht mehr existierten, für das auch ich nicht mehr da war, neben dem ich sterben konnte, ohne daß es etwas von mir wußte, ich sah es gierig und voll eines leisen Grauens an, diesen fremden Menschen neben mir, der nun schon das Nächste war, das ich hatte, und ich begriff plötzlich, daß man nur die Toten ganz hat, weil sie nie entfliehen können. Alles andere pulsierte und weckselte und trennte sich und verschob sich und war schon nicht mehr das gleiche, wenn es auftauchte. Die Toten allein waren treu. Das war ihre Macht.
Ich horchte auf den Wind, der in dieser Höhe fast immer um die Häuser strich. Ich fürchtete mich, einzuschlafen, ich scheuchte die Vergangenheit weg und betrachtete das Gesicht Nataschas, das jetzt zwischen den Brauen eine schmale Falte zeigte. Ich betrachtete es, und mir schien eine kurze Zeit, daß ich nahe daran war, etwas zu entdecken, das wie ein unbekannter und sanft beglänzter Raum war, von dem ich nichts geahnt hatte. Ich fühlte ein sehr ruhiges ekstatisches Entzücken, dessen stärkste Empfindung Weite war. Ich näherte mich vorsichtig und atemlos, und in dem Augenblick, in dem ich die letzte Bewegung machte, wußte ich es nicht mehr und war eingeschlafen.