XXI

Betty Stein war zurück.»Niemand sagt mir die Wahrheit«, klagte sie.»Weder meine Freunde noch meine Feinde.«

«Sie haben keine Feinde, Betty.«

«Sie sind ein Schatz. Aber warum sagt man mir nicht die Wahr heit? Ich kann sie ertragen. Es ist schrecklicher, nicht zu wissen, was mit mir los ist.«

Ich sah zu Gräfenheim hinüber, der hinter ihr saß.»Man hat Ihnen die Wahrheit gesagt, Betty. Warum glauben Sie mit Gewalt, daß die Wahrheit nur das Schlimmste ist? Sind Sie so dramatisch?«

Sie lächelte wie ein Kind.»Ich kann mich dann anders einstellen. Wenn wirklich jetzt alles in Ordnung mit mir ist, lasse ich mich weiter gehen, ich kenne mich. Wenn ich aber weiß, daß es um Tod oder Leben geht, werde ich kämpfen. Ich werde wie eine Verrückte um die Zeit kämpfen, die ich noch habe. Und wenn ich kämpfe, kann ich die Zeit vielleicht noch verlängern. Sonst aber verliere ich sie. Verstehen Sie das nicht? Sie müssen das doch ver stehen!«

«Ich verstehe es. Aber wenn Doktor Gräfenheim Ihnen sagt, alles sei in Ordnung, so sollten Sie es doch glauben. Warum soll er Sie belügen?«

«Weil man das immer tut. Kein Arzt sagt einem die Wahrheit.«»Auch nicht, wenn er ein alter Freund ist?«

«Dann erst recht nicht.«

Sie war seit drei Tagen zurück und marterte sich und ihre Freunde mit diesen Fragen. Die großen, eindrucksvollen und unruhigen Augen in dem weichen Gesicht, das trotz des Alters immer noch die Unreife eines jungen Mädchens zeigte, irrten von einem zum anderen. Es kam vor, daß jemand es fertigbrachte, sie für kurze Zeit zu beruhigen, dann war sie kindlich dankbar, aber ein paar Stunden später begannen die Zweifel und die Fragen wieder. Sie saß in einem alten Ohrenstuhl, den sie bei den Brüdern Lowy ge kauft hatte, weil er sie an Europa erinnerte, und hatte die Kupferstiche von Berlin um sich. Sie hatte sie vom Korridor in ihr Schlafzimmer gehängt und zwei kleine, die Stutzen zum Aufstel len hatten, immer neben sich, wohin sie auch ging. Es störte sie nur vorübergehend, wenn sie in den Zeitungen las, daß Berlin fast jeden Tag bombardiert wurde. Sie nahm es nur für Stunden zur Kenntnis, dann allerdings so sehr, daß Gräfenheim ihr im Krankenhaus die Nachrichten vorenthalten mußte. Es hatte nichts genützt. Am nächsten Tag hatte er sie weinend vor einem Radio gefunden. Sie war heftigen Kontrasten ausgesetzt, die sie in einem ständigen Schock hielten. Dazu kam, daß ihre Trauer um Berlin mit dem Haß gegen die Mörder, die einen Teil ihrer Familie ausgerottet hatten, in Widerstreit lag. Als drittes kam schließlich hinzu, daß sie ihre Trauer nicht offen zeigen konnte, sondern wie etwas Unanständiges vor all den anderen Emigran ten verbergen mußte. Betty hatte mit ihrem Fleimweh nach dem Kurfürstendamm schon oft Verachtung gefunden als eine senti mentale Sarah, die die Füße ihrer Mörder küssen wollte. Jetzt aber, wo die Nerven der Vertriebenen ohnehin mit Hoffnung, Abscheu und Furcht zum Zerreißen gespannt waren — wozu auch der Zwiespalt zählte, daß jede Bombe, die auf die ehema lige Heimat fiel, ihren früheren Besitz verwüstete und daher gleichzeitig ersehnt und verflucht wurde —, jetzt hielten Hoff nung und Angst eine ungleiche Waage, jeder mußte damit für sich selbst fertig werden, und am einfachsten waren die daran, bei denen der Haß so groß war, daß er alle schwächeren Stim men, die des Mitleids mit den Unschuldigen, die der allgemeinen Barmherzigkeit und die der Menschlichkeit, übertönte. Trotzdem waren viele da, die sich nicht mit der Verdammung eines ganzen Volkes zufriedengeben konnten. Es reichte ihnen nicht aus zu sagen, das Volk habe dieses Unglück über sich selbst gebracht durch seine schauerlichen Schandtaten oder zumindest durch die Trägheit des Herzens, das unzerstörbare deutsche gute Gewissen und die fürchterliche Rechthaberei, die Hand in Hand geht mit dem deutschen Trauma, daß Befehl Recht sei und von jeder Ver antwortung entbinde. Es war freilich eine der liebenswertesten jüdischen Eigenschaften, Verständnis nur für den anderen zu ha ben, eine Eigenschaft, die mich schon oft zu zorniger Verzweif lung gebracht hatte. Wo man Haß erwartete und ihn auch fand, tauchte nach kurzer Zeit schon wieder das Verstehen auf. Mit dem Verstehen schon die neuen Entschuldigungen. Während den Mördern noch die blutigen Mäuler trieften, kamen schon die Ent lastungszeugen. Es war eine Nation von Verteidigern, nicht von Anklägern. Eine Nation von Leidenden, nicht von Rächern. Die Makkabäer waren selten.

Betty Stein schleppte ihr leidenschaftliches, sentimentales Gemüt unglücklich in diesem Wirrwarr hin und her. Sie entschuldigte sich, klagte an, entschuldigte sich wieder und wurde plötzlich von dem fahlsten aller Gespenster gehetzt: der Furcht vor dem Tode.»Wie geht es denn Ihnen, Ross?«fragte sie.

«Gut, Betty. Sehr gut.«

«Das ist erfreulich!«Ich sah, wie selbst das die Hoffnung in ihr wieder auflodern ließ. Wenn es jemand gut ging, war das schon ein Grund zu hoffen, daß es auch ihr gut ginge.»Das freut mich«, sagte sie.»Sehr gut, sagten Sie?«

«Sehr gut, Betty.«

Sie nickte befriedigt.»Sie haben in Berlin den Olivaer Platz bombardiert«, flüsterte sie.»Wissen Sie das?«

«Sie bombardieren ganz Berlin, nicht nur den Olivaer Platz.«

«Ich weiß. Aber der Olivaer Platz! Wir wohnten da. «Sie sah sich scheu um.»Die anderen ärgern sich, wenn ich darüber rede. Unser schönes, altes Berlin.«

«Es war eine ziemlich scheußliche Stadt«, erwiderte ich vorsichtig.»Verglichen mit Paris oder Rom. Ich meine baulich, Betty.«

«Glauben Sie, daß ich lange genug leben werde, um zurückzuge hen?«

«Natürlich. Warum nicht?«

«Es wäre doch schrecklich, wo ich so lange gewartet habe.«

«Es wird etwas anders sein, als wir es in Erinnerung haben«, sagte ich.

Sie dachte darüber nach.»Etwas wird stehen geblieben sein. Und nicht alle waren Nazis.«

«Nein«, sagte ich und erhob mich. Diese Art von Konversation konnte ich nicht lange ertragen.»Darüber können wir viel später noch einmal nachdenken, Betty.«

Ich ging in das andere Zimmer hinüber. Tannenbaum saß dort und hatte ein Papier in der Hand, aus dem er vorlas. Gräfenheim und Ravic waren bei ihm. Kahn trat gerade ein.

«Die Blutliste«, erklärte Tannenbaum.

«Was ist denn das?«

«Ich habe hier eine Liste der Leute in Deutschland zusammenge stellt, die erschossen werden müssen. «Tannenbaum nahm ein Stück Apfelstrudel.

Kahn überflog die Liste.»Gut«, sagte er.

«Sie wird natürlich noch erweitert«, erklärte Tannenbaum.

«Auch gut«, erwiderte Kahn.

«Von wem?«

«Jeder kann Vorschläge machen.«

«Und wer wird die Erschießungen ausführen?«

«Ein Komitee. Man muß es bilden. Das ist einfach.«

«Werden Sie der Leiter des Komitees sein?«

Tannenbaum schluckte kurz.»Ich stelle mich zur Verfügung.«»Wir können das einfacher haben«, sagte Kahn.»Machen wir einen Pakt. Sie erschießen den ersten auf der Liste, ich alle än dern. Einverstanden?«

Tannenbaum schluckte wieder. Gräfenheim und Ravic sahen ihn an.»Ich meine damit«, sagte Kahn scharf,»Sie erschießen den ersten mit eigener Hand. Nicht durch ein Komitee, hinter dem man sich verstecken kann. Einverstanden?«

Tannenbaum antwortete nicht.»Es ist Ihr Glück, daß Sie schwei gen«, erklärte Kahn.»Hätten Sie eeantwnrrpf

hätte ich Ihnen eine heruntergehauen. Sie können sich nicht vor stellen, wie ich dieses blutrünstige Salongeschwätz hasse. Bleiben Sie bei der Schauspielerei. Etwas anderes wird ohnehin nie dar aus.«

Er ging zu Betty in das Schlafzimmer.»Manieren wie ein Nazi«, murmelte Tannenbaum hinter ihm her.

Ich ging mit Gräfenheim fort. Er wohnte jetzt in New York, war in einem Hospital als Assistenzarzt angestellt, der nicht praktizieren durfte, und bezog sechzig Dollar im Monat mit Un terkunft im Hospital und freier Kost.»Kommen Sie noch einen Sprung zu mir«, sagte er.

Ich ging mit. Der Abend war lau und nicht so heiß wie sonst.»Was ist mit Betty?«fragte ich.»Oder dürfen Sie das nicht

sagen?«

«Fragen Sie Ravic.«

«Der wird mir raten, Sie zu fragen.«

Er zögerte eine Weile.»Man hat sie aufgemacht und wieder zu genäht, nicht wahr?«fragte ich.

Er sagte nichts.

«Ist sie früher schon einmal operiert worden?«

«Ja«, erwiderte er.

Ich fragte nicht weiter.»Arme Betty«, sagte ich.»Wie lange kann es noch dauern?«

«Das weiß man nicht. Es kann schnell gehen und langsam.«

Wir kamen im Hospital an. Gräfenheim führte mich auf sein Zimmer. Es war klein, sehr einfach und enthielt ein großes, ge heiztes Aquarium.»Eine Extravaganz«, sagte er.»Ich habe sie mir geleistet, als Kahn mir das Geld brachte. In Berlin hatte ich das ganze Wartezimmer voller Aquarien. Ich habe Zierfische ge züchtet. «Er sah mich mit seinen kurzsichtigen Augen entschuldi gend an.»Ein jeder hat sein Steckenpferd.«

«Wenn der Krieg vorbei ist«, sagte ich,»möchten Sie nach Berlin zurückgehen?«

«Meine Frau ist noch da.«

«Haben Sie je wieder etwas von ihr gehört?«

"Wir haben abgemacht,uns nicht zu schreiben.Die Post wurde überwacht. Ich hoffe, sie ist aus Berlin herausgekommen. Glau ben Sie, daß man sie noch eingesperrt hat?«

«Nein. Warum sollte man?«

«Glauben Sie, daß die so fragen?«

«Manche schon. Die Deutschen sind Bürokraten, auch im Un rechttun. Sie glauben, dadurch würde es Recht.«

«Es ist schwer, so lange zu warten«, sagte Gräfenheim. Er nahm einen gläsernen Apparat, mit dem man den Schlamm vom Grunde des Aquariums hochziehen konnte, ohne das Wasser zu trüben.»Meinen Sie, daß man sie aus Berlin herausgelassen hat? Irgendwohin, nach Mitteldeutschland?«

«Das ist möglich.«

Ich wurde mir der Ironie dieser Situation bewußt — Betty, die von Gräfenheim getäuscht wurde, und Gräfenheim, den ich täu schen mußte.»Daß man so gar nichts tun kann!«sagte Gräfen heim.

«Wir sind Zuschauer, das ist wahr«, erwiderte ich.»Verdammte Zuschauer, die beneidet werden könnten, weil man sie nicht mitmachen lassen will. Das ist es, was unser Dasein hier schattenhaft und fast obszön macht. Man kämpft — unter ande rem — auch für uns, will uns aber nicht dabeihaben. Und wenn schon, dann nur selten und unter Vorsichtsmaßregeln und am Rande.«

«In Frankreich konnte man sich zur Fremdenlegion melden«, sagte Gräfenheim und legte den Schlammheber weg.

«Haben Sie sich gemeldet?«

«Nein.«

«Sie wollten nicht auf Deutsche schießen, war es nicht das?«

«Ich wollte überhaupt nicht schießen.«

Ich hob die Schultern.»Manchmal bleibt einem keine Wahl. Man muß auf etwas schießen.«

«Nur auf sich selbst.«

«Unsinn! Aber es ist vielen so gegangen, daß sie nicht auf Deut sche schießen wollten. Sie wußten, daß die, auf die sie hätten schießen wollen, nicht an der Front waren. An der Front war das harmlose, brav gehorchende Kanonenfutter.«

Gräfenheim nickte.»Man traut uns nicht. Nicht unserer Entrüstung und unserem Haß. Es ist wie bei Tannenbaum, er macht die Listen, aber er würde niemals schießen. Ungefähr so, oder nicht?«

«Ungefähr so. Selbst Kahn wollten sie nicht haben. Ich glaube, sie haben recht.«

Ich ging durch die weißen Korridore mit den weißen Lampen hinaus. Ich ging zurück in die schattenhafte Existenz, als lebte ich auf einer magischen Insel im Sturm, die aber nur zwei Dimensio nen hatte und keine drei. Es war anders als die Jahre in Europa, wo die dritte Dimension durch den Kampf gegen Bürokratie, Behörden, Gendarmen, den Kampf um Aufenthaltserlaubnisse, schwarze Arbeit, mit Zollbeamten und mit Polizisten, mit dem Kampf um die nackte Existenz gebildet worden war. Hier waren wir plötzlich in der Windstille, in einer Windstille von Zeitungsschlagzeilen, Radionachrichten und einem Krieg, der weitab, durch einen Ozean getrennt, auf einem anderen Konti nent geführt wurde, einem Nachrichtenkrieg, bei dem kein feind liches Flugzeug je am amerikanischen Himmel erschien, keine Bombe einschlug, kein Maschinengewehr bellte. Ich ging dahin, in der Tasche die Nachricht, daß meine Aufenthaltserlaubnis auf weitere drei Monate verlängert worden war, ein >Enemy Alien<, ein feindlicher Ausländer, der aber nicht so feindlich war, daß man ihn einsperrte; ich wanderte dahin durch den großen Wind der Stadt, ein Funke Leben, der nicht erlöschen wollte, ein Frem der, der tief atmete und vor sich hin pfiff, ein bißchen Dasein unter dem falschen Namen Ross.

«Eine Wohnung!«sagte ich.»Lampen! Möbel! Ein Bett! Eine Frau! Ein elektrischer Grill auf dem man Fleischstücke brät! Ein Glas Wodka! Das unglückliche Leben, zu dem ich verdammt bin, hat aber auch eine helle Seite. Man gewöhnt sich an nichts, und das ist gut. Man genießt es, als wäre es immer das erste Mal! Man genießt es jedesmal vom Knochen her! Nicht von außen; vom Knochen, vom Rückenmark und dem, was vom Schädel um schlossen ist. Laß dich ansehen. Ich bete dich schon deswegen an, weil du da bist. Weil wir zur gleichen Zeit leben. Dann erst kommt das andere. Ich bin Robinson, der immer wieder aufs neue seinen Freitag findet! Spuren im Sand. Spuren von Füßen.

Du bist der erste Mensch. Immer wieder. Das ist die helle Seite meines verfluchten Lebens.«

«Wieviel hast du getrunken?«fragte Natascha.

«Nichts. Kaffee und Traurigkeit. Nichts sonst.«

«Bist du traurig?«

«Man ist für eine kurze Zeit traurig, wenn man so lebt wie ich. Dann wirft man sich herum wie ein Schlafender nachts. Die Trauer wird der Hintergrund, vor dem das Leben deutlicher wird. Sie sinkt hinab wie ein Stein, und der Wasserstand des Lebens wird höher. Was ich dir hier sage, stimmt nicht ganz. Ich will nur, daß es so sei. Aber etwas daran stimmt trotzdem. Sonst verschleißt man sich selbst wie ein Stück Samt zwischen Rasier messern.«

«Es ist gut, daß du nicht traurig bist«, sagte Natascha.»Auf die Gründe kann ich verzichten. Alles, was Gründe braucht, ist schon suspekt.«

«Ist es dir auch suspekt, daß ich dich anbete?«

Sie lachte.»Es ist etwas sinister. Wer so leicht so hoch empfindet, muß etwas zu verstecken haben.«

Ich sah sie betroffen an.»Wie kommst du darauf?«

«Nur so.«

«Glaubst du das wirklich?«

«Warum nicht? Bist du nicht Robinson, der sich immer wieder überzeugen muß, daß er Spuren im Sand gesehen hat?«

Ich antwortete nicht. Was sie gesagt hatte, berührte mich tiefer, als ich erwartet hatte. War da, wo ich mir eingebildet hatte, schon wieder Boden unter den Füßen zu haben, nur Geröll, das beim ersten Schritt nachgeben würde? Übertrieb ich, um mich selbst glauben zu machen?

«Ich weiß es nicht, Natascha«, sagte ich und versuchte meine Ge danken abzuschütteln.»Was ich weiß, ist dies: daß Gewohnheit etwas ist, das mir bis jetzt versagt geblieben ist. Unglück, das man übersteht, soll sich in Abenteuer verwandeln. Ich bin auch dessen nicht sicher. Wessen ist man eigentlich sicher?«

«Was ist sicher?«fragte sie zurück.

Ich lachte.»Der Wodka hier im Glase, das Stück Fleisch am Grill und wir beide im Augenblick, hoffe ich. Ich bete dich trotzdem an, obschon es dir suspekt ist. Man kann gar nicht früh genug damit anfangen.«

«Das ist recht. Das brauchen wir doch nicht zu beweisen, wie? Die Hauptsache ist, daß wir es fühlen, oder nicht?«

«So ist es. Und auch damit kann man gar nicht weit genug unten anfangen.«

«Wo?«

«Bei diesem Zimmer! Diesen Lampen! Diesem Bett! Selbst wenn sie uns nicht gehören. Was gehört einem schon? Und für wie lange? Alles ist geliehen und gestohlen und wird immer wieder gestohlen.«

Sie drehte sich um.»Man wird sich auch selbst gestohlen?«

«Auch sich selbst.«

«Warum macht einen das nicht so besinnungslos traurig, daß man Selbstmord begeht?«

«Weil man das immer noch tun kann. Und auf eine viel subtilere

Weise.«

«Ich kann mir denken, was du meinst.«

Sie kam um den Tisch herum.»Haben wir nicht etwas zu feiern?«

«Was?«

«Daß du drei Monate länger in Amerika bleiben kannst?«

«Das ist wahr.«

«Was hättest du getan, wenn die Aufenthaltsgenehmigung nicht verlängert worden wäre?«

«Ich hätte versucht, eine Einreisebewilligung nach Mexiko zu bekommen.«

«Warum nach Mexiko?«

«Weil die Regierung dort menschlich ist. Sie hat auch die Flücht linge aus Spanien aufgenommen.«

«Kommunisten?«

«Menschen. Mit dem Wort Kommunisten ist man heute überall so schnell bei der Hand wie Hitler. Für den ist jeder, der gegen ihn ist, ein Kommunist. Die Begriffe zu vereinfachen, ist die erste Tat aller Diktatoren.«

«Laß uns nicht über Politik reden. Hättest du aus Mexiko nach Amerika zurückkommen können?«

«Nur mit Papieren. Und auch dann nicht, wenn ich hier einmal ausgewiesen bin. Ist jetzt Schluß mit dem Verhör?«

«Noch nicht. Warum haben sie dich hiergelassen?«

Ich lachte.»Das ist eine verzwickte Sache. Stünde Amerika nicht mit Deutschland im Krieg, hätte man mich wahrscheinlich nicht hereingelassen oder mich wieder ausgewiesen. So profitiere ich von einer Antithese. Eine der vielen Ironien, die sich bei großen Unglüdten ergeben. Wenn es die nicht gäbe, wären viele Leute meiner Art nicht mehr am Leben.«

Sie setzte sich neben mich.»Du scheinst ein ziemlich schwer zu fassender Typ zu sein.«

«Leider.«

«Ich habe dabei das dunkle Gefühl, daß du es genießt.«

Ich schüttelte den Kopf.»Nein, Natascha. Ich mache mir das nur vor.«

«Du machst es dir ganz gut vor.«

«So wie Kahn, oder? Es gibt aktive und passive Emigranten. Kahn und ich wollen lieber aktiv sein. Wir waren es in Frank reich. Wir mußten es sein. Anstatt zu weinen über unser Los, ver suchten wir, es, so oft wir konnten, ein Abenteuer zu nennen. Es war ein ziemlich verzweifeltes Abenteuer.«

Wir gingen spät abends noch einmal hinaus. Ich hatte eine Zeit lang am Fenster gesessen und nachgedacht. Der Himmel war vol ler Sterne, Wind flog über die niedrigen Dächer unter uns in der 5 5. und 5 6. Straße, und er schien gegen die Wolkenkratzer Sturm zu laufen, die wie Türme des Schweigens zwischen den grünen und roten Blinklichtern der Straße standen. Ich öffnete das Fen ster und stedtte den Kopf hinaus.»Es ist kühler geworden, Na tascha. Das erstemal in Wochen! Man kann atmen!«

Sie kam zu mir herüber.»Es wird Herbst«, sagte sie.

«Gott sei Dank!«

«Gott sei Dank? Wünsch die Zeit nicht fort!«

Ich lachte.»Du sprichst, als wärst du achtzig.«

«Man soll die Zeit nicht fortwünschen. Du tust es. Ich weiß, daß du es tust.«

«Jetzt nicht mehr«, erwiderte ich und wußte, daß ich log.

«Wo willst du schon hin? Zurück, ich weiß es.«

«Aber Natascha, ich bin ja noch nicht einmal richtig da. Wer denkt da an zurückgehen?«

«Du. Du denkst an nichts anderes.«

Ich schüttelte den Kopf.»Ich denke nicht weiter als bis morgen. Es wird Herbst werden und Winter und Sommer und wieder Herbst, und wir werden lachen und weiter zusammen sein.«

Sie lehnte sich a.:i mich.»Du darfst mich nicht verlassen! Ich kann nicht allein sein. Ich bin keine heroische Frau. Und ich habe kei nen heroischen Charakter.«

«Frauen mit heroischen Charakteren habe ich unter den Teuto nen zu Millionen gesehen. Es ist eine Nationaleigenschaft bei denen. Sie haben ihn statt Charme. Er ersetzt oft auch die Erotik. Zum Knochenkotzen. Laß uns ohne Klage in den ersten Spät sommerabend hinausgehen.«

«Gut.«

Wir fuhren hinunter. Der Aufzug war leer. Das rosa Ballett war vorbei. Auch die Stunde der Pudel. Der Wind schnoberte wie ein Jagdhund um die Ecke von Edward’s Drugstore.»Der Sommer ist vorbei«, sagte Nick aus seinem Zeitungsstand heraus.

«Gott sei Dank«, erwiderte Natascha.

«Freu dich nicht zu früh«, sagte ich.»Er kommt wieder.«

«Nichts kommt wieder«, erklärte Nick.»Nur das Elend und jenes Schwein von einem Pudel, das Ren£ heißt und an meinem Kiosk die Titelbilder von Vogue und Esquire anpißt, wenn ich nicht aufpasse. Wollen Sie die News?«

«Wir nehmen sie nachher mit rauf.«

Mir gab dieses harmlose Getratsche immer wieder dieselbe Erre gung. Es war die Erregung eines Menschen, der sich nicht mehr zu verstecken brauchte. Die sanfte Bürgerlichkeit des Abendspaziergangs wurde immer wieder zum Abenteuer der Sicherheit. Ich war schon fast ein Mensch, zwar nur geduldet, aber nicht mehr gejagt. Dazu kam, daß ich in meiner amerikanischen etwa zwei Drittel meiner europäischen Entwicklung erreicht hatte. Ich sprach kein gutes, aber ein einigermaßen flüssiges, begrenztes Englisch. Mein Sprachschatz war zwar noch der eines Vierzehn jährigen, aber ich konnte mehr damit anfangen. Viele Amerikaner kamen mit nicht sehr viel mehr Wörtern aus. Sie blieben nur nicht stecken, so wie ich.

«Möchtest du die große Tour absolvieren?«fragte ich.

Natascha nickte.»Soviel Licht wie in dieser halbverdunkelten Stadt nur möglich ist! Die Tage werden kürzer.«

Wir gingen zur Fifth Avenue hinauf, am Hotel Sherry Netherland vorbei auf den Central Park zu. Vom Zoo hörte man das Brüllen der Löwen selbst durch den Straßenlärm. Wir blieben beim Vieille Russie stehen und betrachteten die Ikonen und die kunstvollen Ostereier, die Faberge für die Zarenfamilie aus Onyx und Gold gemacht hatte. Die russischen Emigranten, diese Aristokratie unter den Flüchtlingen, verkauften sie immer noch hierher. Das hört nie auf, so wie die Donkosaken nie aufhörten und weitere Konzerte gaben, als wären sie wie die Katzen jammer-Kids, die auch nie älter wurden.

«Da draußen fängt der Herbst an«, sagte Natascha und zeigte auf den Central Park hinunter.»Gehen wir doch zurück zu van Cleef und Arpels.«

Wir wanderten an den Schaufenstern entlang, in denen die Herbstmoden ausgestellt waren.»Ich habe das längst hinter mir«, sagte Natascha.»Wir haben sie im Juni photographiert. Ich bin immer um eine Jahreszeit voraus. Morgen photographieren wir Pelze. Vielleicht habe ich deshalb das Gefühl, daß das Leben schneller vorbeigeht. Wenn die ändern noch den Sommer preisen, trage ich schon den Herbst im Blut.«

Ich blieb stehen und küßte sie.»Wie wir reden!«sagte ich.»Wie Figuren bei Turgenjew oder Flaubert. Neunzehntes Jahrhun dert. Jetzt trägst du schon den Winter im Blut mit Schneestürmen, Pelzen und Kaminen, du Vorbotin der Jahreszeiten.«

«Und du?«

«Ich? Das weiß ich nicht. Die Erinnerung an Zerstörungen und Gewalttätigkeiten vielleicht. Vom Herbst und Winter in Ame rika weiß ich nichts. Ich kenne dieses Land nur im Frühling und Sommer. Ich weiß nicht, wie Wolkenkratzer im Schnee aus- sehen.«

Wir gingen bis zur 42. Straße und dann über die Zweite Avenue zurück.

«Bleibst du heute nacht bei mir?«fragte Natascha.

«Kann ich das?«

«Du hast eine Zahnbürste hier und Wäsche. Einen Pyjama brauchst du nicht. Rasieren kannst du dich mit meinem Apparat. Ich möchte heute abend nicht alleine schlafen. Es wird mehr Wind geben. Wenn er mich aufweckt, will ich, daß du neben mir liegst und mich tröstest. Ich möchte hemmungslos sentimental sein und getröstet werden und mit dir wieder einschlafen und den Herbst spüren und vergessen und ihn wieder spüren.«

«Ich bleibe hier.«

«Gut. Wir wollen zu Bett gehen und uns fühlen. Wir werden im Spiegel gegenüber unsere Gesichter sehen und auf den Sturm lau schen. Unsere Augen werden manchmal erschreckt und etwas dunkler werden, wenn wir ihn hören. Dann wirst du mich näher an dich heranziehen und mir von Florenz und Paris und Venedig erzählen und all den Plätzen, wo wir nie zusammen sein wer den.«

«Ich war nie in Venedig und Florenz.«

«Du kannst davon erzählen; das ist, als wärst du da gewesen. Ich werde vielleicht weinen und scheußlich aussehen. Ich bin in Trä nen keine Schönheit. Du wirst es mir verzeihen und meine Senti mentalität auch.«

«Ja.«

«Dann komm und sag mir, daß du mich für immer liebst und daß wir nie älter werden.«

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