XXVIII

«Robert«, sagte Melikow,»ich dachte schon, du bliebst in Holly wood!«

«Das scheint fast jeder gedacht zu haben.«

Melikow nickte. Er sah grau aus.»Bist du krank?«fragte ich.»Warum?«Er lachte.»Richtig, du kommst aus Kalifornien. Da sieht jeder New Yorker aus, als käme er aus dem Krankenhaus. Warum bist du zurückgekommen?«

«Ich bin Masochist.«

«Natascha hat auch nicht geglaubt, daß du wiederkämst.«

«Was hat sie geglaubt?«

«Daß du im Film unterkämst.«

Ich fragte nicht weiter. Mein Empfang war nicht heiter. Die alte Bude sah verstaubter und schäbiger aus denn je. Ich verstand plötzlich selbst nicht, warum ich zurückgekommen war. Die Stra ßen waren schmutzig, und es regnete.»Ich muß einen Mantel kaufen«, sagte ich.

«Willst du wieder hier wohnen?«fragte Melikow.

«Ja. Es kann diesmal ein größeres Zimmer sein. Hast du eines frei?«

«Das von Raoul ist frei geworden. Er ist endgültig ausgezogen. Nach einem großen Krach gestern. Ich weiß nicht, ob du seinen letzten Freund gekannt hast.«

«Flast du noch ein anderes Zimmer?«

«Das von Lisa Teruel. Sie ist vor einer Woche gestorben. Zu viele Schlaftabletten. Sonst ist nichts frei, Robert. Du hättest schreiben sollen. Im Winter sind alle Hotels besetzt.«

«Zwischen einem wilden Schwulen und einer sanften Selbstmör derin zu wählen ist nicht einfach. Gut, ich nehme das Zimmer von Lisa Teruel.«

«Das habe ich mir gedacht.«

«Warum?«

Melikow lachte.»Ich weiß nicht warum. Im Sommer hättest du sicher Raouls Bude genommen.«

«Meinst du, daß ich jetzt weniger Angst vor dem Tod habe?«Melikow lachte wieder.»Nicht vor dem Tod. Aber vor Gespen stern. Wer hat schon Angst vor dem Tod? Er ist doch unverständ lich. Vor dem Sterben, das ist was anderes. Nun, Lisa ist gut ge storben. Sie sah zehn Jahre jünger aus, als wir sie fanden.«

«Wie alt war sie?«

«Zweiundvierzig. Komm, ich zeige dir das Zimmer. Es ist saube rer als alle anderen. Wir mußten es ausschwefeln. Außerdem hat es Sonne. Im Winter nicht zu verachten. Raouls Zimmer hat keine Sonne.«

Wir gingen hinauf. Das Zimmer lag im ersten Stock. Man konnte hinaufkommen, ohne von der Halle aus gesehen zu werden. Ich packte aus. Ein paar große Muscheln, die ich in einem Laden in Los Angeles gekauft hatte, verteilte ich im Zimmer. Sie wirkten verlassen und hatten ihren Abenteuerglanz aus der Tiefe verlo ren.»Das Zimmer ist bedeutend freundlicher, wenn es nicht reg net«, sagte Melikow.»Wollen wir etwas Wodka trinken, um uns aufzuheitern?«

«Nicht einmal das. Ich werde ein paar Stunden schlafen.«

«Ich auch. Man wird älter. Ich habe Nachtdienst gehabt. Mit dem Winter kommt das Rheuma. Heute abend ist alles besser, Ro bert!«

Ich ging nachmittags zu Silvers. Er empfing mich freundlicher, als ich erwartet hatte.»Haben Sie Aufträge mitgebracht?«fragte er.»Ich habe eine Kohlezeichnung verkauft. Für fünftausend Dol lar. Den kleinen Renoir.«

Silvers nickte.»Gut«, sagte er zu meinem Erstaunen.

«Was ist los?«fragte ich.»Gewöhnlich erklären Sie mir doch, daß wir Kopf und Kragen verlieren, weil wir verkaufen.«

«Das tun wir auch. Am besten wäre es, alles zu behalten. Aber der Krieg geht zu Ende, Ross.«

«Noch nicht.«

«Er geht zu Ende. Ob einen Monat früher oder später, spielt keine Rolle. Deutschland ist fertig. Daß die deutschen Nazis wei terkämpfen bis zum letzten deutschen Nichtnazi, ist verständlich

— sie kämpfen um ihr Leben. Daß der deutsche Generalstab weiterkämpft, ist auch verständlich — jeder kämpft da bis zum letzten Soldaten um seine Karriere. Trotzdem ist Deutschland fertig. In wenigen Monaten ist alles zu Ende. Sie wissen, was das heißt.«

«Ja«, sagte ich nach einer Weile.

«Es heißt, daß wir bald wieder nach Europa können«, sagte Sil vers.»Und Europa ist jetzt arm. Man wird billig Bilder kaufen können, wenn man in Dollar zahlt. Verstehen Sie jetzt?«

«Ja«, sagte ich zum zweitenmal, aber diesmal überrascht.

«Es wird klüger sein, in Europa einzukaufen, als hier. Deshalb ist es gut, das Lager kleiner zu halten. Man muß aufpassen, in solchen Situationen kann man Verluste und Gewinne haben.«»Das verstehe selbst ich.«

«Es war so ähnlich nach dem ersten Krieg. Damals verstand ich noch nichts davon. Ich machte große Fehler. Das darf nicht noch einmal passieren. Wenn Sie deshalb noch schwebende Verhand lungen haben, die am Preise gescheitert sind, könnte man jetzt nachgeben. Begründen Sie es damit, daß die Kunden bei Barzah lung einen Nachlaß bekämen. Wir wären gerade dabei, eine große Sammlung zu kaufen und brauchten deshalb bares Geld. «Ich wurde plötzlich heiter. Reiner Geschäftssinn, nicht durch Mo ralphrasen getrübt, hatte manchmal diese Wirkung auf mich, be sonders wenn er kaltblütig Katastrophen in Soll und Haben um münzte. Es war, als wenn tapfere Zwerge Gott regierten.»Wir müssen dabei natürlich Ihre Provision entsprechend herabset zen«, fügte Silvers noch hinzu.

Ich hatte darauf geradezu gewartet. Es gab die letzte Würze; wie Knoblauch einem Hammelragout.»Natürlich«, erwiderte ich fröhlich.

Ich zögerte, Natascha anzurufen. Ich verschob es von Stunde zu Stunde. Unser Verhältnis war in den letzten Wochen zu einer abstrakten Scheinbeziehung geworden. Sie hatte sich auf ein paar Grüße und Postkarten beschränkt, und selbst bei ihnen hatte ich das Gefühl von Verlogenheit gehabt. Es hat einfach nichts zu sagen gegeben, wenn wir nicht zusammen waren, und es muß bei beiden von uns ähnlich gewesen sein. Ich wußte nicht, was geschähe, wenn ich anriefe. Ich war so unsicher gewesen, daß ich ihr nicht einmal meine Rückkehr mitgeteilt hatte. Ich hatte es vor, unterließ es aber dann. Die Wochen und Monate waren in einer sonderbaren Unwirklichkeit vorbeigeglitten — als wäre unser Verhältnis zufällig und ohne viele Schmerzen zu Ende ge gangen.

Ich fuhr zu Betty und erschrak, als ich sie sah. Sie mußte zwan zig Pfund verloren haben. Die Augen starrten riesengroß aus dem eingeschrumpelten Gesicht. Sie waren das einzige, was noch lebte. Der Rest des Gesichtes hing herunter, übergroß geworden für die Knochen und die ermüdeten Muskeln.

«Sie sehen gut aus, Betty.«

«Zu dünn, wie?«

«Zu dünn kann man heutzutage nicht sein. Es ist die große Mode.«

«Betty wird uns alle überleben«, sagte Ravic. Er kam aus dem dunklen Salon.

«Nicht Ross«, erklärte Betty mit gespenstischem Lächeln.»Er sieht blühend aus. Braun und strotzend von Leben.«

«Das ist in zwei Wochen vorüber, Betty. Es ist Winter in New York.«

«Ich möchte auch ganz gern nach Kalifornien«, sagte sie.»Jetzt im Winter muß es dort gesund sein. Aber es ist soviel weiter ent fernt von Europa!«

Ich sah mich um. Ich roch den Tod in den Falten der Portieren. Der Geruch war noch nicht so stark wie der von den Haufen von Toten im Krematorium. Dort war es auch anders gewesen, das

Blut schon geronnen, und der süßliche Geruch, der der starken Verwesung vorausgeht, hatte den schärferen, etwas beißenden Oberton des Gases gehabt, das in den Lungen zurückgeblieben war. Hier war es ein lauer, abgestandener, aber auch süßlicher Geruch, der sich schon festgesetzt hatte und sich nur für Minuten durch das öffnen der Fenster und durch Lavendelwasser ver treiben ließ. Er kam wieder. Ich kannte ihn. Der Tod hockte nicht mehr draußen vor dem Fenster, er war bereits im Zimmer — noch in den Ecken, aber er wartete.

«Hier wird es jetzt so früh dunkel«, sagte Betty.»Es macht die Nächte lang.«

«Sie müssen nachts das Licht brennen lassen«, erklärte Ravic.»Man kann die Tageszeiten ignorieren, wenn man keinen Beruf hat.«

«Das tue ich schon. Ich habe Angst vor der Dunkelheit. In Berlin hatte ich nie Angst.«

«Das ist lange her, Betty. Man ändert sich. Ich hatte auch Zeiten, in denen ich mich fürchtete, im Dunkeln aufzuwachen.«

Sie heftete die glänzenden großen Augen auf mich.»Immer noch?«

«Hier in New York immer noch. In Kalifornien weniger.«»Warum nicht? Was haben Sie getan? Sie waren nachts nicht allein, wie?«

«Doch. Ich habe es vergessen, Betty. Ganz einfach.«

«Das ist das beste«, sagte Ravic.

Betty drohte mir mit dem skelettartigen Finger und lächelte ein entsetzliches Lächeln, die viel zu weite Haut ihres Gesichtes be wegte sich, als arbeiteten unsichtbare Fäuste darunter.»Man braucht ihn doch nur anzusehen«, sagte sie und blickte mich mit starren kugeligen Augen an.»Er ist glücklich.«

«Wer ist schon glücklich, Betty«, sagte ich.

«Das habe ich herausgefunden. Jeder, der gesund ist. Man weiß es nur nicht, bis man krank wird. Und dann vergißt man es wieder, wenn man es nicht mehr ist. Ganz weiß man es nur, wenn man stirbt.«

Sie richtete sich auf. Ihre Brüste hingen wie leere Beutel unter ihrer geblümten Nachtjacke aus Kunstseide.»Alles andere ist Unsinn«, keuchte sie mit ihrer atemlosen, etwas heiseren Stimme.»Das kann ich nicht glauben, Betty«, sagte ich.»Sie haben doch so viele schöne Erinnerungen. Die vielen Menschen, denen Sie geholfen haben! Die zahlreichen Freunde, die Sie haben!«

Betty schwieg einen Augenblick. Dann winkte sie mich nahe heran. Ich kam ungern, sie roch nach Pfefferminztabletten und Verfall.»Alles egal«, flüsterte sie.»Alles wird auf einmal ganz egal! Glauben Sie es mir.«

Der New Yorker Zwilling tauchte aus dem grauen Wohn zimmer auf.»Betty hat heute ihren anonymen Tag«, sagte Ravic und stand auf.»Cafard. Jeder hat das ab und zu. Ich habe es manchmal für Wochen. Ich komme heute abend noch einmal. Wir machen eine harmlose Spritze.«

«Cafard«, murmelte Betty.»Heuchelei. Sooft wir dieses Wort aussprechen, denken wir, wir seien in Frankreich. Wie furchtbar, diese Vorstellung. Man kann immer noch unglücklicher sein, als man glaubt. Ist es nicht so, Ravic?«

«Ja, Betty. Immer etwas glücklicher auch. Hier ist kein Gestapo mann hinter Ihnen her.«

«Doch. Einer.«

Ravic lächelte.»Der ist hinter uns allen her, aber er ist langsam und verliert uns oft aus den Augen.«

Er ging. Der Zwilling breitete ein paar Photos auf Bettys Bett decke aus.»Der Olivaer Platz, Betty. Aus der Zeit vor den Nazis!«

Betty wurde plötzlich lebendig.»Tatsächlich? Wo hast du die her? Meine Brille! So etwas! Ist mein Haus auch zu sehen?«

Der Zwilling brachte eine Brille.»Mein Haus ist nicht drauf«, sagte Betty.»Es wurde von der anderen Seite aufgenommen. Hier ist das Haus von Doktor Schlesinger. Man kann sogar den Namen lesen. Natürlich war das vor der Zeit der Nazis. Sonst wäre das Schild nicht mehr da.«

Es war eine gute Zeit, zu gehen.»Auf Wiedersehen, Betty«, sagte ich.»Ich muß gehen.«

«Wollen Sie nicht bleiben?«

«Ich bin heute erst angekommen. Muß auspacken.«

«Wie geht es meiner Schwester?«fragte der Zwilling.»Sie ist jetzt allein in Hollywood. Ich bin nämlich gleich wieder zurück gefahren.«»Ich glaube, es geht ihr ganz gut.«

«Sie lügt so viel«, sagte der Zwilling.»Sie hat das schon einmal gemacht. Nichts war wahr. Wir mußten von Vriesländer Geld leihen, um zurückzukommen.«

«Warum bleiben Sie nicht Sekretärin bei Vriesländer, bis Ihre Schwester Ihnen das Geld für die Hin- und Rückreise schickt?«»Da kann ich warten, bis ich einen Bart habe. Und inzwischen könnte ich vielleicht doch eine Chance haben.«

Betty hatte das Gespräch angstvoll verfolgt.»Du gehst nicht weg, Lissy, wie?«flehte sie.»Ich kann doch nicht allein Zurück bleiben! Was soll ich denn dann machen?«

«Ich gehe nicht weg.«

Der Zwilling, von dem ich zum ersten Male gehört hatte, daß er Lissy hieß, brachte mich auf den Flur.»Es ist ein Kreuz mit ihr«, flüsterte sie.»Sie stirbt und stirbt nicht. Und sie will in kein Hospital. Ich werde selbst krank dabei. Ravic will sie in ein Krankenhaus bringen, aber sie will lieber sterben, sagt sie. Doch sie stirbt nicht.«

Ich überlegte, ob ich zu Kahn gehen sollte. Aber ich hätte ihm nichts Erfreuliches mitteilen können, und ich wollte ihm nichts sagen, was nicht stimmte. Es war sonderbar, wie ich versuchte, den Anruf bei Natascha hinauszuschieben. Nahezu all die Zeit in Kalifornien hatte ich wenig daran gedacht. Dort hatte ich das Gefühl, daß es ein Verhältnis gewesen war, wie wir es uns beide am Anfang vorgemacht hatten, ein Verhältnis ohne Sentimen talität und ohne Schmerzen. Es hätte deshalb sehr einfach sein müssen, Natascha anzurufen und herauszufinden, wie wir zuein ander stehen. Keiner hatte dem ändern etwas vorzuwerfen, und keiner hatte Verpflichtungen. Trotzdem stand der Entschluß, mich zu melden, wie eine finstere Wolke am Himmel, wie eine Wolke, die immer dunkler wurde. Mir schien, als hätte ich etwas Unwiederbringliches versäumt, etwas, das nie wiedergutzu machen wäre und das ich durch meinen Unverstand und durch meine Nachlässigkeit nun für immer verloren hätte. Es ging fast so weit, als könne Natascha gestorben sein, so sehr verdichtete sich die unbestimmte Angst, als es Abend wurde. Ich wußte, daß der Besuch bei Betty etwas mit dieser unbegründeten und törich ten Sorge zu tun hatte, trotzdem wich sie nicht.

Ich rief endlich an, als ginge es ums Leben. Ich hörte das Telefon läuten und wußte sofort, daß der Raum leer war. Ich rief alle zehn Minuten wieder an. Ich machte mir klar, daß Natascha aus gegangen sein konnte, oder daß sie Aufnahmen machen mußte. Es nützte wenig, obschon die Panik geringer wurde, seit ich mich überwunden hatte zu telefonieren. Ich dachte an Kahn und Carmen, an Silvers und sein mißglücktes Abenteuer, ich dachte an Betty und daran, daß alle unsere großen Worte vom Glück vor dem einen anderen Wort verbleichen, vor der Krankheit. Ich versuchte, mich an die kleine Mexikanerin in Hollywood zu erinnern und daran, daß es unzählige schönere Frauen als Na tascha gäbe. Es nützte alles nur dazu, neuen Mut für den näch sten Anruf zu bekommen. Dann kam das alte Nummernspiel, noch zwei Anrufe und dann Schluß. Aber aus den zweien wur den drei und vier.

Plötzlich war sie da. Ich hatte den Hörer schon gar nicht mehr ans Ohr genommen, sondern ihn in meinem Schoß liegen lassen.»Robert«, sagte sie.»Von wo rufst du an?«

«Von New York. Ich bin heute angekommen.«

Sie schwieg eine Weile.»Ist das alles?«fragte sie dann.

«Nein, Natascha. Wann kann ich dich sehen? Ich habe schon zwanzigmal angerufen und bin verzweifelt. Dein Telefon klingt leerer als alle anderen, wenn du nicht da bist.«

Sie lachte leise.»Ich bin eben erst zurückgekommen.«

«Geh mit mir essen«, sagte ich.»Ich kann dich in den Pavillon führen. Sag nicht nein. Wir können auch in einem Drugstore ein Hamburger essen. Wir können alles tun, was du willst.«

Ich fürchtete mich vor dem, was sie antworten könnte; vor einer langwierigen Auseinandersetzung, warum wir so lange nichts voneinander gehört hatten; vor unnötigem, aber verständlichem Beleidigtsein; vor all dem Schutt und Geröll, die eine Begegnung von Anfang an ersticken konnten.

«Gut«, sagte sie.»Hol mich in einer Stunde ab.«

«Ich bete dich an, Natascha! Das sind die schönsten Worte, die ich gehört habe, seit ich New York verlassen habe.«

Ich horchte in das Telefon. In dem Augenblick, als ich sie ausge sprochen hatte, wußte ich, was sie darauf antworten würde. Ich war ungeschützt für jeden Schlag. Aber sie antwortete nichts. Ich hörte das Klicken des Hörers, der aufgehängt wurde. Sie hatte nicht reagiert. Ich war erleichtert und enttäuscht. Ich hätte jetzt fast lieber einen Streit mit Beschimpfungen gehabt. Ihre Ruhe war verdächtig.

Ich stand im Zimmer von Lisa Teruel und zog mich an. Das Zim mer roch abends mehr nach Schwefel und Lysol als am Morgen. Ich überlegte, ob ich nicht noch wechseln sollte. Raouls hinter- lassene Atmosphäre hätte mich besser für den Waffengang ge stählt, der, wie ich annahm, vor mir lag. Was ich brauchte, war eine gleichgültige Ruhe, die nicht gespielt wirken durfte, sonst wäre ich verloren. Raoul mit seiner Abneigung gegen Frauen war da ein besserer Schild als Lisa, von der ich glaubte, sie sei aus Enttäuschung gestorben. Ich überlegte sogar einen Augenblick, ob ich nicht vorher mit jemand schlafen könnte, um nicht anzu fangen zu zittern, wenn ich Natascha traf. Ich hatte jemand in Paris gekannt, der ins Bordell ging, bevor er eine Frau traf, mit der er nicht mehr Zusammensein wollte, auf die er aber immer wieder hereinfiel. Aber ich verwarf den Gedanken sofort; außer dem kannte ich keine Bordelle in New York.

«Gehst du zu einem Begräbnis?«fragte Melikow.»Wie wäre es mit einem Wodka?«

«Nicht einmal das«, erwiderte ich.»So ernst ist die Sache. Dabei ist sie gar nicht ernst. Ich darf nur keine Fehler machen. Wie sieht Natascha aus?«

«Besser denn je! Ich kann dir nicht helfen, es ist so!«

«Hast du heute abend Dienst?«

«Die ganze Nacht bis sieben Uhr morgens.«

«Gott sei Dank. Adieu, Wladimir, du kannst dir nicht vor stellen, was für ein Idiot ich bin. Warum habe ich nicht öfter geschrieben und telefoniert! Und ich war noch stolz dar auf!«

Ich ging in die kalte Nacht hinaus, angetan mit Angst, Hoffnung,guten Vorsätzen, Reue und einem neuen Mantel von der Stange. Außerdem voll von Lügen und strategischen Plänen.

Ich sah das Licht aufflammen und hörte das Summen des Auf zugs.»Natascha«, sagte ich rasch.»Ich bin voll von Verwirrung, Reue, Hoffnung, Lügen und strategischen Plänen hierhergekom men. Ich habe alles vergessen in dem Augenblick, als du aus der Tür kamst. Geblieben ist nur eins: Meine völlige Verständnis losigkeit dafür, daß ich jemals von dir Weggehen konnte.«

Ich nahm sie in die Arme und küßte sie. Ich spürte, wie sie sich mir entzog, und hielt sie fester. Sie gab nach, und in dem Augen blick, als ich sie losließ, machte sie sich frei.»Du siehst so ver wirrt aus«, sagte sie,»und du bist dünner geworden.«

«Ich habe von Gras und Diät gelebt. Gelegentlich von einer großen Portion Salat an Sonn- und Feiertagen.«

«Mich hat man zu Gala-Essen ins Twenty-One und in den Pavillon mitgenommen. Bin ich zu dick?«

«Ich wollte, du wärst es. Dann gäbe es mehr von dir. Aber du bist es nicht.«

Ich überhörte geflissentlich diesen Satz mit dem Gala-Essen, der wie ein Schlag gegen mich hätte wirken sollen. Ich war jetzt wirklich verwirrt, in einem Wirbel von Freude, Vorsicht und dem plötzlichen Zittern, seit ich sie umarmt hatte. Sie trug nie viel unter ihren Kleidern und wirkte, wenn man sie anfaßte, immer nackt und glatt und warm und aufregend. Ich hatte nicht mehr daran gedacht; jetzt dachte ich nur noch daran.

«Ist dir nicht kalt?«fragte ich idiotisch.

«Mein Mantel ist warm. Wohin gehen wir?«

Ich hütete mich, das Twenty-One oder den Pavillon zu erwäh nen. Es war nicht notwendig, noch einmal zu hören, daß sie da jeden Tag gewesen sei und keine Lust mehr habe.»Wie wäre es mit dem Bistro?«

Das Bistro war ein kleines französisches Restaurant an der Drit ten Avenue. Es war halb so teuer wie die ändern Lokale.»Das Bistro ist geschlossen«, sagte Natascha.»Der Besitzer hat es ver kauft. Er ist nach Europa gefahren, um bei de Gaulles Einzug in Paris dabeizusein.«

«Wirklich? Konnte er reisen?«

«Es scheint so. Unter den französischen Emigranten ist das Rück wandererfieber ausgebrochen. Sie fürchten, zu spät nach Hause zu kommen und dann als Deserteure behandelt zu werden. Gehen wir in den Coq d’or. Das ist so ähnlich wie das Bistro.«»Gut. Ich hoffe, der Besitzer ist noch da. Er ist doch auch Fran zose.«

Das Lokal war gemütlich.

«Wir haben einen vorzüglichen Anjou rose, wenn Sie Wein wollen«, sagte der Eigentümer.

«Gut.«

Ich sah ihn neidisch an. Er war ein anderer Emigrant als wir. Er konnte zurück. Sein Land war besetzt und würde befreit. Meines nicht.

«Du bist braun«, sagte Natascha.»Was hat du getan? Nichts oder noch weniger?«

Sie wußte, daß ich bei Holt gearbeitet hatte, aber sie wußte nicht viel mehr. Ich erklärte ihr, was ich getan hatte, um über die erste Viertelstunde mit ihren unnötigen Fragen hinwegzukom men.

«Mußt du wieder hin?«fragte sie.

«Nein, Natascha.«

«Ich hasse den Winter in New York.«

«Ich hasse ihn überall, nur nicht in der Schweiz.«

«Warst du dort in den Bergen?«

«Nein, im Gefängnis, weil ich keine Papiere hatte. Aber das Ge fängnis war gut geheizt. Ich verbrachte dort schöne Wochen. Ich konnte den Schnee sehen, ohne darin herumlaufen zu müssen. Es war das einzige geheizte Gefängnis, in dem ich gewesen bin.«

Sie lachte plötzlich.»Man weiß nie, ob du schwindelst oder nicht.«

«Das ist der einzige Weg, um Dinge zu erzählen, die man immer noch für Ungerechtigkeiten hält. Ein sehr altmodisches Prinzip. Es gibt keine Ungerechtigkeiten. Nur schlechte Chancen.«»Glaubst du das?«

«Nein, Natascha. Nicht, wenn ich neben dir sitze.«

«Hast du mit vielen Frauen geschlafen in Kalifornien?«

«Mit keiner.«

«Natürlich nicht. Armer Robert.«

Ich sah sie an. Ich haßte es, wenn sie mich so nannte. Das Ge spräch lief ganz anders, als ich gewollt hatte. Ich hätte versuchen sollen, so schnell wie möglich mit ihr zu schlafen. Dies alles waren störende Vorgeplänkel. Ich hätte sie im Hotel treffen sollen, um sie gleich auf Lisa Teruels Zimmer zu schleppen. Dieses hier war gefährlich. Wir strotzten vor Stacheln und vor freundlichen Worten, in denen Zeitzünder versteckt waren. Ich wußte, daß sie darauf wartete, daß ich ihr die gleiche Frage stellte.

«Das Klima in Hollywood ist nicht danach«, sagte ich.»Es macht müde und gleichgültig.«

«Flast du deshalb so wenig von dir hören lassen?«fragte sie.»Nein, nicht deshalb. Ich kann keine Briefe schreiben. Mein Leben war so, daß ich nie wußte, an wen ich hätte schreiben können. Unsere Adressen waren Adressen für Tage, und sie wechselten immerfort. Ich konnte nur in der Gegenwart leben und für den Augenblick. Ich hatte nie eine Zukunft und konnte mir auch keine vorstellen. Ich dachte, du wärst ähnlich.«

«Woher weißt du, daß ich es nicht bin?«

Ich schwieg.»Man trifft sich wieder, und alles ist wie vorher«, sagte ich dann.

«Das wollen wir doch.«

Ich geriet immer mehr in die Falle. Ich mußte rasch heraus.»Nein«, sagte ich.»Ich nicht.«

Sie blickte mich rasch an.»Du nicht? Du hast es doch gerade gesagt.«

«Es ist anders. Ich wußte es vorher nicht. Ich weiß es jetzt.«

«Was ist anders?«

Dies war ein Verhör. Ich konnte meine Gedanken nicht Zusam menhalten. Sie irrten ab. Ich dachte an den Mann, der ins Bor dell ging, ehe er die Frau traf. Ich hätte es auch tun sollen, dann wäre ich jetzt klarer gewesen. Ich hatte vergessen oder nie dar über nachgedacht, welchen Reiz Natascha auf mich aurgeübt hatte. Am Anfang unserer Beziehung war das nicht so gewesen, und dieser Anfang war es sonderbarerweise, der mir in der Nebelwand Hollywoods am meisten in Erinnerung geblieben war. Im Augenblick, als ich sie wiedergesehen hatte, war alles zurückgekommen. Jetzt scheute ich mich fast, sie anzusehen, aus Furcht, mich zu verraten. Dabei wußte ich nicht einmal, was zu verraten war. Ich hatte nur das Gefühl, daß ich für immer unter legen sein würde, wenn sie es herausfände. Sie hatte noch längst nicht alle ihre Trümpfe ausgespielt. Sie wartete noch darauf, mir zu erklären, daß sie mit einem anderen Mann ein Verhältnis habe oder zumindest mit jemand anderem geschlafen habe. Ich wollte verhindern, daß sie es mir sagte. Ich fühlte mich auf ein mal nicht mehr stark genug, das zu hören, obschon ich mich be reits mit der Unterstellung gewappnet hatte, daß jemand, der dies zugab, es wahrscheinlich nicht getan habe.

«Alles ist anders, Natascha. Ich kann es nicht erklären. Etwas, das wichtig ist und das man so nicht erwartet hat, kann man nicht sofort erklären. Ich bin glücklich, daß wir zusammen sind. Die Zeit dazwischen ist wie Rauch verschwunden.«

«Glaubst du?«

«Ich schon.«

Sie lachte.»Das ist bequem, wie? Ich muß jetzt nach Hause. Ich bin sehr müde. Wir bereiten die Frühjahrskollektion vor.«

«Ich weiß. Du bist immer eine Jahreszeit voraus.«

Frühjahr, dachte ich. Was wird dann geschehen sein? Ich blickte den Wirt mit dem schwarzen Schnurrbart an. Würde er sich dann in Paris als Deserteur verantworten müssen? Und was wird mit mir geschehen sein? Drohend kam etwas von allen Sei ten auf mich zu. Mir war, als müßte ich ersticken. Das, worauf ich so lange gewartet hatte, erschien plötzlich als eine kurze Gal genfrist. Ich sah zu Natascha hinüber. Sie war unendlich fern. Kühl und gelassen zog sie sich ihre Handschuhe an. Ich wollte etwas sagen, das alle Mißverständnisse wegblasen sollte, aber mir fiel nichts ein. Beinahe stumm ging ich neben ihr her. Es war sehr kalt, und ein schneegeladener Wind fegte um die Ecken. Ich fand ein Taxi. Wir sprachen fast nichts.»Gute Nacht, Robert«, sagte Natascha.

«Gute Nacht, Natascha.«

Es war gut, daß ich wußte, Melikow würde heute nacht wach sein. Es war nicht der Wodka, den ich brauchte, es war jemand, der nichts fragte und doch da war.

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