Ich wanderte ziellos durch die Straßen und fürchtete mich davor, ins Hotel zurückzukehren. Ich hatte nachts geträumt und war mit einem Schrei erwacht. Ich hatte schon vorher ab und zu ein mal geträumt, von der Polizei verfolgt zu werden, oder ich hatte den alten Traum aller Emigranten: über die deutsche Grenze geraten zu sein und von der SS entdeckt zu werden. Aber das waren Träume der Verzweiflung über die eigene Dummheit, hin eingeraten zu sein. Auch aus ihnen erwachte man manchmal schreiend, doch dann entdeckte man, daß man in New York war, blickte aus dem Fenster in den rötlichen Nachthimmel der Straße und streckte sich vorsichtig wieder aus: man war gerettet. Dieser Traum war anders gewesen, unbestimmter, aus Stücken zusammengeflossen, zäh, dunkel, pechartig und ohne Ende. Eine Frau hatte es in ihm gegeben, verstört und sehr bleich und lautlos um Hilfe rufend, die ich ihr nicht geben konnte, versinkend in dem zähen Geschiebe von Pech, Moor und altem Blut, die angst vollen Augen wie gelähmt auf mich gerichtet, weiß, schreiend ohne Worte, mit der schwarzen Höhle des aufgerissenen Mundes, gegen die die schwarze klebrige Masse anstieg, Kommandos, Blitze, eine scharfe Stimme mit einem sächsischen Akzent, Uniformen und ein entsetzlicher Mordgeruch, Verwesung und Feuer, aufgerissene Ofentüren voll loderndem Feuer, ein Mensch, der sich bewegte, nur eine Hand noch bewegte, einen einzigen Finger,ihn sehr langsam krumm machte, und jemand, der darauf stampfte, und dann plötzlich der Schrei, der von allen Seiten kam und nachhallte.
Ich blieb vor einem Schaufenster stehen, sah aber nichts. Erst nach einer Weile entdeckte ich, daß ich auf der Fifth Avenue stand, vor den Auslagen der Firma van Cleef und Arpels. Ich war, ohne darüber nachzudenken, von Lowys Laden weggegangen. Zum erstenmal war mir der Keller wie eine Gefängniszelle vorgekommen. Ich hatte Menschen gesucht und breite Straßen und war auf der Fifth Avenue gelandet.
Ich starrte auf ein Diadem, das der Kaiserin Eugenie von Frank reich gehört hatte. Es funkelte im künstlichen Licht mit Brillant blumen auf schwarzem Samt. Daneben lag ein Armband mit Rubinen, Smaragden und Saphiren, auf der anderen Seite Ringe und Solitäre.
«Möchtest du so was haben?«fragte eine Frau in einem roten Kostüm eine andere.
«Heute trägt man Perlen«, erwiderte die zweite Frau.»Klasse trägt Perlen.«
«Zuchtperlen oder echte?«
«Zuchtperlen und echte. Perlen und ein schwarzes Kleid. Das ist Eleganz der guten Klasse.«
«Meinst du, Eugenie war keine gute Klasse?«
«Das waren andere Zeiten.«
«Ich hätte nichts dagegen, wenn ich das Armband hätte«, sagte das rote Kostüm.
«Zu bunt«, erwiderte die andere Frau.
Ich ging weiter. Ich stand vor Tabaksläden und Schuhgeschäften, vor Porzellanläden und den Riesenfenstern der Modegeschäfte und ihrem Rausch an Farben, Seide und den gaffenden Menschenmengen davor. Ich drängte mich dazwischen und gaffte auch, ich horchte und schnappte nach Gesprächsfetzen wie ein verdurstender Fisch nach Wasser, ich ging durch den ganzen abendlichen Aufruhr des Lebens und wollte daran teilnehmen, in ihm schwimmen wie all die ändern, aber ich trieb hindurch, von einem Streifen fahlen Dunkels umweht, wie ein Orestes mit dem fernen Kreischen der Furien hinter sich.
Ich überlegte, ob ich versuchen sollte, Kahn zu erreichen, aber ich wollte mit niemandem sprechen, der mich an früher erinnerte. Nicht einmal mit Melikow. Es ist schwer, den Traum loszuwerden. Gewöhnlich verloren sich die Träume durch den Tag, sie zerflatterten, und für ein paar Stunden blieb vielleicht eine immer loser werdende, sich verwölkende Erinnerung zurück, aber dann war es vorbei. Dieser jedoch hockte und blieb. Ich hatte ihn zu rückgedrängt, aber er war nicht gewichen. Eine Drohung war geblieben, finster und bereit, wieder hervorzubrechen.
Ich hatte in Europa wenig geträumt, ich war zu sehr damit beschäftigt gewesen, zu überleben, und hier hatte ich geglaubt, entkommen zu sein. Das Meer mit seinem Rauschen hatte so viel Raum zwischen alles gelegt, daß ich die Hoffnung gefaßt hatte, das verdunkelte Schiff, das zwischen Unterseebooten dahinge schlichen war wie ein schattenhaftes Gespenst, sei auch den anderen Schatten entkommen. Aber jetzt wußte ich, daß die Schatten mitgekommen waren. Sie waren da hineingekrochen, wo ich sie nicht kontrollieren konnte: in den Schlaf und die geisterhafte Welt, die sich jede Nacht ohne Fundamente aufbaut und morgens wieder zerstiebt. Diese aber blieben wie klebriger, nasser Rauch — ich spürte Kälte im Nacken —, wie Rauch, fader, süßlicher Rauch. Rauch aus Krematorien.
Ich schaute mich um. Niemand beobachtete mich. Die süße Müdigkeit eines schönen Abends wölbte sich zwischen den Stein fronten mit ihren Tausenden von blinkenden Fensteraugen. Zwei, drei Stockwerke hoch hingen Reihen von goldenen Schau fenstern übereinander, mit Vasen, Bildern, Pelzen und Zimmern voll glänzendbrauner alter Möbel und seidener Lampen, die ungeheure Vertrautheit der Bürgerlichkeit schimmerte von allen Seiten; das Bilderbuch eines generösen Gottes gütiger Verschwendung, der zu flüstern schien: Nehmt, nehmt! Es ist genug da!
Welch ein Friede! Welch ein Abendspaziergang frisch erwachter Illusionen, verwelkter Liebe, die sich wieder aufrichtet, Hoffnung, neu grünend unter dem sanften Regen barmherziger Lügen, Stunde der Großmannssucht, der Wünsche und der schlafen den Resignation, Stunde, wo selbst Generäle und Politiker nicht nur glauben, sondern eine kurze Zeit sogar fühlen, daß sie Menschen sind und nicht ewig leben.
Wie ich mich anschmiegte an dieses Land, das die Toten schminkt, die Jugend vergöttert und seine Soldaten zum Sterben schickt in Länder, die sie nie vorher gesehen haben und von denen sie nicht einmal wußten, wo sie lagen und für was sie dort willig starben. Die ersten Weltbürger in Uniform.
Warum konnte ich nicht daran teilhaben? Warum gehörte ich ewig zu jener Gruppe von Heimatlosen, die in stolperndem, arm seligem Englisch und mit heißem, unsicherem Herzen endlose Treppen erstiegen und Aufzüge fuhren und von einem Zimmer zum anderen gingen, geduldet, aber nicht geliebt, und schon liebend, weil sie doch geduldet wurden?
Ich stand vor dem Pfeifenladen von Dunhills. Braun geflammt und matt poliert lagen die Symbole der Bürgerlichkeit und Sicherheit da, köstliche Ruhe verheißend und Abende voller gelassener Gespräche, Nächte mit dem Geruch von Honig, Rum, Shag-Tabak noch in den Haaren, und nebenan im Badezimmer das leise Rumoren einer nicht zu dünnen Frau, die sich für die Nacht und das große Bett vorbereitet. Wie anders war das als die bis zur Kippe gerauchten, hastig ausgedrückten Zigaretten der Fremde, diese schwarzen Gauloises, die nach Angst rochen und nicht nach Gemütlichkeit und Friedfertigkeit.
Ich werde in einer scheußlichen Weise sentimental, dachte ich. Wie lächerlich das war! War ich dazu einer der zahllosen Ahas versgeworden, um nun nach dem warmen Ofen und einem Paar gestickter Pantoffeln zu jammern? Nach der trostlosen Muffigkeit der Gewohnheit und den ausgelatschten Gefühlen der drapierten Langeweile?
Ich drehte mich entschlossen um und verließ die Läden der Fifth Avenue. Ich wandte mich nach Westen und kam durch die Allee der Bauernfänger und Burlesktheater in die Straßen, wo die Leute schweigend auf den hohen Stufen vor den Haustüren saßen, die Kinder wie schmutzige weiße Schmetterlinge vor den schmalen Häusern aus braunem Stein, die Erwachsenen müde und, wenn man der schützenden Dunkelheit trauen konnte, ohne schwere Sorgen.
Eine Frau, dachte ich, je näher ich dem Hotel Reuben kam. Eine Frau, ein dummes, lachendes Tier mit gelben Haaren und einem schaukelnden Hintern, eine Frau, die von nichts etwas weiß und keine anderen Fragen stellt als die, ob man genug Geld für sie bei sich hat, und dann eine Flasche kalifornischer Burgunder und meinetwegen Rum hinein, der billig war — und die Nacht bei ihr in ihrer Wohnung, so daß man nicht ins Hotel zurück mußte, nicht in dieser Nacht, nicht gerade in dieser Nacht. Aber wo war die Frau, das Mädchen, die Hure? Ich war hier nicht in Paris, und ich hatte schon gelernt, wie moralisch die Polizei in New York für arme Leute ist — die Huren liefen hier nicht auf den Straßen herum, sie waren nicht an Schirmen und übergroßen Handtaschen zu erkennen, es gab Telefonnummern, aber das brauchte Zeit und Kenntnis der Nummern.
«Guten Abend, Felix«, sagte ich.»Ist Melikow nicht hier?«
«Heute ist Sonnabend«, erwiderte Felix,»mein Tag.«
Richtig. Sonnabend, auch das noch! Das hatte ich vergessen. Ein langer, leerer Sonntag lag vor mir, den ich plötzlich fürchtete. Ich hatte noch etwas Wodka auf meinem Zimmer. Vielleicht auch noch ein paar Schlaftabletten. Unwillkürlich dachte ich an den dicken Raoul. Noch am Abend vorher hatte ich mich über ihn lustig gemacht. Jetzt war mir nicht viel anders zumute.
«Miß Petrowna hat auch gerade nach Herrn Melikow gefragt«, sagte Felix lässig.
«Ist sie schon weggegangen?«
«Ich glaube nicht. Sie wollte noch ein paar Minuten warten. «Natascha Petrowna kam mir im dürftigen Licht der Plüschbude entgegen. Hoffentlich weint sie nicht wieder, dachte ich und wunderte mich neuerlich, wie groß sie war.»Müssen Sie wieder zum Photographen?«fragte ich.
Sie nickte.»Ich wollte noch einen Wodka trinken, aber Wladimir Iwanowitsch ist heute nicht da. Ich hatte es vergessen, daß er heute frei hat.«
«Ich habe Wodka«, sagte ich rasch,»ich kann die Flasche runter holen.«
«Machen Sie sich keine Mühe. Der Photograph hat mehr als genug. Ich wollte nur hier noch ein bißchen sitzen.«
«Ich hole die Flasche. Es dauert nur eine Minute.«
Ich lief die Treppe hinauf und öffnete die Tür. Die Flasche blinkte auf der Fensterbank. Ich sah nicht rechts und nicht links, nahm sie und zwei Gläser. In der Tür blickte ich mich um. Nichts war zu sehen. Kein Gespenst und kein Geist. Das Bett schimmerte bleich im Dunkel. Ich schüttelte den Kopf über mich und ging nach unten.
Natascha Petrowna wirkte anders, als ich sie im Gedächtnis hatte. Weniger hysterisch und fast amerikanisch. Nur die rauhe Stimme verriet eine Spur von Akzent, aber eher einen französischen als einen russischen, soweit ich das beurteilen konnte. Um den Kopf trug sie wie einen losen Turban ein violettes seidenes Tuch.»Für die Frisur«, sagte sie.»Wir photographieren Abend kleider.«
«Weshalb sitzen Sie gerne hier?«fragte ich.
«Ich sitze gerne in Hotels. Es ist nie langweilig. Leute kommen und gehen. Man begrüßt sich oder nimmt Abschied. Das sind doch die besten Momente im Leben.«
«Meinen Sie?«
«Es sind die am wenigsten langweiligen. Was dazwischen liegt.. «Sie machte eine Geste der Ungeduld.»Die großen Hotels sind alle farblos. Jeder versteckt seine Emotion zu sehr. Man hat das Gefühl, es liege etwas Abenteuerliches in der Luft, aber man sieht es nie recht.«
«Sieht man es hier?«
«Mehr. Die Leute lassen sich gehen. Ich auch. «Sie lachte.»Sie haben es gesehen. Außerdem mag ich Wladimir Iwanowitsch. Er ist wie ein Russe.«
«Ist er denn keiner?«
«Tscheche. Aber er war alles. Früher war das Dorf, aus dem er kam, russisch, nach 1919 wurde es tschechisch. Dann deutsch, als die Nazis es nahmen. Jetzt sieht es aus, als sollte es wieder russisch werden — oder tschechisch. Oder vielleicht amerikanisch?«Sie lachte und erhob sich.»Ich muß gehen. «Sie zögerte einen Augenblick.»Warum kommen Sie nicht mit? Haben Sie etwas vor?«»Nichts. Aber wird mich der Photograph nicht rauswerfen?«»Nicky? Welch eine Idee! Da sind eine Menge Leute. Einer mehr oder weniger macht gar nichts. Ein paar Russen sind auch dabei. Es ist alles etwas Boheme.«
Ich ahnte, weshalb sie mich mitnahm. Sie wollte ihr Benehmen vom Anfang wiedergutmachen. Ich hätte eigentlich keine große Lust gehabt mitzugehen, was sollte ich da schon. Aber heute abend hätte ich nach allem gegriffen, um nicht im Hotel sitzen zu müssen. Im Gegensatz zu Natascha Petrowna war es für mich kein Platz der Abenteuer. In dieser Nacht schon gar nicht.
«Sollen wir ein Taxi nehmen?«fragte ich vor der Tür.
Sie lachte.»Im Hotel Reuben nimmt man kein Taxi. Das weiß ich noch. Es ist nicht weit. Und solch ein schöner Abend! Diese Nächte von New York! Ich bin nicht für das Leben auf dem Lande geboren. Sie?«
«Das weiß ich wirklich nicht.«
«Haben Sie nie darüber nachgedacht?«
«Nie«, sagte ich. Wann hätte ich solche Luxusgedanken haben können. Ich war immer froh, daß ich überhaupt lebte.
«Dann haben Sie ja noch einiges vor sich«, erwiderte Natascha Petrowna. Sie steuerte gegen den Strom der Fußgänger wie ein schmales Segelschiff, und ihr Profil unter dem violetten Turban wirkte auch wie das einer Galionsfigur, die gegen die See kämpft, ruhig, am Bug erhöht, umspritzt vom Gischt und hingegeben an die Fahrt. Sie ging schnell, mit so weiten Schritten, daß ihr Rock zu engschien. Sie trippelte nicht, und sie holte tief Atem. Mir fiel ein, daß ich das erste Mal in Amerika so mit einer Frau ging, und ich spürte es.
Sie wurde empfangen wie ein Kind, das lange verloren war. Ein halbes Dutzend Leute war in dem riesigen, kahlen Zimmer, das Scheinwerfer erhellten und in dem verschiebbare helle Wände standen. Der Photograph und zwei andere Männer umarmten und küßten sie, eine Wolke von Gesprächsfetzen flirrte auf, zwischendurch wurde ich vorgestellt, Wodka, Scotch und Zigaretten wurden herumgereicht, und ich fand mich in einem Sessel, etwas abseits des Getümmels und vergessen.
Dafür entfaltete sich vor mir ein Bild, das ich noch nicht kannte. Große Kartons mit Kleidern wurden ausgepackt, hinter einen Vorhang gebracht und wieder hervorgeholt. Eine intensive Debatte darüber begann, was zuerst photographiert werden sollte. Außer Natascha Petrowna waren noch zwei Mannequins da, ein blondes und ein dunkles, die sehr schön waren, mit ihren hohen Absätzen und silbernen Schuhen.
«Die Mäntel zuerst«, erklärte eine energische Frau.
«Nein, erst die Abendkleider«, protestierte der Photograph, ein sandhaariger, dünner Mann, der eine goldene Kette als Armband trug.»Sie zerdrücken sonst.«
«Ihr braucht sie ja nicht unter den Mänteln anzuziehen. Die Mäntel müssen als erstes zurück. Besonders die Pelze. Die Firma wartet darauf.«
«Also gut! Das Pelzcape zuerst!«
Eine neue Debatte, wie es photographiert werden solle. Ich horchte darauf, ohne zu hören. Die heitere Aufregung und die Intensität, mit der jeder seine Ansichten klarmachte, hatten etwas von einer Bühnenaufführung an sich. Ich hätte mir den Sommer nachtstraum so ähnlich denken können oder ein Stück aus dem Rokoko, den Rosenkavalier oder eine Posse von Nestroy — nur daß hier alles von großer Wichtigkeit war. Man ereiferte sich, und darum hatte es so erstaunliche Ähnlichkeiten mit einem Bal lett und war so unwirklich. Jeden Augenblick konnte Oberon mit Flörnerschall auftreten. Plötzlich sammelten sich die Scheinwer fer auf einer weißen Wand, neben die eine riesige Vase mit künstlichen Ritterspornen herangeschleppt wurde. Das Manne quin mit den silbernen, hohen Absätzen kam in einem beigefar benen Pelzcape heraus. Die Direktrice zupfte und glättete, zwei Scheinwerfer, die niedriger waren als die ändern, flammten auf und die Frau erstarrte, als hätte man auf sie geschossen.
«Gut!«rief Nicky.»Noch einmal, Darling!«
Ich lehnte mich zurück. Es war gut, daß ich mitgegangen war, dachte ich. Es hätte mir gar nichts Besseres passieren können.
«Jetzt Natascha«, sagte jemand.»Den Breitschwanzmantel.«
Sie stand auf einmal da, schmal und fest in einen schwarzen, glänzenden Mantel gewickelt, eine Art Baskenmütze aus dem selben dünnen, glänzenden Fell auf dem Kopf.
«Perfekt!«rief Nicky.»Halte es so wie jetzt!«
Er scheuchte die Direktrice weg, die ändern wollte.»Später. Wir machen noch mehr Aufnahmen. Diese zunächst mal ohne Pose. «Die Seitenscheinwerfer suchten das kleine Gesicht. Die Augen wirkten hellblau und glänzten wie Sterne in dem starken Licht von allen Seiten.»Jetzt«, sagte Nicky.
Natascha Petrowna erstarrte nicht wie die beiden anderen Man nequins. Sie blieb einfach stehen, als hätte sie sich schon vorher nicht bewegt.»Gut«, erklärte Nicky.»Und jetzt den Mantel offen!«
Sie hob ihn an, als wären es zwei Schmetterlingsflügel. Der Mantel, der vorher so schmal ausgesehen hatte, war in Wirklichkeit sehr weit, innen weiß gefüttert mit einem Muster aus sehr gro ßen, grauen Karrees.»Halte ihn so«, rief Nicky.»Wie ein Nachtpfauenauge, weit gespreizt. So ist es richtig!«
«Wie gefällt es Ihnen hier?«fragte jemand neben mir.
Es war ein bleicher, schwarzhaariger Mann mit sonderbar glänzenden Kirschenaugen.
«Großartig«, erwiderte ich aufrichtig.
«Wir haben natürlich nicht mehr die Sachen von Balenciaga und den großen französischen Couturiers zur Verfügung. Das ist lei der eine Folge des Krieges«, sagte der Mann mit einem leisen Seufzer.»Aber Mainbocher und Valentina können sich auch sehen lassen, wie?«
«Absolut«, sagte ich, ohne zu wissen, wovon er redete.
«Na, hoffentlich ist das alles bald vorbei, damit wir wieder erst klassige Stoffe kriegen. Diese Seiden aus Lyon…«
Der Mann erhob sich, es wurde nach ihm gerufen. Ich fand es gar nicht solächerlich, daß das auch ein Grund war, den Krieg zum Teufel zu wünschen, im Gegenteil: Während ich so dasaß, fand ich, es sei einer der vernünftigsten.
Die Abendkleider wurden photographiert. Plötzlich stand Natascha Petrowna vor mir. Sie trug ein weißes, langes und sehr enges Kleid, das die Schultern freiließ.»Langweilen Sie sich sehr?«fragte sie.
«Nein, im Gegenteil«, sagte ich etwas verwirrt und starrte sie an.»Es geht sogar so weit, daß ich an freundlichen Halluzinationen zu leiden beginne. Ich glaube, das Diadem, das Sie tragen,heute nachmittag im Schaufenster von van Cleef und Arpels ge sehen zu habisn. Das ist doch unmöglich.«
Natascha lachte.»Sie haben gute Augen.«
«Ist es wirklich dasselbe?«
«Ja. Die Zeitschrift, für die wir Aufnahmen machen, hat es aus geliehen. Dachten Sie, ich hätte es gekauft?«
«Weiß der Himmel! Heute nachtscheint mir allesmöglich zu sein. Ich habe noch nie so viele Kleider und Pelze zusammen gesehen.«»Was hat Ihnen am besten gefallen?«
«Vieles. Vielleicht das weite, lange, schwarze Samtcape, das Sie trugen. Es könnte von Balenciaga sein!«
Sie drehte sich um und sah mich scharf an.»Es ist von Balenciaga! Sind Sie ein Spion?«
«Ein Spion? Dafür hat man mich noch nie gehalten. Für welches Land?«
«Für die Konkurrenz. Ein anderes Haus. Sind Sie aus der Branche? Wie können Sie sonst wissen, daß das Cape von Balenciaga ist?«
«Natascha Petrowna«, sagte ich feierlich.»Ich schwöre, daß mir vor zehn Minuten der Name Balenciaga noch völlig unbekannt war. Ich hätte geglaubt, es sei eine Automarke. Der bleiche Herr dort drüben hat ihn mir zum erstenmal genannt. Allerdings hat er gesagt, Kleider von Balenciaga kämen nicht mehr herüber. Da habe ich einen Scherz gemacht.«
«Und haben getroffen! Das Cape ist wirklich von Balenciaga. Herübergebracht in einem Bomber. Einer Fliegenden Festung. Hereingeschmuggelt.«
«Eine herrliche Verwendung für Bomber. Wenn das üblich wird, ist das goldene Zeitalter angebrochen.«
«So, Sie sind kein Spion! Eigentlich schade. Aber es scheint, daß man bei Ihnen aufpassen muß. Sie kombinieren schnell. Haben Sie genug zu trinken?«
«Genug, danke.«
Man rief nach ihr.»Wir gehen alle nachher noch eine Stunde aus. El Morocco. Das ist so üblich«, sagte sie im Weggehen.»Kommen Sie mit?«
Ich konnte nicht antworten. Natürlich konnte ich nicht mitkommen. Für so etwas hatte ich kein Geld. Ich mußte ihr das später sagen. Es war nicht angenehm. Aber dafür war noch Zeit. Vorläufig ließ ich mich treiben. Ich wollte weder an morgen noch an die nächste Stunde denken. Das dunkle Mannequin, das in einem langen, flaschengrünen Tuchmantel photographiert worden war, warf diesen Mantel ab, um einen anderen anzuziehen. Sie trug kein Kleid darunter, sondern nur das Nötigste an Wäsche. Niemand war daran interessiert. Wahrscheinlich sahen alle es Tag für Tag. Einige der Männer waren ohnehin Homosexuelle. Das dunkle Mannequin war sehr schön, es hatte die lässige, langsame Sicherheit einer Frau, die weiß, daß sie gewinnen wird, und sich nicht viel daraus macht. Ich sah auch Natascha Petrowna, während sie die Kleider wechselte. Sie war weiß und lang und schlank, und die Haut hatte etwas Mondhaftes, das an Perlen erinnerte. Sie war nicht auf die gleiche Weise mein Typ wie die Dunkle, die Sonja gerufen wurde. Ich dachte das alles nicht sehr klar, es war verwischt, und ich wollte auch gar nicht, daß es sich zu Wünschen und Vergleichen formte. Ich war viel zu froh, nicht im Hotel zu sein. Es war allerdings einigermaßen merkwürdig, daß ich diese Frauen, die ich kaum kannte, hier doch in soviel verschiedenen Situationen gesehen hatte, als wären wir schon vertrauter miteinander gewesen. Es war wie ein Bild mit vielen Lasurfarben über einer Grundfarbe, die durchschimmerte und Wärme gibt, obschon sie nicht mehr dazusein scheint.
Als die Kartons zusammengepackt wurden, erklärte ich Natascha Petrowna, daß ich nicht mitgehen könnte ins El Morocco. Ich hatte gehört, daß das der beste Nachtklub von New York sei.»Warum denn nicht?«fragte sie.
«Ich habe nicht genug Geld bei mir.«
«Aber Sie Dummkopf! Wir sind doch alle eingeladen! Glauben Sie denn, ich würde Sie das bezahlen lassen?«
Sie lachte mit ihrer rauchigen Stimme. Obschon es ein wenig an das Lachen eines Gigolo erinnerte, hatte ich plötzlich ein so angenehmes Gefühl, als wäre ich unter Komplicen.
«Müssen Sie nicht vorher den Schmuck zurückbringen?«
«Morgen. Das besorgt die Zeitschrift. Jetzt trinken wir Champagner.«
Ich protestierte nicht mehr. Der Tag hatte unverhofft in vielen Facetten von Ironie und einfacher Dankbarkeit geendet. Ich wunderte mich auch nicht mehr, als wir in einem Nebenraum von El Morocco landeten, in dem ein Wiener deutsche Lieder spielte, obwohl Amerika mit Deutschland Krieg führte. Ich wußte nur, daß das in Deutschland nicht möglich wäre. Dabei saßen viele Offiziere in dem Lokal. Es war, als hätte ich auf einer Wüsten strecke eine Oase gefunden. Ich zählte zwar gelegentlich in der Hosentasche meine fünfzig Dollar, bereit, mein Vermögen ausgeben, wenn es von mir gefordert würde, aber niemand dachte daran. Das ist der Friede, überlegte ich, der Friede, den ich nicht kenne, die Sorglosigkeit, die ich nie haben konnte, und ich dachte dies ohne Neid. Es war genug, daß es das noch gab. Ich saß unter fremden Menschen, die mir näher und freundlicher waren als andere, die ich besser kannte, ich saß neben einer schönen Frau, deren geliehenes Diadem im Kerzenlicht funkelte, ich saß da, ein kleiner Parasit vor geschenktem Champagner, und mir war, als hätte ich mir für einen Abend auch ein anderes Leben geborgt, das ich morgen zurückgeben mußte.