30

Es ist für ihn keineswegs schwer, sich das vorzustellen, obwohl er sich in all den Jahren lieber nicht ausgemalt hat, was sie mit anderen Männern tut. Insbesondere mit Benton.

Marino starrt an ihr vorbei aus dem Fenster. Sein schlichtes Einzelzimmer befindet sich im zweiten Stock, sodass er die Straße nicht sehen kann, nur den grauen Himmel über ihr. Er fühlt sich innerlich ganz klein und hat das kindliche Bedürfnis, sich unter der Bettdecke zu verstecken, einzuschlafen und darauf zu hoffen, dass sich die Angelegenheit beim Aufwachen als böser Traum entpuppt. Er möchte aufwachen und feststellen, dass er mit Scarpetta hier in Richmond ist, um einen Fall aufzuklären, und dass sonst überhaupt nichts passiert ist. Komisch, wie oft er in einem Hotelzimmer die Augen aufgeschlagen und sich gewünscht hat, sie möge da sein und ihn ansehen. Und nun ist es so weit. Er überlegt, wo er beginnen soll. Dann ergreift wieder das kindliche Bedürfnis Besitz von ihm, und seine Stimme erstirbt.

Sie bleibt irgendwo zwischen Herz und Mund stecken wie ein Glühwürmchen, das in der Dunkelheit erlischt.

Seit Jahren schon, eigentlich seit ihrer ersten Begegnung, macht er sich – wenn er ehrlich mit sich ist – ausführlich Gedanken über sie. Seine erotischen Phantasien ranken sich um den ausgeklügeltsten, kreativsten und unbeschreiblichsten Sex, den er je hatte, und er will auf keinen Fall, dass sie je davon erfährt. Niemals würde er ihr dieses Geheimnis anvertrauen, und er hat nie die Hoffnung aufgegeben, dass er vielleicht doch noch eines Tages bei ihr landen könnte. Aber wenn er jetzt anfängt, über seine Erinnerungen zu sprechen, erhält sie möglicherweise einen Einblick, wie es mit ihm sein könnte. Und das würde ihm sämtliche Chancen verderben. Außerdem würde es den Tod seiner Phantasien bedeuten, die sich dann ein für allemal verflüchtigen würden. Also überlegt er, ob er lügen soll.

»Fangen wir bei deiner Ankunft im Polizeiclub an«, sagt Scarpetta und fixiert ihn mit ihrem Blick. »Wann bist du dort eingetrudelt?«

Gut. Der Polizeiclub ist kein Tabuthema. »Gegen sieben«, erwidert Marino. »Ich habe mich dort mit Eise getroffen. Dann kam noch Browning, und wir haben was gegessen.«

»Einzelheiten«, bohrt sie nach, ohne sich in ihrem Sessel zu rühren. Ihre Augen blicken ihn weiter unverwandt an. »Was genau hast du bestellt, und was hattest du den restlichen Tag über gegessen?«

»Ich dachte, wir wollten beim Polizeiclub anfangen und nicht damit, was ich davor gegessen hatte.«

»Hast du gestern gefrühstückt?«, hakt sie beharrlich und geduldig nach. Dieser Tonfall ist bei ihr sonst für Menschen reserviert, die zurückbleiben, nachdem jemand durch Zufall, höhere Gewalt oder Mord ums Leben gekommen ist.

»Ich habe in meinem Zimmer einen Kaffee getrunken«, antwortet er.

»Einen Imbiss? Mittagessen?«

»Nein.«

»Darüber halte ich dir ein andermal einen Vortrag«, meint sie.

»Also den ganzen Tag nichts gegessen. Nur Kaffee. Und dann bist du um sieben in den Polizeiclub gegangen. Hast du auf nüchternen Magen getrunken?«

»Ich habe mir ein paar Biere genehmigt. Danach habe ich ein Steak mit Salat gegessen.«

»Keine Kartoffeln oder Brot? Keine Kohlenhydrate? Hast du dich an deine Diät gehalten?«

»Mh-hm. So etwa die einzige gute Angewohnheit, von der ich gestern Nacht nicht abgewichen bin.«

Obwohl sie nichts darauf erwidert, ahnt er, dass sie seine nahezu kohlenhydratfreie Diät für keine gute Angewohnheit hält. Aber sie wird ihn jetzt mit einem Vortrag über seine Essgewohnheiten verschonen. Schließlich sitzt er gerade auf dem Bett und fühlt sich elend und verkatert und scheußlich und hat eine Todesangst, weil er vielleicht eine schwere Straftat begangen hat oder einer solchen bezichtigt werden könnte, sofern das nicht bereits geschehen ist. Er betrachtet den grauen Himmel jenseits der Fensterscheibe und stellt sich vor, wie ein ziviler Crown Victoria der Polizei von Richmond auf der Suche nach ihm durch die Straßen kurvt. Verdammt, vielleicht ist ja Detective Browning persönlich unterwegs, um ihm den Haftbefehl zuzustellen.

»Was passierte dann?«, fragt Scarpetta.

Marino malt sich aus, wie er auf der Rückbank des Crown Victoria sitzt, und überlegt, ob Browning ihm wohl Handschellen anlegen würde. Er könnte Marino aus Respekt unter Kollegen ungefesselt ins Auto setzen. Genauso gut aber könnte er diesen Respekt in den Wind schlagen und die Handschellen hervorziehen. Bestimmt würde er die Handschellen nehmen, denkt Marino.

»Du hast nach sieben Uhr ein paar Biere getrunken und ein Steak mit Salat gegessen«, fordert Scarpetta ihn in ihrer sanften, aber unerbittlichen Art zum Weitersprechen auf. »Wie viele Biere waren das denn genau?«

»Vier, glaube ich.«

»Du sollst nicht glauben. Wie viele?«

»Sechs«, entgegnet er.

»Gläser, Flaschen oder Dosen? Große? Normale? In anderen Worten: Wie groß waren diese Biere?«

»Sechs Flaschen Budweiser. Normale. Das ist übrigens nicht sehr viel für mich. Das vertrage ich locker. Für mich sind sechs Biere wie ein halbes für dich.«

»Sehr unwahrscheinlich«, erwidert sie. »Über deine Rechenkünste unterhalten wir uns später.«

»Ich brauche deine Vorträge nicht«, nuschelt er und starrt sie dann verstockt schweigend an.

»Sechs Biere und ein Steak mit Salat im Polizeiclub mit Junius Eise und Detective Browning. Und wann hast du das Gerücht aufgeschnappt, dass ich möglicherweise nach Richmond zurückkehre? Könnte das während deines Abendessens mit Eise und Browning gewesen sein?«

»Du kannst ja tatsächlich zwei und zwei zusammenzählen«, sagt er mürrisch.

Eise und Browning saßen ihm gegenüber am Tisch. Unter einer roten Glasglocke flackerte eine Kerze, und sie tranken alle drei Bier. Eise fragte Marino nach seiner Meinung über Scarpetta. Ist sie wirklich so eine tolle Medizinerin und Chefin?

Sie ist zwar die Größte, aber sie lässt es nicht raushängen, waren Marinos Worte. So viel weiß er noch. Und er erinnert sich daran, was er empfunden hat, als Eise und Browning anfingen, über sie zu sprechen und zu mutmaßen, sie würde wieder zur Chefpathologin ernannt werden und nach Richmond zurückkehren. Marino gegenüber hat sie das mit keiner Silbe erwähnt, und er fühlte sich gedemütigt und wütend. Das war der Augenblick, in dem er beschloss, von Bier auf Bourbon umzusteigen.

Ich fand sie schon immer scharf, wagte dieser vertrottelte Eise zu sagen. Daraufhin bestellte Marino den ersten Bourbon. Die hat ganz schön Holz vor der Hütte, fügte Eise ein paar Minuten später hinzu und hielt sich grinsend die gewölbten Hände vor die Brust. Hätte nichts dagegen, der mal unter den Labormantel zu fassen. Tja, Sie arbeiten ja schon seit einer Ewigkeit mit ihr zusammen, richtig? Wenn man sie jeden Tag um sich hat, fällt einem ihr Aussehen wahrscheinlich gar nicht mehr auf.

Da Marino nicht wusste, was er darauf erwidern sollte, leerte er den ersten Bourbon und bestellte dann den nächsten. Allein bei der Vorstellung, wie Eise ihren Körper angafft, hätte er ihm am liebsten eine runtergehauen. Aber natürlich hat er das nicht getan. Er hat einfach nur dagesessen und getrunken und versucht, nicht daran zu denken, wie sie aussieht, wenn sie den Labormantel auszieht und ihn über einen Stuhl oder an den Haken an der Tür hängt. Er gab sich größte Mühe, das Bild auszublenden, wie sie an einem Tatort aus der Kostümjacke schlüpft, die Manschetten ihrer Bluse aufknöpft und die nötigen Kleidungsstücke an- oder auszieht, wenn eine Leiche auf sie wartet. Sie hatte schon immer ein unbefangenes Verhältnis zu ihrem Körper, das frei von jeglichem Exhibitionismus ist, und bemerkt ihre Reize gar nicht. Es interessiert sie einfach nicht, ob jemand sie beobachtet, während sie Knöpfe öffnet, Kleidungsstücke ablegt, sich vorbeugt und sich bewegt. Schließlich arbeitet sie, und den Toten ist es gleichgültig, was sie zu sehen bekommen. Sie sind ja tot. Nur Marino lebt. Vielleicht ist ihr das noch gar nicht aufgefallen.

»Ich wiederhole: Ich habe nicht die Absicht, nach Richmond zurückzukehren«, verkündet Scarpetta. Sie sitzt mit überkreuzten Beinen im Sessel. Der Saum ihrer dunklen Hose ist mit Schlamm gesprenkelt. Ihre Schuhe sind so verschmiert, dass man sich kaum vorstellen kann, wie glänzend schwarz sie noch heute Morgen gewesen sind. »Außerdem glaubst du doch nicht im Ernst, dass ich derartige Pläne schmieden könnte, ohne es dir zu erzählen.«

»Man kann nie wissen«, entgegnet er.

»Natürlich weißt du es.«

»Ich ziehe nicht wieder hierher. Vor allem jetzt nicht mehr.«

Als es an der Tür klopft, macht Marinos Herz einen Satz, und er denkt sofort an Polizei, Gefängnis und Gerichtsverhandlung. Erleichtert schließt er die Augen, als eine Stimme jenseits der Tür »Zimmerservice« ruft.

»Ich mache auf«, sagt Scarpetta.

Marino blickt ihr nach, als sie das kleine Zimmer durchquert und die Tür öffnet. Wenn sie allein wäre und er sich nicht im Zimmer befände, würde sie vermutlich fragen, wer da ist, und durch den Spion schauen. Aber sie macht sich keine Sorgen, denn schließlich ist Marino ja bei ihr, der einen halbautomatischen Colt .280 im Knöchelhalfter trägt. Auch wenn das natürlich nicht heißt, dass es nötig werden könnte, zu schießen. Allerdings hätte er nichts dagegen, jemanden so richtig zu vermöbeln. Er hätte einen Heidenspaß daran, seine riesigen Fäuste gegen den Kiefer oder in den Solarplexus eines anderen Menschen zu rammen wie damals, als er noch geboxt hat.

»Wie geht es Ihnen heute?«, fragt der picklige junge Mann in Uniform, während er den Wagen hineinrollt.

»Ausgezeichnet«, erwidert sie und kramt einen ordentlich gefalteten Zehn-Dollar-Schein aus der Hosentasche. »Sie können den Wagen da stehen lassen. Danke.« Sie reicht ihm den gefalteten Geldschein.

»Danke, Ma’am. Einen schönen Tag noch.« Er macht die Tür leise hinter sich zu.

Marino, immer noch auf dem Bett, rührt sich nicht. Nur seine Augen bewegen sich, als er sie beobachtet. Er sieht zu, wie sie die Plastikfolie von dem Bagel und dem Haferbrei entfernt, ein Würfelchen Butter auswickelt, sie unter den Haferbrei mischt und Salz darauf streut. Dann öffnet sie ein weiteres Butterwürfelchen und bestreicht den Bagel. Anschließend schenkt sie zwei Tassen Tee ein. Sie gibt keinen Zucker hinein. Genau genommen ist auch gar kein Zucker da, nirgendwo auf dem Wagen ist welcher zu entdecken.

»Hier«, sagt sie und stellt den Haferbrei und eine Tasse starken Tee auf das Nachtkästchen. »Iss.« Sie kehrt zum Wagen zurück, um den Bagel zu holen. »Je mehr du isst, desto besser. Wenn du wieder einigermaßen auf dem Damm bist, wirst du vielleicht auf wundersame Weise von deinem Gedächtnisschwund geheilt.«

Beim Anblick des Haferbreis zieht sich sein Magen zusammen, aber er nimmt dennoch die Schale und taucht langsam den Löffel hinein. Als sich der Löffel in den Brei bohrt, muss er daran denken, wie Scarpetta mit dem Gaumenspatel im Schlamm auf dem Asphalt herumgekratzt hat. Dann fällt ihm etwas anderes ein, das ihn an Haferbrei erinnert, und er wird wieder von Widerwillen und Reue ergriffen. Wenn er nur zu betrunken gewesen wäre, um es zu tun. Aber er hat es getan. Beim Anblick des Haferbreis ist er sicher, dass er es letzte Nacht getan und die Sache zu Ende gebracht hat.

»Ich kann das nicht essen«, sagt er.

»Iss«, entgegnet sie. Wie eine Richterin thront sie kerzengerade auf ihrem Sessel und fixiert ihn mit Blicken.

Er kostet den Haferbrei und stellt überrascht fest, dass er ziemlich gut schmeckt und angenehm die Kehle hinuntergleitet. Ehe er es sich versieht, hat er die ganze Schale ausgelöffelt und macht sich über den Bagel her. Währenddessen spürt er, wie sie ihn beobachtet. Sie spricht kein Wort, und er weiß genau, warum sie ihn schweigend anstarrt. Er hat ihr noch nicht die Wahrheit gesagt und hält die Einzelheiten zurück, die ganz sicher seine Phantasien zerstören werden. Sobald sie es weiß, ist seine Chance dahin, und auf einmal steckt ihm der Bagel so trocken in der Kehle, dass er ihn nicht schlucken kann.

»Geht es dir ein bisschen besser? Trink einen Schluck Tee«, schlägt sie vor. Nun sieht sie wirklich wie eine Richterin aus, die dunkel gekleidet und aufrecht auf dem Sessel am Fenster sitzt. »Iss den Bagel auf, und trink wenigstens eine Tasse Tee. Du musst etwas in den Magen kriegen, und außerdem bist du ausgetrocknet. Ich habe Advil-Kopfschmerztabletten da.«

»Ja, eine Advil wäre prima«, antwortet er kauend.

Sie greift in ihre Nylontasche, und die Tabletten klappern, als sie das Advil-Fläschchen herausholt. Auf einmal schrecklich hungrig, kaut er und spült mit Tee nach. In die Kissen gelehnt, sieht er zu, wie sie zu ihm geht. Mühelos entfernt sie den kindersicheren Verschluss, da solche Hindernisse in ihren Händen einfach nicht existieren, schüttelt zwei Tabletten heraus und legt sie ihm in die Handfläche. Ihre Finger sind beweglich und stark und wirken klein in seiner riesigen Hand, als sie leicht seine Haut streifen. Die Berührung fühlt sich wundervoller an als das meiste, was er bis jetzt erlebt hat.

»Danke«, sagt er, während sie wieder zu ihrem Sessel geht.

Wenn es sein muss, würde sie einen Monat lang in diesem Sessel sitzen bleiben. Und vielleicht sollte er es darauf ankommen lassen. Sie darf erst gehen, wenn ich es ihr erlaube. Ich wünschte, sie würde aufhören, mich so anzustarren.

»Wie geht es deinem Gedächtnis?«, fragt sie.

»Weißt du, es gibt Dinge, die sind für immer verloren. So was passiert eben manchmal«, antwortet er, leert die Teetasse und passt auf, dass ihm die Tabletten nicht im Halse stecken bleiben.

»Manche Erinnerungen kehren nie zurück«, stimmt sie zu. »Andere waren nie völlig verschwunden. Und über einiges kann man einfach nicht reden. Du hast also mit Eise und Browning Bourbon getrunken? Und was war dann? Um wie viel Uhr ungefähr hast du mit dem Bourbon angefangen?«

»So zwischen halb neun und neun. Dann hat mein Mobiltelefon geläutet, und Suz war dran. Sie war völlig aufgelöst, hat gesagt, sie müsse mit mir reden, und hat mich gebeten, zu ihr zu kommen.« Er hält inne und wartet auf Scarpettas Reaktion. Sie braucht es nicht auszusprechen. Es reicht, dass sie es denkt.

»Bitte erzähl weiter«, meint sie.

»Ich weiß, was jetzt in dir vorgeht. Du findest, ich hätte in meinem angetrunkenen Zustand nicht hinfahren dürfen.«

»Ich habe keine Ahnung, was ich finde«, erwidert sie.

»Mir ging es gut.«

»Was verstehst du unter angetrunken?«, hakt sie nach.

»Das Bier und ein paar Bourbon.«

»Ein paar?«

»Nicht mehr als drei oder vier.«

»Sechs Bier sind einhundertsiebzig Gramm Alkohol. Drei Bourbon machen noch einmal zwischen einhundertdreizehn und einhunderteinundvierzig Gramm, abhängig davon, wie gut man den Barmann kennt«, rechnet sie weiter. »Und das alles innerhalb eines Zeitraums von drei Stunden. Das sind bei konservativer Schätzung ungefähr zweihundertachtzig Gramm. Sagen wir mal, du baust achtundzwanzig Komma fünfunddreißig Gramm pro Stunde ab, was der Norm entspräche. Das heißt, dass du noch etwa einhundertachtundneunzig Gramm intus hattest, als du den Polizeiclub verlassen hast.«

»Scheiße«, sagt er. »Auf diese Aufrechnung hätte ich verzichten können. Aber mir ging es prima, ich schwöre.«

»Du verträgst eine ganze Menge. Aber im Sinne des Gesetzes warst du betrunken, und zwar jenseits aller Promillegrenzen«, entgegnet die Medizinerin und Rechtsanwältin. »Deutlich über eins Komma null. Ich nehme an, dass du wohlbehalten bei ihr angekommen bist. Wie spät war es inzwischen?«

»Vielleicht halb elf. Schließlich habe ich nicht jede gottverdammte Minute auf die Uhr geschaut.« Er starrt sie an und fühlt sich wie ein schwarzer Klotz, wie er so in den Kissen auf dem Bett lehnt. Was dann geschah, brodelt finster in ihm, und er will den Schritt in die Dunkelheit nicht wagen.

»Ich höre«, sagt Scarpetta. »Wie geht es dir? Möchtest du mehr Tee? Oder noch etwas zu essen?«

Er schüttelt den Kopf und macht sich Sorgen, die Tabletten könnten irgendwo stecken geblieben sein und ihm Löcher in die Kehle brennen. Inzwischen spürt er an so vielen Stellen ein Brennen, dass zwei Punkte mehr oder weniger kaum auszumachen wären. Doch er hat keine Lust darauf.

»Sind die Kopfschmerzen besser?«

»Warst du schon mal beim Psychologen?«, fragt er plötzlich. »Denn genau so fühle ich mich jetzt. Als ob ich mit einem Psychologen in diesem Zimmer säße. Aber da ich noch nie bei einem war, habe ich keine Ahnung, ob der Vergleich stimmt. Ich dachte, du wüsstest es vielleicht.« Er kann nicht sagen, warum er damit herausgeplatzt ist. Hilflos und zornig sieht er sie an, bereit, alles zu tun, um der brodelnden Dunkelheit zu entrinnen.

»Reden wir nicht über mich«, erwidert sie. »Ich bin keine Psychologin, und du müsstest das eigentlich am besten wissen. Hier geht es nicht darum, warum du etwas getan oder nicht getan hast, sondern nur um das Was. Das Was ist unser Problem, und das ist ein Thema, das Psychiater normalerweise nicht interessiert.«

»Ich weiß. Also geht es um das Was. Aber ich habe keine Ahnung, Doc. Bei Gott, das ist die Wahrheit«, lügt er.

»Gehen wir noch ein Stück zurück. Du bist also zu ihr gefahren. Wie? Du hattest den Mietwagen nicht dabei.«

»Taxi.«

»Hast du die Quittung noch?«

»Wahrscheinlich in der Jackentasche.«

»Es wäre gut, wenn du sie noch hättest«, meint sie.

»Sie müsste in irgendeiner Tasche stecken.«

»Du kannst sie später suchen. Was geschah dann?«

»Ich bin ausgestiegen und zur Tür spaziert und habe geklingelt. Sie machte auf und hat mich reingelassen.« Jetzt steht die brodelnde Dunkelheit dicht vor ihm wie ein Sturm, der jeden Moment über ihn hereinbrechen wird. Als er tief Luft holt, pocht ihm der Schädel.

»Marino, es ist in Ordnung«, sagt sie. »Du kannst es mir erzählen. Wir müssen herausfinden, was passiert ist. Ganz genau. Um mehr geht es hier nicht.«

»Sie … äh … hatte Stiefel an wie ein Soldat … schwarze Lederstiefel mit Stahlkappen. Militärstiefel. Und ein großes T-Shirt in Tarnfarben.« Die Dunkelheit verschluckt ihn, und es ist, als würde sie ihn mit Haut und Haaren verschlingen, bis überhaupt nichts mehr von ihm übrig bleibt. »Nichts drunter. Ich war ein bisschen verdattert und hatte keine Ahnung, warum sie sich so angezogen hatte. Aber ich habe mir nichts dabei gedacht, wenigstens nicht das, was du jetzt glaubst. Dann hat sie die Tür hinter mir zugemacht und mich angefasst.«

»Wo hat sie dich angefasst?«

»Sie sagte, sie hätte mich gewollt, seit dem Moment, als ich zum ersten Mal zur Tür hereingekommen bin«, antwortet er. Er schmückt es ein wenig aus, allerdings nicht sehr, denn die Botschaft war eindeutig, ganz gleich, wie sie es genau ausgedrückt hat. Sie wollte ihn. Sie hat ihn von Anfang an gewollt, als er mit Scarpetta bei ihr erschienen ist, um ihr Fragen über Gilly zu stellen.

»Du sagtest, sie hätte dich angefasst. Wo? An welchen Körperstellen?«

»Meine Hosentaschen. Sie hat die Hände in meine Hosentaschen gesteckt.«

»Vorne oder hinten?«

»Vorne.« Er senkt den Blick und betrachtet blinzelnd die tiefen vorderen Taschen seiner schwarzen Cargohose.

»War es dieselbe Hose, die du jetzt anhast?«, erkundigt sich Scarpetta und starrt ihn weiter an.

»Ja. Dieselbe Hose. Schließlich hatte ich noch keine Gelegenheit, mich umzuziehen. Ich bin heute Morgen gar nicht mehr in meinem Zimmer gewesen, sondern mit dem Taxi direkt in die Gerichtsmedizin gefahren.«

»Dazu kommen wir noch«, sagt sie. »Und was passierte, nachdem sie die Hände in deine Taschen gesteckt hatte?«

»Warum interessiert dich das alles?«

»Das weißt du genau«, entgegnet sie in demselben ruhigen, gemessenen Tonfall, ohne den Blick von ihm abzuwenden.

In seinen Gedanken wirbelt ein Nebel, wie der Dunst, der sich auf dem Weg zu ihrem Haus in den Taxischeinwerfern fing. Er ist hingefahren, obwohl ihm klar war, dass dieser Weg ins Unbekannte führte. Und dann steckte sie die Hände in seine Taschen und zog ihn lachend ins Wohnzimmer. Dabei trug sie nichts weiter als ein T-Shirt in Tarnfarben und Kampfstiefel. Als sie ihren weichen, straffen Körper an ihn presste, wusste er, dass sie ihn ebenfalls spürte.

»Sie hat eine Flasche Bourbon aus der Küche geholt«, sagt er und lauscht seiner eigenen Stimme nach. Aber er nimmt nichts in dem Hotelzimmer wahr, während er Scarpetta die Begebenheit schildert. Er ist wie in Trance. »Sie hat uns etwas eingeschenkt, aber ich sagte, ich sollte eigentlich besser nichts mehr trinken. Vielleicht habe ich es ja auch nur gedacht und nicht laut ausgesprochen. Ich weiß nicht mehr. Sie hat mich angemacht. Wie soll ich dir das erklären? Sie hat mich einfach angemacht. Als ich sie fragte, was das mit dem Tarnfarben-T-Shirt soll, meinte sie, er hätte drauf gestanden. Frank. Auf Uniformen. Er hätte gewollt, dass sie sich für ihn verkleidet, und dann hätten sie gespielt.«

»War Gilly in der Nähe, wenn er Suz aufgefordert hat, Uniform zu tragen und zu spielen?«

»Was?«

»Vielleicht kommen wir später noch auf Gilly. Was haben Frank und Suz denn gespielt?«

»Spiele eben.«

»Wollte sie gestern mit dir auch Spiele spielen?«, erkundigt sich Scarpetta.

Das Zimmer ist dunkel, und er kann die Dunkelheit spüren. Was er getan hat, sieht er nicht, weil es unerträglich ist. Und während er versucht, die Wahrheit zu sagen, kann er nur daran denken, dass die Phantasie nun für immer sterben wird. Sie wird wissen, was in ihm vorgeht, und dann wird es niemals geschehen. Von diesem Moment an wird es zwecklos sein, dass er sich auch nur die entferntesten Hoffnungen macht, denn sie hat jetzt eine Vorstellung davon, wie es mit ihm sein könnte.

»Es ist wichtig, Marino«, meint sie leise. »Erzähl mir von dem Spiel.«

Er schluckt und glaubt zu spüren, wie die Tabletten tief in seiner Kehle brennen. Obwohl er gern noch ein wenig Tee hätte, schafft er es nicht, sich zu rühren, und er kann den Gedanken nicht ertragen, sie um Tee oder sonst etwas zu bitten. Sie sitzt kerzengerade, aber nicht steif, im Sessel. Ihre kräftigen, tüchtigen Hände ruhen auf den Armlehnen. In ihrem mit Schlamm bespritzten Anzug wirkt sie aufrecht, aber entspannt, und sie hört ihm mit aufmerksamem Blick zu.

»Sie wollte, dass ich sie jage«, beginnt er. »Ich habe getrunken. Und ich habe sie gefragt, was sie mit jagen meint. Sie antwortete, ich sollte ins Schlafzimmer gehen, mich hinter der Tür verstecken und auf die Uhr schauen. Ich sollte fünf Minuten, genau fünf Minuten, warten und dann anfangen, sie zu suchen, wie … so als ob ich sie umbringen wollte. Ich habe widersprochen, dass ich das nicht in Ordnung fände … Tja, so richtig laut gesagt habe ich es eigentlich nicht.« Er holt noch einmal tief Luft. »Wahrscheinlich deshalb nicht, weil sie mich so angemacht hat.«

»Wie spät war es inzwischen?«

»Ich war seit etwa einer Stunde dort.«

»Sie hat dir die Hände in die Hosentaschen gesteckt, sobald du gegen halb elf zur Tür hereinspaziert bist, und dann vergeht eine Stunde? In dieser Stunde ist nichts weiter passiert?«

»Wir haben getrunken. Im Wohnzimmer auf dem Sofa.« Er weicht ihrem Blick aus. Nie wieder wird er ihr in die Augen schauen können.

»War das Licht an? Waren die Vorhänge zu oder offen?« »Sie hatte Feuer im Kamin angezündet. Das Licht war aus. Ich weiß nicht mehr, ob die Vorhänge offen waren.« Er überlegt. »Sie waren zu.«

»Was habt ihr auf dem Sofa getan?«

»Geredet. Und vermutlich auch rumgeknutscht.«

»Vermutungen bringen uns nicht weiter. Außerdem habe ich keine Ahnung, was du mit ›Rumknutschen‹ meinst«, gibt Scarpetta zurück. »Küssen, Streicheln? Habt ihr euch ausgezogen? Hattet ihr Geschlechtsverkehr? Oralsex?«

Er spürt, wie er errötet. »Nein. Das heißt, der erste Teil stimmt. Wir haben uns hauptsächlich geküsst. Du weißt doch, was Knutschen ist. Was die Leute eben so tun. Knutschen. Wir saßen auf dem Sofa und haben über das Spiel geredet.« Sein Gesicht glüht. Da ihm klar ist, dass sie das sehen kann, bleibt sein Kopf gesenkt. Das Licht war aus, und der Schein des Feuers glitt über ihre bleiche Haut. Als sie ihn packte, tat es weh und erregte ihn. Dann tat es nur noch weh. Er bat sie, zartfühlender zu sein, aber sie lachte nur und erwiderte, sie würde gern hart rangenommen, und zwar richtig. Ob er sie beißen könnte? Er sagte nein, er wollte sie nicht beißen, jedenfalls nicht fest. Es wird dir gefallen, versprach sie. Es wird dir gefallen zuzubeißen. Du weißt nicht, was du verpasst, wenn du noch nie eine Frau hart rangenommen hast. Und während sie redete, spiegelte sich der Schein des Feuers auf ihrer Haut. Er versuchte, die Zunge in ihrem Mund zu behalten und sie zu befriedigen. Gleichzeitig verschränkte er die Beine und nahm eine Haltung ein, in der sie ihm nicht wehtun konnte. Sei doch nicht so ein Jammerlappen, wiederholte sie, als sie ihn aufs Sofa stoßen und seinen Reißverschluss aufzerren wollte. Aber es gelang ihm, sie abzuwehren. Dabei dachte er an ihre Zähne, die im Schein des Feuers weiß funkelten, und daran, wie es sich anfühlen würde, wenn sie diese weißen Zähne in ihn schlug.

»Das Spiel fing also auf dem Sofa an?«, fragt Scarpetta, die weit weg in ihrem Sessel sitzt.

»Dort haben wir darüber gesprochen. Dann bin ich aufgestanden, und sie hat mich ins Schlafzimmer geführt und mir gesagt, ich sollte fünf Minuten hinter der Tür warten, wie ich dir schon erzählt habe.«

»Hast du weitergetrunken?«

»Ich glaube, sie hat mir noch ein Glas eingeschenkt.«

»Du sollst nicht glauben. Große Gläser? Kleine Gläser? Wie viele waren es inzwischen?«

»Diese Frau hält sich nicht mit Kleinigkeiten auf. Große Gläser. Als sie mich hinter die Tür geschickt hat, waren es schon mindestens drei. Ab jetzt wird es ziemlich verschwommen«, antwortet er. »Nachdem das Spiel losgegangen war, kann ich mich nicht mehr richtig erinnern. Vielleicht ist das sogar gut so.«

»Das ist ganz und gar nicht gut. Versuch es. Wir müssen herausfinden, was passiert ist. Das Was. Nicht das Warum. Das Warum interessiert mich nicht, Marino. Vertrau mir. Du kannst mir nichts Neues erzählen. Ich bin nicht so leicht zu schockieren.«

»Nein, Doc, da bin ich mir sicher. Aber vielleicht ist das bei mir anders. Eigentlich dachte ich das nicht, aber es könnte so sein. Ich weiß noch, wie ich auf die Uhr geschaut habe und echt Schwierigkeiten hatte, die Zeit abzulesen. Meine Augen sind sowieso nicht mehr das, was sie einmal waren, und ich habe alles verschwommen gesehen. Außerdem war ich aufgekratzt, total aufgekratzt, und zwar auf eine unangenehme Weise. Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, warum ich mitgemacht habe.«

Der Schweiß brach ihm aus, als er hinter der Tür stand und versuchte, die Zeit abzulesen. Dann begann er, lautlos bis sechzig zu zählen, kam aber aus dem Takt und fing wieder von vorne an, bis er sicher war, dass die fünf Minuten abgelaufen waren. Seine Erregung war, soweit er sich erinnerte, nicht mit dem zu vergleichen, was er je für eine Frau oder überhaupt bei einer Begegnung mit dem anderen Geschlecht empfunden hatte. Als er hinter der Tür hervorkam, bemerkte er, dass das ganze Haus in Dunkelheit lag. Er konnte die Hand nicht vor Augen sehen, außer er hielt sie sich dicht vors Gesicht. Während er sich die Wände entlangtastete, wurde ihm klar, dass sie ihn hören konnte. Und in diesem Moment erkannte er trotz seines betrunkenen Zustandes, dass sein Herz klopfte und dass sein Atem schwer ging, weil er erregt war und Angst hatte. Doch er möchte nicht, dass Scarpetta von seiner Angst erfährt. Dann streckte er die Hand nach seinem Knöchel aus, verlor das Gleichgewicht und fand sich auf dem Fußboden im Flur wieder, wo er nach seiner Pistole suchte. Aber die Pistole steckte nicht im Halfter. Er weiß nicht, wie lange er dort gesessen hat. Es ist sogar möglich, dass er kurz eingeschlafen ist.

Als er wieder auf dem Dielenboden zu sich kam, hatte er seine Pistole immer noch nicht, und das Herz schlug ihm bis zum Halse. Er rührte sich nicht und wagte kaum, Atem zu holen. Der Schweiß lief ihm ins Gesicht, während er lauschte und zu hören versuchte, wo der Mistkerl steckte. Die Dunkelheit war undurchdringlich, schwer und erstickend und legte sich wie ein schwarzes Tuch um ihn, als er sich so lautlos wie möglich aufrappelte, um seine Position nicht zu verraten. Irgendwo war der Dreckskerl, und Marino hatte keine Waffe. Die Arme ausgestreckt wie Ruder, berührte er kaum die Wände, als er weiterschlich und die Ohren spitzte, sprungbereit und wohl wissend, dass er erschossen werden würde, wenn er das Drecksschwein nicht zuvor überraschte.

Langsam wie eine Katze schlich er weiter, alle Sinne auf den Feind gerichtet. Dabei kam ihm immer wieder die Frage in den Sinn, wie er überhaupt in dieses Haus geraten war. Was war das eigentlich für ein Haus und wo zum Teufel steckte die Verstärkung? Wo, verdammt noch mal, blieben denn bloß die anderen? O mein Gott, vielleicht hatte es sie ja erwischt. Vielleicht war er der letzte Überlebende und würde nun ebenfalls dran glauben müssen, weil er unbewaffnet war und auch sein Funkgerät verloren hatte. Außerdem wusste er nicht, wo er war. Und dann spürte er einen Schlag und wurde von der pulsierenden Dunkelheit aufgesogen, einer Dunkelheit, die ihm bei jeder Bewegung den Atem raubte. Im nächsten Moment kam ein Schmerz, ein brennender Schmerz, als sich die Dunkelheit regte und, begleitet von schrecklichen schmatzenden Geräuschen, nach ihm griff.

»Ich weiß nicht, was passiert ist«, hört er sich sagen, und es erstaunt ihn, dass seine Stimme so normal klingt, weil er sich innerlich fühlt, als hätte er den Verstand verloren. »Ich habe keine Ahnung. Ich bin in ihrem Bett aufgewacht.«

»Angezogen?«

»Nein.«

»Wo waren deine Kleider und deine Sachen?«

»Auf einem Sessel.«

»Auf einem Sessel? Ordentlich hingelegt?«

»Ja, ziemlich. Meine Kleider lagen dort, und obendrauf war meine Pistole. Ich habe mich im Bett aufgesetzt, aber es war niemand da«, antwortet er.

»War ihre Seite des Bettes zerwühlt? Sah sie aus, als hätte jemand darin geschlafen?«

»Die Decke war runtergezogen und total verdreht. Doch es war niemand da. Ich habe mich umgeschaut und hatte keinen Schimmer, wo ich war. Dann fiel mir wieder ein, dass ich letzte Nacht mit dem Taxi zu ihr gefahren und dass sie an die Tür gekommen war, so angezogen, wie ich es dir schon erzählt habe. Als ich mich umsah, habe ich auf dem Nachtkästchen auf meiner Bettseite ein Glas Bourbon und ein Handtuch bemerkt. Das Handtuch war voller Blut, und ich habe einen ganz schönen Schrecken gekriegt. Ich wollte aufstehen, aber es ging nicht. Ich saß einfach da und kam nicht hoch.«

Er stellt fest, dass seine Teetasse voll ist, und es erschreckt ihn, dass er gar nicht mitbekommen hat, wie Scarpetta aus ihrem Sessel aufgestanden ist, um sie nachzufüllen. Vielleicht hat er es ja auch selbst getan, aber das bezweifelt er. Er hat das Gefühl, dass er seine Körperhaltung auf dem Bett nicht verändert hat, und als er auf die Uhr blickt, wird ihm klar, dass über drei Stunden vergangen sind, seit er und Scarpetta ihr Gespräch in diesem Hotelzimmer begonnen haben.

»Hältst du es für möglich, dass sie dich unter Drogen gesetzt hat?«, fragt Scarpetta. »Leider denke ich nicht, dass ein Drogentest jetzt noch etwas nützen würde. Es ist zu lange her. Hängt aber auch von dem Medikament ab.«

»Eine Superidee. Wenn ich einen Drogentest mache, kann ich genauso gut gleich selbst die Cops verständigen, vorausgesetzt, sie hat es nicht bereits getan.«

»Erzähl mir von dem blutigen Handtuch«, sagt Scarpetta.

»Ich weiß nicht, von wem das Blut war. Vielleicht war es meins. Mein Mund tat weh.« Er berührt ihn. »Ich hatte schreckliche Schmerzen. Wahrscheinlich steht sie drauf, anderen wehzutun. Aber ich kann nur sagen … Tja, keine Ahnung, was ich mit ihr gemacht habe, denn ich habe sie nicht mehr gesehen. Sie war im Bad, und als ich nach ihr rief, um festzustellen, wo sie steckte, fing sie an, mich anzuschreien, und kreischte, ich sollte sofort verschwinden. Sie brüllte, ich … sie hat entsetzliche Sachen gesagt.«

»Vermutlich hast du nicht daran gedacht, das blutige Handtuch mitzunehmen.«

»Ich weiß nicht einmal mehr, wie ich es geschafft habe, ein Taxi zu rufen, um von dort wegzukommen. Alles weg. Aber es muss so gewesen sein. Nein, das Handtuch habe ich nicht mitgenommen, verdammt.«

»Du bist direkt in die Gerichtsmedizin gefahren.« Sie runzelt leicht die Stirn, so als ob ihr dieser Teil nicht ganz schlüssig erscheint.

»Ich habe mir unterwegs einen Kaffee besorgt. In einer Seven-Eleven-Filiale. Dann habe ich den Taxifahrer gebeten, mich ein Stück entfernt vom Büro abzusetzen, weil ich ein paar Schritte zu Fuß gehen wollte. Ich habe gehofft, davon einen klareren Kopf zu kriegen. Es hat ein wenig geholfen, denn danach fühlte ich mich wieder halbwegs wie ein Mensch. Und als ich ins Büro kam, stand sie plötzlich vor mir.«

»Hast du davor deine Mailbox abgehört?«

»Oh. Kann sein.«

»Sonst hättest du von der Besprechung gar nichts wissen können.«

»Nein, ich war bereits informiert«, erwidert Marino. »Eise hat mir im Polizeiclub erzählt, er hätte Marcus eine Meldung gemacht. Per E-Mail, hat er gesagt.« Er überlegt. »Ach ja, jetzt fällt es mir ein. Marcus hat ihn sofort nach Erhalt der E-Mail angerufen und ihm mitgeteilt, er werde für den nächsten Vormittag eine Sitzung anberaumen. Eise solle auf jeden Fall im Haus sein, damit man ihn, wenn nötig, hinzuziehen könne, falls es Fragen gäbe.«

»Also wusstest du schon gestern Abend von der Sitzung«, meint Scarpetta.

»Ja, da habe ich zum ersten Mal davon gehört. Eise meinte, dass du auch dabei sein würdest. Und deshalb habe ich beschlossen, ebenfalls zu kommen.«

»Und du wusstest auch, dass die Sitzung um halb zehn war?«

»Muss wohl so gewesen sein. Tut mir Leid, ich erinnere mich so schlecht, Doc.« Er sieht sie an und fragt sich, worauf sie hinauswill. »Warum? Was ist denn so wichtig an dieser Sitzung?«

»Er hat es mir erst heute Morgen um halb neun mitgeteilt«, erwidert sie.

»Offenbar will er mit dir Schlitten fahren«, meint Marino, der Dr. Marcus auf den Tod nicht ausstehen kann. »Warum steigen wir nicht in den nächsten Flieger nach Florida? Scheiß auf den Typen.«

»Hat Mrs. Paulsson mit dir gesprochen, als ihr euch heute Morgen im Büro getroffen habt?«

»Sie hat mich nur angeschaut und ist davon stolziert. So als hätte sie mich ihr Lebtag nicht gesehen. Ich blicke da nicht mehr durch, Doc. Ich weiß nur, dass etwas Schlimmes passiert ist. Außerdem habe ich eine Todesangst, dass ich was angestellt haben könnte und nun die Folgen tragen muss. Nach all dem Mist, den ich im Leben gebaut habe, wird diese Sache mir das Genick brechen. Schluss, aus, vorbei.«

Langsam steht Scarpetta aus ihrem Sessel auf. Obwohl sie müde wirkt, ist sie hellwach. Er liest die Sorge in ihrem Blick, und er bemerkt auch, dass sie nachdenkt und offenbar Schlüsse zieht, die ihm um sein Leben nicht einfallen wollen. Gedankenverloren sieht sie aus dem Fenster und geht dann zum Servierwagen, um sich den letzten Rest Tee einzuschenken.

»Sie hat dir wehgetan, richtig?«, sagt sie, bleibt neben dem Bett stehen und schaut zu ihm herunter. »Zeig mir, was sie mit dir gemacht hat.«

»Das kommt überhaupt nicht in Frage! Ich kann nicht«, protestiert er in einem weinerlichen Tonfall, der klingt, als wäre er wieder zehn Jahre alt. »Das geht auf gar keinen Fall!«

»Soll ich dir helfen oder nicht? Oder glaubst du, du hättest Körperteile, die ich noch nicht kenne?«

Er schlägt die Hände vors Gesicht. »Ich kann nicht.«

»Du könntest auch die Polizei anrufen. Dann bringen sie dich aufs Revier und fotografieren deine Verletzungen. Anschließend brauchst du nur noch Anzeige zu erstatten. Vielleicht wäre das sogar das Beste, vorausgesetzt, dass sie die Polizei bereits verständigt hat. Allerdings denke ich das nicht.«

Er senkt die Hände und blickt sie an. »Warum?«

»Warum ich das denke? Ganz einfach. Alle Welt weiß, dass wir in diesem Hotel wohnen. Oder ist Detective Browning etwa nicht informiert? Hat er nicht deine Telefonnummern? Warum also ist dann die Polizei noch nicht hier, um dich festzunehmen? Man möchte doch meinen, dass es ein gefundenes Fressen für sie wäre, wenn Gilly Paulssons Mutter die Notrufnummer wählt und dich der Vergewaltigung bezichtigt. Und warum hat sie nicht Zeter und Mordio geschrien, als sie dich im Büro gesehen hat? Du hattest sie gerade vergewaltigt, und sie macht weder eine Szene, noch ruft sie gleich nach der Polizei?«

»Kommt nicht in Frage, dass ich die Cops verständige«, erwidert er.

»Dann musst du dich mit mir begnügen.« Sie kehrt zu ihrem Sessel zurück, holt ihre Tatorttasche, öffnet sie und nimmt eine Digitalkamera heraus.

»Du heiliger Strohsack«, stöhnt er und starrt auf die Kamera, als wäre sie eine auf ihn gerichtete Waffe.

»Klingt fast, als wärst du das Opfer«, meint sie. »Offenbar will sie dich glauben machen, dass du ihr etwas angetan hast. Warum?«

»Wenn ich das wüsste. Keine Ahnung.«

»Du bist nur verkatert, nicht verblödet, Marino.«

Er sieht sie an und betrachtet dann die Kamera in ihrer herunterhängenden Hand. In ihrem dunklen, mit Schlamm bespritzten Hosenanzug steht Scarpetta mitten im Zimmer.

»Wir sind hier, um wegen des Mordes an ihrer Tochter zu ermitteln, Marino. Und anscheinend ist Mama auf irgendwelche Vorteile, Geld, Aufmerksamkeit oder sonst etwas aus. Ich werde schon noch dahinterkommen, was sie will. O ja. Ich werde es rauskriegen. Also zieh dich schon endlich aus, und zeig mir, was diese Frau dir während ihres perversen Spielchens gestern Nacht angetan hat.«

»Was wirst du jetzt bloß von mir denken?«, antwortet er und zieht vorsichtig sein schwarzes Polohemd über den Kopf. Es tut weh, wenn der Stoff die Bisswunden und Saugspuren auf seiner Brust streift.

»Du meine Güte. Sitz still. Verdammt, warum hast du mir das nicht schon früher gezeigt? Wenn wir die Wunden nicht versorgen, wirst du eine Infektion kriegen. Und du hast Angst, dass sie die Polizei rufen könnte? Bist du denn völlig übergeschnappt?« Beim Reden fotografiert sie, lässt die Linse seinen Körper entlanggleiten und macht Nahaufnahmen von jeder Verletzung.

»Aber ich habe doch nicht gesehen, was ich ihr getan habe«, erwidert er, ein wenig ruhiger, als ihm klar wird, dass eine Untersuchung durch Doc Scarpetta weniger schlimm ist, als er es sich vorgestellt hat.

»Wenn du sie nur halb so oft gebissen hättest wie sie dich, müsstest du jetzt Zahnschmerzen haben.«

Als er sorgfältig seine Zähne überprüft, spürt er nichts. Sie fühlen sich an wie immer und tun Gott sei Dank auch nicht weh.

»Was ist mit deinem Rücken?«, fragt sie und lehnt sich über ihn.

»Da habe ich keine Schmerzen.«

»Beug dich vor und lass sehen.«

Er gehorcht und spürt, wie sie vorsichtig die Kissen von seinem Rücken wegschiebt. Ihre warmen Finger berühren sanft die Haut zwischen den Schulterblättern und drücken ihn weiter nach vorne, damit sie seinen Rücken in Augenschein nehmen kann. Er überlegt, ob sie je seinen nackten Rücken angefasst hat. Hat sie nicht. Das wüsste er nämlich noch.

»Was ist mit deinen Genitalien?«, fragt sie dann, als ob das etwas Alltägliches wäre. Als er nicht antwortet, hakt sie nach: »Marino, hat sie dich an den Genitalien verletzt? Hast du da etwas, das ich fotografieren und außerdem behandeln sollte? Oder wollen wir lieber so tun, als wüsste ich aus irgendeinem Grund nicht, dass du wie die Hälfte der restlichen Menschheit männliche Genitalien besitzt? Tja, sie hat dich offenbar auch dort verletzt, denn sonst hättest du schon längst widersprochen. Richtig?«

»Richtig«, nuschelt er und hält sich die Hände zwischen die Beine. »Ja, ich habe Schmerzen. Zufrieden? Aber du hast doch jetzt genug Material, um deine Theorie zu beweisen und zu belegen, dass sie mich verletzt hat, ganz egal was ich mir, wenn überhaupt, habe zuschulden kommen lassen.«

Scarpetta setzt sich, keinen halben Meter von ihm entfernt, auf die Bettkante und sieht ihn an. »Was hältst du davon, es mir zu beschreiben. Dann können wir ja immer noch entscheiden, ob du die Hose ausziehen musst.«

»Sie hat mich gebissen. Überall. Und ich habe Blutergüsse.«

»Ich bin Ärztin«, sagt Scarpetta.

»Das weiß ich. Aber du bist nicht meine Ärztin.«

»Wenn du sterben würdest, wäre ich es. Wer, glaubst du, würde dich untersuchen und jede verdammte Kleinigkeit herausfinden wollen, wenn sie dich umgebracht hätte? Aber du bist nicht tot, wofür ich ausgesprochen dankbar bin. Allerdings wurdest du angegriffen und hast dieselben Verletzungen, die du auch haben könntest, wenn du tot wärst. Würdest du mich also bitte nachsehen und feststellen lassen, ob du ärztlich behandelt werden musst und ob Fotos nötig sind?«

»Was für eine Behandlung?«

»Vermutlich nichts, was sich nicht mit ein bisschen Betadine hinkriegen ließe. Ich besorge welches in der Apotheke.«

Er versucht, sich vorzustellen, was passieren wird, wenn sie ihn nackt sieht. Sie hat ihn noch nie nackt gesehen und weiß nicht, was er zu bieten hat oder ob er überdurchschnittlich oder unterdurchschnittlich gebaut ist, auch wenn normal unter normalen Umständen eigentlich ausreichend wäre. Er fragt sich, mit welcher Reaktion er wohl rechnen muss, weil er keine Ahnung hat, was ihr gefällt oder woran sie gewöhnt ist. Also ist es wahrscheinlich unklug, die Hose ausziehen. Dann jedoch denkt er an die Fahrt auf der Rückbank des Zivilfahrzeugs, die erkennungsdienstliche Behandlung und den Prozess und öffnet Hosenknopf und Reißverschluss.

»Wenn du jetzt lachst, werde ich dich für den Rest deines Lebens hassen«, sagt er. Sein Gesicht glüht rot, er schwitzt, und der Schweiß brennt ihm auf der Haut.

»Du armer Junge«, antwortet sie. »Dieses durchgeknallte Miststück.«

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