26

Marino kippt Zucker in seinen Kaffee. Anscheinend fühlt er sich wirklich miserabel, denn sonst würde er keinen weißen Industriezucker zu sich nehmen. Der ist in seiner Diät nämlich streng verboten und so ungefähr das Schlimmste, was er zur Zeit in sich hineinschaufeln kann.

»Bist du sicher, dass du dir das antun willst?«, fragt Scarpetta. »Du wirst es bereuen.«

»Was zum Teufel hatte sie hier verloren?« Er rührt noch einen Löffel Zucker in seine Tasse. »Da komme ich nichtsahnend in die Gerichtsmedizin und treffe als Erstes die Mutter des Mädchens auf dem Flur. Erzähl mir jetzt nicht, sie hätte sich Gilly angesehen, die ist nämlich nicht sehr vorzeigbar. Was hat sie also hier gemacht?«

Marino trägt dieselbe schwarze Cargohose, die Windjacke und die LAPD-Baseballkappe wie gestern. Er hat sich nicht rasiert, und seine Augen wirken müde und haben einen wilden Blick. Vielleicht hat er nach dem Umtrunk im Polizeiclub einer seiner Damenbekanntschaften einen Besuch abgestattet. Einer der Frauen, die er früher beim Bowling kennen gelernt, mit denen er sich betrunken hat und bei denen er schließlich im Bett gelandet ist.

»Wenn du schlechte Laune hast, ist es möglicherweise besser, wenn du mich nicht zu der Sitzung begleitest«, sagt Scarpetta. »Du bist nicht eingeladen. Also habe ich keine Lust, die Angelegenheit noch zu verschlimmern, indem ich dich mitschleppe, solange du in so einer Stimmung bist. Außerdem weißt du ja, wie du zurzeit reagierst, wenn du Zucker isst.«

»Hm?«, erwidert er und betrachtet die geschlossene Tür des Konferenzraums. »Na, dann werde ich diesen Arschlöchern mal zeigen, was eine richtig schlechte Laune ist.«

»Was ist passiert?«

»Es wird einiges gemunkelt«, erwidert er mit leiser, zorniger Stimme. »Über dich.«

»Was denn?« Sie kann Gerüchte nicht ausstehen und schenkt ihnen normalerweise keine Beachtung.

»Es heißt, dass du nach Richmond zurückkommen willst und dass du deshalb hier bist.« Vorwurfsvoll sieht er sie an und trinkt seinen giftig-süßen Kaffee. »Was zum Teufel verschweigst du mir?«

»So etwas hatte ich niemals vor«, sagt sie. »Und es erstaunt mich, dass du auf so ein hohles Geschwätz hörst.«

»Ich komme jedenfalls nicht mit nach Richmond zurück«, meint er, als wäre über ihn geredet worden, nicht über sie.

»Nie im Leben. Das kannst du dir abschminken.«

»Ich würde nicht einmal im Traum daran denken, zurückzukehren. Also beschäftigen wir uns jetzt nicht mehr damit.« Sie öffnet die dunkle Holztür des Konferenzraums.

Marino kann ihr folgen, wenn er möchte, oder draußen an der Kaffeemaschine stehen bleiben und sich den ganzen Tag lang mit Zucker voll stopfen. Sie wird nicht versuchen, ihn zu überreden. Obwohl sie herausfinden muss, was ihn bedrückt, ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Nun hat sie eine Besprechung mit Dr. Marcus, dem FBI und Jack Fielding, der sie gestern Abend versetzt hat und dessen Haut inzwischen noch stärker entzündet aussieht als bei ihrer letzten Begegnung. Niemand spricht sie an, während sie sich einen Stuhl sucht. Und auch Marino, der ihr nachgekommen ist und sich neben sie setzt, schlägt Schweigen entgegen. Aha, offenbar ein Tribunal, denkt sie.

»Fangen wir an«, sagt Dr. Marcus. »Wahrscheinlich haben Sie sich mit Special Agent Weber von der Profiling-Abteilung des FBI bereits bekannt gemacht«, wendet er sich an Scarpetta. Allerdings irrt er sich in der Bezeichnung der Abteilung, die in Wirklichkeit Abteilung für Verhaltensforschung heißt. »Wir haben es mit einem ernsten Problem zu tun – als ob wir nicht ohnehin schon genug um die Ohren hätten.« Seine Miene ist finster, und seine Augen hinter den Brillengläsern funkeln kalt. »Dr. Scarpetta«, sagt er laut. »Sie haben Gilly Paulsson ein zweites Mal obduziert. Und Sie haben doch auch Mr. Whitby, den Traktorfahrer, untersucht, richtig?«

Fielding starrt wortlos auf einen Aktenordner. Sein Gesicht ist wund und gerötet.

»Eine Untersuchung würde ich das nicht nennen«, entgegnet sie und wirft Fielding einen Blick zu. »Außerdem habe ich keine Ahnung, worum es hier geht.«

»Haben Sie ihn berührt?«, fragt Special Agent Karen Weber.

»Verzeihung, aber beschäftigt sich das FBI auch mit dem Tod des Traktorfahrers?«, erkundigt sich Scarpetta.

»Möglicherweise. Wir hoffen nicht, aber es könnte durchaus dazu kommen«, erwidert Special Agent Weber, der es Spaß zu machen scheint, Scarpetta, die frühere Chefpathologin, in die Zange zu nehmen.

»Haben Sie ihn berührt?« Nun kommt die Frage von Dr. Marcus.

»Ja«, antwortet Scarpetta. »Das habe ich.«

»Und Sie natürlich auch«, sagt Dr. Marcus zu Fielding.

»Schließlich haben Sie die äußerliche Untersuchung durchgeführt und mit der Autopsie angefangen. Irgendwann sind Sie dann zu der kleinen Paulsson in den Verwesungsraum gegangen, um sie noch einmal zu obduzieren.«

»Ja«, murmelt Fielding, blickt von seinem Ordner auf und schaut ins Leere. »Das ist doch alles Mist.«

»Wie bitte?«, fragt Dr. Marcus.

»Sie haben mich sehr gut verstanden. Das ist alles Mist«, wiederholt Fielding. »Ich habe Ihnen das schon gestern gesagt, als die Sache auf den Tisch kam. Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Das ist Mist. Ich lasse mich nicht ans Kreuz nageln, weder vom FBI noch von sonst wem.«

»Ich fürchte, das ist kein Mist, Dr. Fielding. Wir haben ein großes Problem mit den Beweisen. Die Spuren, die an der Leiche von Gilly Paulsson sichergestellt wurden, sind mit denen, die wir bei dem Traktorfahrer Mr. Whitby gefunden haben, identisch. Ich verstehe nicht, wie das möglich sein kann, außer es hat eine Übertragung von Verunreinigungen stattgefunden. Außerdem begreife ich nicht, warum Sie im Fall Whitby überhaupt nach Spuren gesucht haben. Es war ein Unfall und kein Tötungsdelikt. Korrigieren Sie mich, falls ich mich irre.«

»Darauf würde ich keinen Eid schwören«, entgegnet Fielding. Sein Gesicht und seine Hände sind so wund, dass es wehtut, sie anzusehen. »Er wurde zermalmt, aber die genauen Umstände müssen noch geklärt werden. Ich war nicht Zeuge seines Todes. Ich habe einen Abstrich von seiner Gesichtswunde genommen, um festzustellen, ob sich Schmieröl darin befindet. Auch für den Fall, dass irgendwann jemand behauptet, der Mann wäre angegriffen und ins Gesicht geschlagen und nicht nur überfahren worden.«

»Worum geht es? Was für Spuren?«, fragt Marino erstaunlich ruhig für jemanden, der seinem Körper gerade einen gefährlichen Zuckerschock versetzt hat.

»Offen gestanden glaube ich, dass Sie das nichts angeht«, gibt Dr. Marcus zurück. »Doch da Ihre Kollegin darauf besteht, Sie auf Schritt und Tritt mitzuschleppen, muss ich mich wohl mit Ihrer Anwesenheit abfinden. Allerdings möchte ich darauf bestehen, dass das, was hier besprochen wird, diesen Raum nicht verlassen darf.«

»Bestehen Sie ruhig darauf«, entgegnet Marino und lächelt Special Agent Weber zu. »Und wem verdanken wir das Vergnügen Ihres Beiseins?«, fragt er sie. »Ich kannte früher den Chef hier im Land der Marines. Komisch, aber die Leute vergessen immer wieder, dass Quantico eher den Marines untersteht als dem FBI. Schon mal von Benton Wesley gehört?«

»Natürlich.«

»Haben Sie den Kram gelesen, den er über die Erstellung von Täterprofilen geschrieben hat?«

»Ich bin gut vertraut mit seinen Arbeiten«, entgegnet sie, die Finger mit den makellos manikürten und dunkelrot lackierten Nägeln auf dem Notizblock verschränkt.

»Gut, dann wissen Sie vermutlich auch, dass er Täterprofile ungefähr so zuverlässig findet wie Glückskekse beim Chinesen«, fährt Marino fort.

»Ich bin nicht hergekommen, um mich beleidigen zu lassen«, sagt Special Agent Weber zu Dr. Marcus.

»Ach, das tut mir aber Leid«, wendet sich Marino an Dr. Marcus. »Ich wollte der Dame wirklich nicht zu nahe treten. Eine Expertin vom FBI, die uns über Spuren aufklärt, können wir hier sicher gut gebrauchen.«

»Es reicht«, sagt Dr. Marcus ärgerlich. »Wenn Sie sich nicht professionell benehmen können, muss ich Sie bitten zu gehen.«

»Aber nein, lassen Sie sich von mir nicht stören«, antwortet Marino. »Ich werde ganz brav dasitzen und zuhören. Machen Sie ruhig weiter.«

Jack Fielding schüttelt den Kopf und starrt auf seinen Aktenordner.

»Ich werde fortfahren«, verkündet Scarpetta, und inzwischen ist es ihr egal, ob sie unfreundlich oder gar undiplomatisch wirkt. »Dr. Marcus, bis jetzt haben Sie keine Spuren im Fall Gilly Paulsson erwähnt. Sie haben mich gebeten, nach Richmond zu kommen, um Sie bei der Untersuchung des Falles zu unterstützen. Und dann verschweigen Sie mir, dass es Spuren gibt?« Sie sieht erst ihn und dann Fielding an.

»Ich kann nichts dafür«, meint Fielding zu ihr. »Ich habe die Abstriche gemacht und die Laborergebnisse noch nicht zurückbekommen. Man hat mich nicht einmal angerufen. Nicht, dass man mich sonst sofort informieren würde. Zumindest nicht direkt. Ich habe erst gestern Abend davon erfahren, als er«, er weist auf Dr. Marcus, »es erwähnt hat, während ich gerade ins Auto stieg.«

»Ich habe es auch nicht früher gewusst«, zischt Dr. Marcus. »Es stand auf einem dieser dämlichen Zettel, die uns dieser Besserwisser Eis oder Eise dauernd schickt, um unsere Vorgehensweise zu kritisieren. Bis jetzt hat das Labor nichts Aufschlussreiches herausgefunden. Ein paar Haare und Krümel, möglicherweise Farbpartikel, die von allem Möglichen stammen können, zum Beispiel einem Auto oder einem Gegenstand im Haus der Paulssons. Vielleicht sogar von einem Fahrrad oder einem Spielzeug.«

»Ob es sich um Autolack handelt, müsste eigentlich zu ermitteln sein«, entgegnet Scarpetta. »Außerdem ist es kein Problem, festzustellen, ob ein Gegenstand im Haus in Frage kommt.«

»Ich möchte vielmehr darauf hinaus, dass es keine DNS-Spuren gibt. Der Abstrich war negativ. Natürlich wäre DNS bei einem Vaginal- oder Oralabstrich interessant, wenn wir von einem Tötungsdelikt ausgehen. Also habe ich mich mit der Frage beschäftigt, ob sich auf diesen angeblichen Farbpartikeln DNS befindet. Und dann habe ich gestern Abend diese E-Mail aus der Kriminaltechnik bekommen, in der zu meinem Erstaunen stand, dass die Abstriche, die Sie von dem Traktorfahrer genommen haben, dieselben Verunreinigungen enthalten.« Dr. Marcus starrt Fielding an.

»Und wie sollen diese so genannten Verunreinigungen zustande gekommen sein?«, hakt Scarpetta nach.

Dr. Marcus hebt die Hände und zuckt in einer langsamen und übertriebenen Geste die Achseln. »Das müssen schon Sie mir verraten.«

»Ich sehe keine Möglichkeit, wie es dazu hätte kommen sollen«, gibt sie zurück. »Wir haben die Handschuhe gewechselt, auch wenn das keine Rolle spielen würde, da wir keine erneuten Abstriche von Gilly Paulssons Leiche genommen haben. Das wäre ziemlich zwecklos gewesen, nachdem sie gewaschen, obduziert, untersucht, noch einmal gewaschen und zum zweiten Mal obduziert worden ist und zudem zwei Wochen lang in einem Leichensack lag.«

»Selbstverständlich haben Sie kein zweites Mal Abstriche genommen«, sagt Dr. Marcus von oben herab. »Aber ich nehme an, dass Sie mit Mr. Whitbys Autopsie noch nicht fertig waren und sich nach der Untersuchung der kleinen Paulsson wieder mit ihm befasst haben.«

»Ich habe Abstriche von Mr. Whitby genommen und mich dann mit der kleinen Paulsson beschäftigt«, erklärt Fielding. »Ich habe keine Abstriche von ihr genommen. Das steht fest. Außerdem können an ihr keine Spuren mehr vorhanden gewesen sein, die sich auf jemand anderen hätten übertragen lassen können.«

»Es ist nicht meine Aufgabe, das zu erklären«, verkündet Dr. Marcus. »Keine Ahnung, was zum Teufel da passiert ist, aber etwas muss vorgefallen sein. Wir haben die Pflicht, alle Möglichkeiten in Erwägung zu ziehen. Die Anwälte werden das mit Sicherheit tun, wenn einer der beiden Fälle jemals vor Gericht kommt.«

»Gillys Tod wird gewiss ein gerichtliches Nachspiel haben«, entgegnet Special Agent Weber im Brustton der Überzeugung, als kenne sie die tote Vierzehnjährige persönlich. »Vielleicht hat es ja eine Verwechslung gegeben. Jemand hat eine Probe falsch beschriftet oder verunreinigt. Sind die beiden Analysen von demselben forensischen Wissenschaftler durchgeführt worden?«

»Eise – ja, ich glaube, so heißt er – ist für beide verantwortlich«, erwidert Dr. Marcus. »Er ist für die Spuren zuständig, aber nicht für die Haare.«

»Sie haben schon zweimal Haare erwähnt. Was für welche?«, fragt Scarpetta. »Soll das heißen, dass auch Haare sichergestellt wurden?«

»Einige am Fundort von Gilly Paulsson«, antwortet Dr. Marcus. »Ich glaube, in der Bettwäsche.«

»Dann wollen wir mal hoffen, dass die Haare nicht vom Traktorfahrer stammen«, merkt Marino an. »Obwohl es die Sache eigentlich erleichtern würde. Er bringt das Mädchen um, kann nicht mit der Schuld leben und überfährt sich mit seinem eigenen Traktor. Fall aufgeklärt.«

Niemand findet das komisch.

»Ich habe darum gebeten, dass ihre Bettwäsche auf ziliare Schleimhautepithelzellen hin untersucht wird«, sagt Scarpetta zu Fielding.

»Der Kopfkissenbezug«, erwidert er. »Die Antwort ist positiv.«

Eigentlich sollte sie erleichtert sein, da das der biologische Beweis dafür ist, dass Gilly erstickt wurde. Doch die Wahrheit tut weh. »Eine schreckliche Art zu sterben«, meint sie. »Einfach entsetzlich.«

»Verzeihung«, schaltet sich Special Agent Weber ein. »Habe ich etwas nicht mitbekommen?«

»Das Mädchen wurde ermordet«, entgegnet Marino. »Ich wüsste nicht, was zum Teufel Sie sonst nicht mitbekommen haben könnten.«

»So etwas muss ich mir wirklich nicht bieten lassen«, wendet sie sich an Dr. Marcus.

»Doch, das muss sie«, sagt Marino zu ihm. »Außer Sie wollen mich höchstpersönlich aus diesem Zimmer werfen. Ansonsten bleibe ich einfach schön brav sitzen und rede, wie mir der Schnabel gewachsen ist.«

»Wenn wir schon einmal dabei sind, ein offenes Gespräch zu führen«, sagt Scarpetta zu Weber, »würde ich gerne von Ihnen aus erster Hand hören, warum sich das FBI mit dem Fall Gilly Paulsson beschäftigt.«

»Ganz einfach: Weil die Polizei von Richmond uns um Hilfe gebeten hat«, gibt Special Agent Weber zurück.

»Weshalb?«

»Das müssen Sie sie schon selbst fragen.«

»Ich frage aber Sie«, entgegnet Scarpetta und wird langsam wütend. »Wenn nicht endlich jemand die Karten auf den Tisch legt, ist die Angelegenheit für mich erledigt.«

»So einfach ist das nicht.« Dr. Marcus wirft ihr einen langen Blick aus halb geöffneten Augen zu, die sie an eine Eidechse erinnern. »Sie haben sich eingemischt. Sie haben den Traktorfahrer untersucht, und nun haben wir es vermutlich mit einer Verunreinigung der Beweise zu tun. Ich fürchte, Sie können nicht einfach hier hinausspazieren. Die Entscheidung liegt nicht mehr bei Ihnen.«

»So ein Schwachsinn«, murmelt Fielding und starrt auf seine wunden, schuppigen Hände, die auf seinem Schoß liegen.

»Ich kann dir sagen, warum sich das FBI eingeschaltet hat«, verkündet Marino. »Zumindest weiß ich, was die Polizei von Richmond dazu meint, falls es dich interessiert. Allerdings könnte es sein, dass Sie sich davon gekränkt fühlen«, wendet er sich an Special Agent Weber. »Habe ich übrigens schon erwähnt, wie gut mir Ihr Kostüm gefällt? Und Ihre roten Schuhe? Einfach spitze. Aber was machen Sie, wenn Sie in den Dingern einen Verbrecher zu Fuß verfolgen müssen?«

»Jetzt reicht es«, zischt sie.

»Nein – mir reicht es jetzt!« Jack Fielding schlägt plötzlich mit der Faust auf den Tisch und springt auf. Er tritt ein paar Schritte zurück und sieht sich mit vor Wut blitzenden Augen um. »Ich habe diese Scheiße satt. Ich gehe. Haben Sie kapiert, Sie kleines, verblödetes Arschloch?«, schreit er Dr. Marcus an. »Ich gehe. Und auf Sie scheiße ich genauso.« Er zeigt mit dem Finger auf Special Agent Weber. »Sie können mir mit Ihrem beschissenen FBI mal den Buckel runterrutschen. Sie kommen hierher, führen sich auf wie Halbgötter und haben von nichts eine Ahnung. Sie würden einen Mord nicht mal erkennen, wenn er in Ihrem eigenen gottverdammten Bett stattfindet. Ich gehe.« Er marschiert zur Tür und dreht sich kurz davor noch einmal um. »Pete, ich weiß, dass Sie im Bilde sind«, wendet er sich an Marino. »Sagen Sie Dr. Scarpetta die Wahrheit. Jemand muss es ja tun.«

Dann geht er zur Tür hinaus und knallt sie hinter sich zu.

Einen Moment herrscht beklommenes Schweigen. »Tja, das war ein ziemlicher Auftritt«, meint Dr. Marcus dann zu Special Agent Weber. »Ich muss Sie um Verzeihung bitten.«

»Hat er Probleme mit den Nerven?«, erkundigt sie sich.

»Hast du mir etwas mitzuteilen?« Scarpetta sieht Marino an und ist mehr als verärgert darüber, dass er möglicherweise über wichtige Informationen verfügt und sich bis jetzt nicht die Mühe gemacht hat, sie ihr gegenüber zu erwähnen. Sie fragt sich, ob er es einfach vergessen hat, weil er die ganze Nacht unterwegs war.

»Soweit ich gehört habe«, antwortet er, »interessiert sich das FBI für die kleine Gilly, weil ihr Vater gewissermaßen für das Amt für Heimatschutz spitzelt. Er arbeitet in Charleston und gibt angeblich Informationen über Piloten weiter, die möglicherweise mit den Terroristen sympathisieren. Da dort unten die größte Flotte von C-17-Transportflugzeugen des ganzen Landes stationiert ist und bei jedem Knall etwa einhundertfünfundachtzig Millionen Dollar beim Teufel wären, macht man sich ziemliche Sorgen deswegen. Es wäre doch ein Jammer, wenn so ein Terrorist plötzlich mit dem Flugzeug mitten auf diese Flotte krachen würde.«

»Ich würde Ihnen raten, jetzt den Mund zu halten«, sagt Special Agent Weber. Ihre Finger sind immer noch auf dem Notizblock verschränkt, doch die Knöchel sind weiß. »Dieses Thema ist nicht Ihre Sache.«

»Aber ich stecke doch schon mitten drin«, gibt er zurück, nimmt die Baseballkappe ab und fährt mit der Hand über die Stoppeln, die auf seinem ansonsten kahlen Schädel wachsen. »Tut mir Leid, ich bin spät ins Bett gekommen und hatte keine Zeit mehr, mich zu rasieren.« Als er sein stoppeliges Kinn reibt, erzeugt das ein Geräusch, als würde er über Sandpapier streichen. »Ich, Eise von der Kriminaltechnik und Detective Browning hatten einen gemütlichen Abend im Polizeiclub. Anschließend habe ich noch ein paar Gespräche geführt, auf die ich aus Gründen der Vertraulichkeit hier nicht näher eingehen möchte.«

»Am besten sind Sie jetzt still«, warnt Special Agent Weber, als wäre Reden ein neuer Straftatbestand, für den sie ihn verhaften könnte. Möglicherweise wertet sie sein Verhalten als Landesverrat.

»Mir wäre es lieber, wenn du weitersprichst«, fordert Scarpetta ihn auf.

»Das FBI und das Amt für Heimatschutz haben nicht gerade ein freundschaftliches Verhältnis«, fährt Marino fort. »Schließlich haben die Heimatschützer einen großen Batzen des Budgets vom Justizministerium abgekriegt, und wir alle wissen ja, wie sehr das FBI am Geld hängt … Was habe ich da letztens gehört?« Er wirft Special Agent Weber einen kühlen Blick zu. »Etwa siebzig Lobbyisten drücken sich ständig am Capitol Hill herum und betteln um Geld, während Nullen wie Sie sich überall einmischen, sämtliche Fälle an sich reißen und am liebsten die ganze Welt übernehmen würden …«

»Warum hören wir uns das noch länger an?«, meint Special Agent Weber zu Dr. Marcus.

»Die Sache sieht folgendermaßen aus«, sagt Marino zu Scarpetta. »Das FBI schnüffelt Frank Paulsson schon seit einer Weile hinterher. Und es sind Gerüchte über ihn im Umlauf. Offenbar missbraucht er seine Stellung als Flugarzt, was insbesondere deshalb Besorgnis erregend ist, weil er als Spion für den Heimatschutz arbeitet. Und der wäre sicher nicht begeistert, wenn Paulsson eine Pilotin – insbesondere eine Militärpilotin – nach Erhalt einer Gegenleistung für flugtauglich erklärt. Dem FBI hingegen wäre nichts lieber, als dem Amt für Heimatschutz was am Zeug zu flicken und es als Idiotenhaufen hinzustellen. Und als die Gouverneurin es mit der Angst zu tun gekriegt und das FBI hinzugezogen hat, hatten Sie Ihren Fuß in der Tür.« Er sieht Special Agent Weber an. »Allerdings bezweifle ich, dass die Gouverneurin weiß, welche Laus sie sich da in den Pelz gesetzt hat. Wie ihr sicher nicht klar war, interpretiert das FBI Unterstützung nämlich so, dass man andere Bundesbehörden in den Dreck zieht. Mit anderen Worten: Hier geht es nur um Macht und Geld. Aber geht es das nicht immer?«

»Nein, nicht immer«, erwidert Scarpetta mit harter Stimme. Sie hat genug. »Hier geht es um eine Vierzehnjährige, die einen schmerzhaften und schrecklichen Tod gestorben ist. Es geht um den Mord an Gilly Paulsson.« Sie steht auf, klappt ihren Aktenkoffer zu, umfasst die ledernen Haltegriffe und blickt erst Dr. Marcus und dann Special Agent Weber an. »Und das ist auch das Thema, mit dem wir uns befassen sollten.«

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