3

Dr. Joel Marcus begrüßt Scarpetta mit einem steifen Lächeln, und sie schüttelt seine trockene, feingliedrige Hand. Sie schätzt ihn als einen Menschen ein, der ihr Gelegenheit geben könnte, ihn zu verachten. Aber bis auf diese düstere Vorahnung, die sie sofort tief in einem dunklen Winkel ihres Herzens ablegt, fühlt sie nichts.

Vor vier Monaten hat sie von seiner Existenz gehört, und zwar auf dieselbe Weise, wie sie das meiste erfährt, was mit ihrem früheren Leben in Virginia zu tun hat: durch puren Zufall. Sie saß gerade im Flugzeug und las USA Today, als ihr eine Meldung auffiel, in der es um Virginia ging. »Gouverneurin ernennt nach langer Suche neuen Chefpathologen …«, stand da. Endlich, nach vielen Jahren ohne einen oder nur mit einem kommissarischen Chefpathologen, hatte Virginia jetzt endlich einen gefunden. Scarpetta war während dieser endlosen, quälenden Suche nicht nach ihrer Meinung gefragt oder um Rat gebeten worden.

Hätte man sie gefragt, dann hätte sie zugegeben, dass sie den Mann nicht kannte. Darauf wäre die diplomatische Andeutung gefolgt, sie sei ihm sicher schon bei einem bundesweiten Kongress begegnet, könne sich aber an den Namen nicht erinnern. Gewiss sei er ein anerkannter forensischer Pathologe, hätte sie weiter erklärt, sonst würde man ihn auch wohl kaum zum Leiter der einflussreichsten gerichtsmedizinischen Behörde in den gesamten Vereinigten Staaten machen.

Doch als sie Dr. Marcus jetzt die Hand schüttelt und ihm in die kleinen kalten Augen blickt, stellt sie fest, dass er ihr absolut fremd ist. Er ist eindeutig weder jemals Mitglied eines bedeutenden Gremiums gewesen, noch hat er bei einem pathologischen, gerichtsmedizinischen oder forensischen Kongress referiert, bei dem sie anwesend war. Ansonsten würde sie sich an ihn erinnern. Namen vergisst sie hin und wieder, aber niemals ein Gesicht.

»Kay, endlich lernen wir uns kennen«, sagt er und beleidigt sie damit wieder, nur dass es diesmal schlimmer ist, weil sie sich persönlich gegenüberstehen.

Was sie am Telefon nur widerstrebend so gedeutet hat, lässt sich nun, als sie ihm in der Vorhalle des Gebäudes namens Biotech II begegnet, wo sie zuletzt als Chefpathologin tätig war, nicht mehr von der Hand weisen. Dr. Marcus ist ein kleiner, magerer Mann mit einem kleinen, mageren Gesicht und einem kleinen, mageren Kranz schmutzig grauer Haare hinten an seinem kleinen Kopf und sieht somit so aus, als hätte die Natur bei ihm am Material gespart. Er trägt eine altmodische schmale Krawatte, eine formlose graue Hose und Mokassins. Unter dem billigen weißen, durchgeknöpften Hemd, das ihm um den dünnen Hals schlottert, ist ein ärmelloses Unterhemd zu sehen. Der Hemdkragen ist schmuddelig und voller aufgerauter Knötchen.

»Gehen wir rein«, sagt er. »Ich fürchte, heute ist hier ziemlich viel los.«

Sie will ihm gerade erklären, dass sie nicht allein ist, als Marino aus der Herrentoilette kommt. Er zieht sich die schwarze Cargohose hoch und hat die LAPD-Kappe tief in die Stirn geschoben. Scarpetta stellt ihn vor und beschränkt sich dabei auf das Nötigste.

»Mr. Marino war früher bei der Polizei von Richmond und ist ein sehr erfahrener Ermittler«, sagt sie, während Dr. Marcus’ Miene sich verfinstert.

»Sie haben nicht erwähnt, dass Sie jemanden mitbringen wollten«, erwidert er barsch. Sie befinden sich in Scarpettas ehemaliger geräumiger Vorhalle aus Granit und Glasbausteinen, wo sie sich gerade angemeldet und dann zwanzig Minuten wie bestellt und nicht abgeholt herumgestanden und darauf gewartet hat, dass Dr. Marcus oder irgendjemand sonst sie zur Kenntnis nimmt. »Ich dachte, ich hätte klargestellt, dass es sich um eine äußerst sensible Situation handelt.«

»Hey, machen Sie sich keinen Kopf drüber. Ich bin sehr sensibel«, erwidert Marino laut.

Dr. Marcus tut so, als hätte er ihn nicht gehört, doch innerlich kocht er offenbar. Scarpetta kann förmlich spüren, wie seine Wut die Luft im Raum verdrängt.

»Im Jahrbuch meiner Abschlussklasse hieß es über mich: ›Wird aller Wahrscheinlichkeit nach sehr sensibel werden‹«, fügt Marino nicht weniger laut hinzu. »Hey, Bruce!«, ruft er dann einem uniformierten Wachmann zu, der gerade aus der Asservatenkammer in die Vorhalle tritt. »Wie geht’s, wie steht’s, Mann? Spielst du immer noch Bowling bei den Pin Heads, diesen Versagern?«

»Habe ich es nicht erwähnt?«, meint Scarpetta. »Das tut mir aber Leid.« Sie hat es wirklich nicht erwähnt, bedauert das allerdings nicht im Geringsten. Wenn sie zu einem Fall hinzugezogen wird, kann sie mitbringen, wen und was sie will.

Bruce, der Wachmann, wirkt überrascht. »Marino! Heiliger Strohsack, bist du es wirklich? Oder ein Geist aus der Vergangenheit?«

»Nein, haben Sie nicht«, antwortet Dr. Marcus Scarpetta. Kurz scheint er aus dem Konzept gebracht, und seine Verunsicherung ist so deutlich wahrnehmbar wie das Flügelschlagen eines aufgeschreckten Vogelschwarms. »Ich weiß nicht, ob ich das gestatten kann. Es liegt keine Genehmigung vor.«

»Mann, na klar bin ich’s und kein Geist«, ruft Marino so laut wie möglich.

»Wie lange bleibst du in der Stadt?«

»So lange wie nötig, Mann.«

Es war ein Fehler, und zwar ein schwer wiegender, denkt Scarpetta. Ich hätte doch nach Aspen fahren sollen.

»Komm vorbei, wenn du mal Zeit hast.«

»Klar, Kumpel.«

»Jetzt reicht es«, zischt Dr. Marcus. »Wir sind hier nicht in einer Bar.«

Er trägt einen Generalschlüssel zu seinem Königreich an einer Kordel um den Hals und muss sich bücken, um die Magnetkarte an den Infrarotscanner neben einer Tür aus Milchglas zu halten. Dahinter befindet sich der Gebäudeflügel, in dem die Gerichtsmedizin untergebracht ist. Scarpettas Mund ist trocken. Sie schwitzt unter den Achseln und hat ein hohles Gefühl im Magen, als sie diese Abteilung des modernen Gebäudes betritt, an dessen Planung und Finanzierung sie selbst beteiligt und in das sie kurz vor ihrer Kündigung eingezogen war. Das elegante dunkelblaue Sofa mit passendem Sessel, der Couchtisch aus Holz und das Gemälde an der Wand, das eine ländliche Szene darstellt, sind noch dieselben. Im Empfangsbereich hat sich nichts geändert, nur dass die beiden Maispflanzen und die vielen Malven verschwunden sind. Sie hat sich hingebungsvoll um ihre Pflanzen gekümmert, sie gegossen, die abgestorbenen Blätter entfernt und sie umgestellt, wenn sich die Lichtverhältnisse mit den Jahreszeiten änderten.

»Ich fürchte, Sie können keinen Gast mitbringen«, entscheidet Dr. Marcus, als sie vor einer weiteren verschlossenen Tür stehen. Diese führt in die Verwaltungsbüros und ins Leichenschauhaus, ins Allerheiligste also.

Wieder wirkt seine Magnetkarte als Sesam-öffne-dich, und die Tür springt mit einem Klicken auf. Er tritt zuerst ein und geht schnell weiter. Das Neonlicht spiegelt sich in den Gläsern seiner kleinen Metallbrille. »Ich bin im Stau stecken geblieben und jetzt spät dran. Wir haben ein volles Haus. Acht Fälle«, fährt er fort, wobei er sich nur an Scarpetta wendet, als wäre Marino nicht vorhanden. »Ich muss sofort in eine Mitarbeiterbesprechung. Wahrscheinlich ist es das Beste, Kay, wenn Sie währenddessen einen Kaffee trinken. Es könnte eine Weile dauern. Julie?«, ruft er einer Sekretärin zu, die unsichtbar hinter einer Trennwand sitzt und die Tastatur ihres Computers unter den Fingern klappern lässt wie Kastagnetten. »Wären Sie so nett, unseren Gästen zu zeigen, wo sie einen Kaffee bekommen?« Dann wendet er sich wieder an Scarpetta: »Machen Sie es sich einfach in der Bibliothek gemütlich. Ich kümmere mich um Sie, sobald ich kann.«

Die Höflichkeit unter Kollegen würde zumindest gebieten, eine forensische Pathologin, die auf Besuch ist, bei der Mitarbeitersitzung und im Leichenschauhaus willkommen zu heißen, insbesondere dann, wenn sie dem gerichtsmedizinischen Institut, dem sie einst vorgestanden hat, kostenlos ihre Beraterdienste zur Verfügung stellt. Dr. Marcus’ Verhalten ist ein Schlag ins Gesicht. Er könnte Scarpetta genauso gut gebeten haben, seine Wäsche in die Reinigung zu bringen oder auf dem Parkplatz auf ihn zu warten.

»Ich fürchte, Ihr Gast darf sich nicht hier aufhalten«, stellt er noch einmal klar und blickt sich dabei ungeduldig um. »Julie, und könnten Sie diesen Herrn davor noch zurück in die Vorhalle begleiten?«

»Er ist nicht mein Gast, und er wartet auch nicht in der Vorhalle«, sagt Scarpetta mit ruhiger Stimme.

»Pardon?« Dr. Marcus dreht ihr sein kleines, mageres Gesicht zu.

»Wir sind zusammen hier.«

»Vielleicht verstehen Sie die Situation nicht ganz«, sagt er spitz.

»Mag sein. Also reden wir darüber.« Das ist keine Bitte.

Dr. Marcus zuckt merklich zusammen. »Meinetwegen«, gibt er dann nach. »Setzen wir uns kurz in die Bibliothek.«

»Entschuldigst du uns einen Augenblick?« Sie lächelt Marino zu.

»Kein Problem.« Er geht zu Julies Schreibtisch, greift nach einem Stapel Autopsiefotos und lässt sie durch die Finger gleiten wie Spielkarten. Dann schnippt er ein Foto zwischen Zeigefinger und Daumen hervor wie ein Croupier am Blackjack-Tisch. »Wissen Sie, warum Drogendealer weniger Körperfett haben als, sagen wir mal, Sie oder ich?« Er lässt das Bild auf ihre Tastatur fallen.

Julie, die höchstens fünfundzwanzig und recht attraktiv, aber ein bisschen pummelig ist, starrt auf das Foto eines muskulösen jungen Schwarzen, der so nackt ist wie am Tag seiner Geburt. Mit aufgeklapptem Brustkorb liegt er ausgehöhlt auf einem Autopsietisch; seine Organe sind verschwunden, bis auf ein auffällig großes, vermutlich sein allerwichtigstes, als er sich noch lebendig genug fühlte, um es einzusetzen. »Wie bitte?«, fragt Julie. »Sie wollen mich auf den Arm nehmen, stimmt’s?«

»Ich bin so ernsthaft wie ein Herzinfarkt.« Marino zieht einen Stuhl heran und setzt sich neben sie, und zwar sehr dicht. »Schauen Sie, Schätzchen, der Körperfettanteil steht in direktem Zusammenhang mit dem Gewicht des Gehirns. Denken Sie nur mal an uns beide. Es ist ein ständiger Kampf, richtig?«

»Das können Sie laut sagen. Und Sie glauben wirklich, dass kluge Leute eher dick werden?«

»Das ist eine Tatsache.«

»Und was halten sie von diesen Leuten, die behaupten, man könne essen, was man will, solange es nicht weiß ist.«

»Sie haben’s erfasst, Baby, davon halte ich sehr viel. Ich fasse nichts Weißes an, abgesehen von Frauen. Aber wenn ich ein Drogendealer wäre, könnte mir das alles scheißegal sein. Ich würde in mich reinstopfen, worauf ich Lust hätte. Plätzchen, Kuchen, Weißbrot mit Marmelade. Und das läge daran, dass ich kein Hirn hätte, stimmt’s? Wissen Sie, die toten Drogendealer sind deshalb tot, weil sie dumm sind. Und deshalb haben sie kein Körperfett und können so viel weißes Zeug essen, wie sie wollen.«

Ihre Stimmen und ihr Gelächter werden leiser, als Scarpetta einem Flur folgt, der ihr so vertraut ist, dass sie sich sogar an das Geräusch des grauen Teppichbodens unter ihren Schuhen erinnert und noch genau weiß, wie sich dieser kleinmaschige Belag anfühlt, den sie bei der Planung des Gebäudeteils selbst ausgesucht hat.

»Sein Benehmen ist wirklich ausgesprochen unpassend«, sagt Dr. Marcus gerade. »An einem Ort wie diesem setze ich etwas mehr Pietät voraus.«

Die Wände wirken abstoßend, und die Norman-Rockwell-Drucke, die Scarpetta selbst gekauft und gerahmt hat, hängen schief. Zwei fehlen. Als sie im Vorbeigehen durch die offenen Türen in die Büros schaut, bemerkt sie schlampig aufgestapelte Akten, Mappen mit Objektträgern und Röhrenmikroskope, die wie große, müde graue Vögel auf überfüllten Schreibtischen kauern. Jeder Anblick und jedes Geräusch strecken sich ihr entgegen wie flehende Hände, und tief in ihrem Innersten spürt sie, was hier verloren gegangen ist. Das schmerzt sie mehr, als sie es je für möglich gehalten hätte.

Nach einer Rechtskurve bleiben sie nicht am Kaffeeautomaten stehen; stattdessen öffnet Dr. Marcus eine massive Holztür, die in die Bibliothek führt. Scarpetta wird von medizinischen Fachbüchern begrüßt, die verlassen auf langen Tischen liegen. Andere Nachschlagewerke stehen windschief wie Betrunkene in den Regalen. Der riesige hufeisenförmige Tisch ist eine Müllkippe, die aus Zeitschriften, Zetteln, schmutzigen Kaffeebechern und sogar einer Schachtel besteht, die einmal Doughnuts enthalten hat. Mit klopfendem Herzen sieht sie sich um. Sie hat diesen großzügig geschnittenen Raum selbst entworfen und war stolz darauf, wie viel Geld sie dabei gespart hat, denn medizinische und wissenschaftliche Fachbücher und eine Bibliothek, um sie aufzubewahren, sind ein ausgesprochen teures Vergnügen und sprengen eigentlich den Rahmen dessen, was der Staat in eine Behörde, deren Kundschaft keine Steuern mehr zahlt, investieren möchte. Scarpettas Aufmerksamkeit bleibt an den Bänden von Greenfields Neuropathology und den juristischen Fachzeitschriften hängen, die sie aus ihrer eigenen Sammlung gespendet hat. Die Bände sind nicht in der richtigen Reihenfolge. Einer steht sogar auf dem Kopf. Allmählich wird sie wütend.

Sie blickt Dr. Marcus an. »Ich glaube, wir sollten zuerst ein paar Regeln festlegen«, sagt sie.

»Was meinen Sie damit, Kay? Welche Regeln?«, gibt er mit einem verdatterten Stirnrunzeln zurück, das aufgesetzt und ärgerlich zugleich ist.

Sie findet seine unverhohlene Gönnerhaftigkeit unfassbar. Er erinnert sie an einen Verteidiger, und zwar einen schlechten, der das Gewicht ihres Gutachtens abschwächen will, indem er ihre siebzehn Jahre lange Ausbildung an der Universität unterschlägt und sie im Zeugenstand auf »Ma’am«, »Mrs.«, »Ms.« oder – was das Schlimmste ist – »Kay« reduziert.

»Ich habe das Gefühl, dass es gegen meine Anwesenheit hier gewisse Widerstände gibt …«, beginnt sie.

»Widerstände? Ich fürchte, das verstehe ich nicht ganz.«

»Ich denke schon …«

»Lassen wir die Unterstellungen.«

»Bitte fallen Sie mir nicht ins Wort, Dr. Marcus. Ich bin freiwillig hier.« Als sie den zugemüllten Tisch und die lieblos behandelten Bücher betrachtet, fragt sie sich, ob er mit seinen eigenen Besitztümern auch so nachlässig umgeht. »Was in Gottes Namen ist denn hier passiert?«

Er schweigt einen Moment, als brauchte er Zeit, um zu begreifen, was sie meint. »Die Medizinstudenten von heute«, erwidert er dann gleichmütig. »Wahrscheinlich hat ihnen nie jemand beigebracht, hinter sich aufzuräumen.«

»Haben die sich in fünf Jahren wirklich so verändert?«, fragt sie spöttisch.

»Vielleicht missdeuten Sie mein Verhalten«, wechselt er jetzt in denselben einschmeichelnden Tonfall wie gestern am Telefon. »Zugegeben, ich habe ziemlich viel um die Ohren, aber ich freue mich trotzdem sehr, dass Sie hier sind.«

»Sie wirken aber nicht sehr erfreut.« Sie fixiert ihn mit Blicken, während er standhaft an ihr vorbeischaut. »Zunächst möchte ich Folgendes klarstellen: Nicht ich habe Sie angerufen, sondern Sie mich. Warum?« Das hätte ich eigentlich schon gestern fragen sollen, denkt sie sich.

»Ich habe geglaubt, ich hätte mich klar ausgedrückt, Kay. Sie sind eine sehr angesehene forensische Pathologin und genießen als Beraterin einen guten Ruf.« Es klingt wie eine abgedroschene Empfehlung für jemanden, den er insgeheim eigentlich nicht ausstehen kann.

»Wir kennen uns nicht. Wir sind uns nie begegnet. Und es fällt mir schwer zu glauben, dass Sie mich angerufen haben, weil ich anerkannt bin und einen guten Ruf habe.« Sie hat die Arme verschränkt und ist froh, dass sie einen streng wirkenden dunklen Hosenanzug trägt. »Ich mag solche Spielchen nicht, Dr. Marcus.«

»Und ich habe ganz gewiss keine Zeit dafür.« Jede Spur von geheuchelter Herzlichkeit ist auf einmal wie weggeblasen, und engstirnige Verbissenheit blitzt auf wie eine scharfe Klinge.

»Hat man Sie angewiesen, mich anzurufen?« Sie wittert Politik.

Er schaut zur Tür, ein Wink mit dem Zaunpfahl, dass er ein beschäftigter und wichtiger Mann ist, auf den acht Fälle und eine Mitarbeitersitzung warten. Vielleicht befürchtet er auch, jemand könnte sie belauschen. »Das bringt uns nicht weiter«, sagt er. »Ich halte es für das Beste, dieses Gespräch zu beenden.«

»Gut.« Sie greift nach ihrem Aktenkoffer. »Ich habe nicht die geringste Lust, mich wie eine Schachfigur herumschieben zu lassen. Und auch nicht, den halben Tag lang in irgendeinem Hinterzimmer Kaffee zu trinken. Für jemanden, die nicht offen mit mir ist, kann ich nicht arbeiten. Und meine Regel Nummer eins lautet, Dr. Marcus, dass Offenheit die Grundvoraussetzung darstellt, wenn man mich um Hilfe bittet.«

»Meinetwegen. Wenn Sie Offenheit wollen, bitte sehr.« Sein herrischer Tonfall kann seine Furcht nicht verbergen. Er will nicht, dass sie geht. Eindeutig nicht. »Offen gesagt war es nicht meine Idee, Sie hinzuzuziehen. Offen gesagt wollte der Gesundheitsminister eine Meinung von außen hören und ist irgendwie auf Sie gekommen«, erklärt er, als sei ihr Name aus einem Hut gezogen worden.

»Dann hätte er mich selbst anrufen sollen«, erwidert sie. »Das wäre aufrichtiger gewesen.«

»Ich habe ihm angeboten, das zu übernehmen. Offen gesagt wollte ich nicht, dass Sie sich unter Druck gesetzt fühlen«, entgegnet er, und je öfter er die Phrase »offen gesagt« in den Mund nimmt, desto weniger glaubt sie ihm. »Es geht um Folgendes: Dr. Fielding konnte weder Todesursache noch Todesart Gilly Paulssons feststellen, und deshalb hat sich der Vater des Mädchens an den Gesundheitsminister gewandt.«

Sie zuckt zusammen, als Dr. Fieldings Name fällt. Sie wusste nicht, ob er noch hier arbeitet, und hat auch nicht danach gefragt.

»Und wie ich schon sagte, hat der Gesundheitsminister daraufhin mich angerufen. Er sagte, er wolle eine Untersuchung mit allen Schikanen. Das waren seine Worte.«

Der Vater muss ziemlich großen Einfluss haben, denkt Scarpetta. Anrufe von aufgebrachten Familienangehörigen sind keine Seltenheit, führen jedoch kaum jemals dazu, dass ein hochrangiges Regierungsmitglied die Hinzuziehung eines Experten von außen verlangt.

»Kay, ich kann verstehen, wie unangenehm das alles für Sie sein muss«, sagt Dr. Marcus. »Auch ich wäre nicht gern in Ihrer Situation.«

»In welcher Situation bin ich Ihrer Meinung nach, Dr. Marcus?«

»Es ist nie einfach, zurückzukommen. Sie haben Mut. Das muss ich Ihnen lassen. Ich glaube, ich wäre nicht so großzügig gewesen, wenn ich mich von meinem früheren Arbeitgeber ungerecht behandelt gefühlt hätte. Also kann ich gut verstehen, dass Sie so empfinden.«

»Es geht nicht um mich«, erwidert sie. »Sondern um eine tote Vierzehnjährige. Und um Ihre Behörde – ja, eine Behörde, die mir gut vertraut ist, aber …«

Er fällt ihr ins Wort. »Sie haben eine sehr abgeklärte Haltung …«

»Lassen Sie mich das Offensichtliche feststellen«, unterbricht sie ihn. »Wenn ein Kind stirbt, schreibt ein Bundesgesetz vor, dass dieser Todesfall eingehend untersucht wird, um nicht nur Ursache und Art des Todes zu ermitteln, sondern auch, ob der Fall im Zusammenhang mit anderen, ähnlich gelagerten Ereignissen steht. Sollte sich herausstellen, dass Gilly Paulsson ermordet wurde, wird man jeden Winkel Ihrer Behörde gründlich unter die Lupe nehmen und sämtliche Details ans Licht der Öffentlichkeit zerren. Außerdem wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich in Gegenwart Ihrer Mitarbeiter und Kollegen nicht Kay nennen würden. Eigentlich wäre es mir das Liebste, wenn Sie das überhaupt ließen.«

»Vermutlich möchte der Gesundheitsminister Schadensbegrenzung betreiben«, sagt Dr. Marcus, als wäre ihre Bitte, sie nicht Kay zu nennen, nie ausgesprochen worden.

»Ich bin nicht bereit, mich an einer wie auch immer gearteten Show für die Medien zu beteiligen«, stellt sie klar. »Als Sie gestern anriefen, war ich damit einverstanden, zu tun, was ich kann, um herauszufinden, was Gilly Paulsson zugestoßen ist. Und das ist unmöglich, wenn Sie nicht absolut offen zu mir und den Menschen sind, die ich zu meiner Unterstützung mitbringe. Und in diesem Fall ist das Pete Marino.«

»Offen gesagt dachte ich nicht, dass Sie große Lust haben, einer Mitarbeitersitzung beizuwohnen.« Wieder schaut er auf die Uhr, eine alte Armbanduhr mit einem schmalen Lederarmband. »Aber wie Sie wollen. Bei uns gibt es keine Geheimnisse. Später gehe ich mit Ihnen den Fall Paulsson durch. Wenn Sie möchten, können Sie sie noch einmal obduzieren.«

Als er Scarpetta die Tür der Bibliothek aufhält, starrt sie ihn ungläubig an.

»Ihre Leiche wurde noch nicht an die Familie freigegeben, obwohl sie schon zwei Wochen tot ist?«, fragt sie.

»Angeblich stehen sie zu sehr unter Schock, um die nötigen Schritte einzuleiten«, erwidert er. »Vielleicht hoffen sie auch einfach, dass wir die Beerdigung bezahlen.«

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