31

Ein kalter und heftiger Regen fällt, als Scarpetta am Straßenrand hält und vor Suzanna Paulssons Haus parkt. Mit laufendem Motor bleibt sie eine Weile im Wagen sitzen. Die Scheibenwischer gleiten hin und her, während sie den unebenen, mit Backsteinen gepflasterten Weg betrachtet, der zu der schiefen Veranda führt. Sie stellt sich vor, wie Marino letzte Nacht dort entlanggegangen ist. Weitere Details braucht sie sich nicht auszumalen.

Er hat ihr mehr verraten, als er glaubt. Und was sie gesehen hat, war schlimmer, als sie sich hat anmerken lassen. Auch wenn er meint, ihr nicht jede Einzelheit anvertraut zu haben, weiß sie genug. Sie schaltet die Scheibenwischer ab und sieht zu, wie die Regentropfen gegen das Glas prallen und daran herunterlaufen. Inzwischen regnet es so kräftig, dass sie nur noch ein beständiges Prasseln hört und das Wasser auf der Windschutzscheibe aussieht wie Wellen aus Eis. Suzanna Paulsson ist zu Hause. Ihr Minivan steht am Straßenrand, und im Haus brennt Licht. Bei diesem Wetter ist sie sicher nicht zu Fuß unterwegs.

In Scarpettas Mietwagen gibt es keinen Regenschirm, und sie hat keinen Hut dabei. Als sie aussteigt, wird das Prasseln schlagartig lauter, und der Regen peitscht ihr ins Gesicht, während sie die alten, glitschigen Backsteine entlanghastet, die zum Haus eines toten Mädchens mit einer sexuell gestörten Mutter führen. Vielleicht ist das Urteil »sexuell gestört« ja übertrieben. Scarpetta geht in sich, aber sie ist viel wütender, als Marino ahnt. Möglicherweise ist ihm gar nicht klar, wie wütend sie ist, aber sie kocht innerlich, und Mrs. Paulsson wird gleich eine Kostprobe davon zu spüren kriegen. Scarpetta klopft nachdrücklich mit der Messingananas an die Eingangstür und überlegt, was sie tun soll, wenn die Frau sich weigert aufzumachen oder wenn sie – wie Fielding – so tut, als wäre sie nicht zu Hause. Wieder klopft sie mit der Ananas an, diesmal langsamer und fester.

Wegen des Unwetters nähert sich die Dunkelheit rasch wie eine Wand aus schwarzer Tinte. Scarpetta kann ihren eigenen Atem sehen, als sie im Platzregen auf der Veranda steht und immer wieder anklopft. Ich bleibe einfach hier, denkt sie. Du kannst dich nicht drücken. Glaube bloß nicht, dass ich mich umdrehe und einfach weggehe. Sie nimmt ihr Mobiltelefon und einen Zettel aus der Manteltasche und wirft einen Blick auf die Nummer, die sie sich bei ihrem gestrigen Besuch hier notiert hat. Damals, als sie noch ruhig und freundlich mit dieser Frau gesprochen und Mitleid mit ihr gehabt hat. Sie wählt und hört, wie drinnen im Haus das Telefon läutet. Dann lässt sie wieder die Ananas gegen die Tür krachen. Es ist ihr egal, ob der Türklopfer dabei kaputtgeht.

Nach einer weiteren Minute wählt sie noch einmal. Drinnen läutet und läutet das Telefon, und sie hängt ein, bevor der Anrufbeantworter anspringt. Du bist da, denkt sie. Also tu nicht so, als wärst du es nicht. Scarpetta tritt von der Tür zurück und betrachtet die erleuchteten Fenster an der Vorderfront des kleinen Backsteinhauses. Die zarten weißen Vorhänge sind zugezogen und werden von innen von einem weichen, warmen Licht erhellt. Sie sieht eine menschliche Silhouette am Fenster vorbeihuschen, die innehält und dann kehrtmacht und verschwindet.

Wieder klopft sie an die Tür und wählt dann noch einmal die Nummer. Als erneut der Anrufbeantworter anspringt, bleibt Scarpetta am Apparat und sagt: »Mrs. Paulsson, hier spricht Dr. Kay Scarpetta. Bitte machen Sie die Tür auf. Es ist sehr wichtig. Ich stehe vor Ihrem Haus. Ich weiß, dass Sie da sind.« Sie beendet das Telefonat und klopft wieder. Der Schatten erscheint, diesmal am Fenster links von der Tür. Dann geht die Tür auf.

»Ach, du meine Güte!«, ruft Mrs. Paulsson in gespieltem Erstaunen – allerdings nicht sehr überzeugend – aus. »Ich wusste nicht, wer es ist. Was für ein Unwetter! Kommen Sie rein, Sie sind ja ganz nass. Ich mache nie auf, wenn ich nicht weiß, wer draußen steht.«

Scarpetta tritt tropfend ins Wohnzimmer und zieht den langen, dunklen klatschnassen Mantel aus. Kaltes Wasser rinnt aus ihrem Haar. Als sie die feuchten Strähnen aus dem Gesicht schiebt, bemerkt sie, dass es so nass ist, als käme sie gerade aus der Dusche.

»Mein Gott, Sie werden sich noch eine Lungenentzündung holen«, sagt Mrs. Paulsson. »Aber was rede ich. Schließlich sind Sie die Ärztin. Kommen Sie in die Küche, ich gebe Ihnen etwas Warmes zu trinken.«

Scarpetta sieht sich im winzigen Wohnzimmer um. Sie betrachtet die kalte Asche und die verkohlten Holzscheite im Kamin, das karierte Sofa unter dem Fenster und die Türen auf beiden Seiten des Wohnzimmers, die in andere Teile des Hauses führen. Als Mrs. Paulsson bemerkt, was Scarpetta da tut, tritt ein harter Ausdruck in ihr Gesicht, das fast hübsch, aber auch billig und derb wirkt.

»Warum sind Sie hier?«, fragt Mrs. Paulsson mit veränderter Stimme. »Was wollen Sie? Ich dachte, es wäre wegen Gilly, aber jetzt merke ich, dass es offenbar nicht so ist.«

»Ich bin nicht sicher, ob überhaupt je ein Mensch wegen Gilly hier war«, entgegnet Scarpetta. Sie steht mitten im Wohnzimmer, hinterlässt Pfützen auf dem Parkett und schaut sich unverhohlen um.

»Sie haben nicht das Recht, so was zu sagen«, zischt Mrs. Paulsson. »Ich glaube, Sie sollten jetzt besser gehen. Leute wie Sie will ich nicht in meinem Haus haben.«

»Ich bleibe. Rufen Sie doch die Polizei, wenn Sie möchten. Aber ich werde erst verschwinden, nachdem wir uns über die letzte Nacht unterhalten haben.«

»Ich sollte wirklich die Polizei verständigen. Nach dem, was dieses Ungeheuer mir angetan hat. So viel habe ich durchgemacht, und dann kommt jemand, nutzt das aus und hält sich an einem trauernden Menschen wie mir schadlos. Ich hätte es wissen müssen. Er sieht ganz danach aus.«

»Nur zu«, erwidert Scarpetta. »Rufen Sie ruhig die Polizei. Ich habe auch eine Geschichte zu erzählen, und zwar eine ziemlich spannende. Wenn es Sie nicht stört, schaue ich mich jetzt ein bisschen um. Ich weiß, wo Gillys Zimmer und die Küche sind. Und wenn ich durch diese Tür gehe und mich links anstatt rechts halte, komme ich vermutlich in Ihr Schlafzimmer.« Mit diesen Worten marschiert sie los.

»Sie können nicht einfach in meinem Haus herumspazieren«, protestiert Mrs. Paulsson. »Hauen Sie ab, und zwar ein bisschen plötzlich! Sie haben keinen Grund, hier herumzuschnüffeln.«

Das Schlafzimmer ist nur unwesentlich größer als das Zimmer von Gilly. Es ist mit einem Doppelbett mit antiken Nachtkästchen aus Walnussholz zu beiden Seiten und zwei an die Wand gedrängten Kommoden möbliert. Eine Tür führt in ein kleines Badezimmer, eine andere in einen Wandschrank. Und dort, deutlich sichtbar auf dem Boden, steht ein Paar schwarzer Kampfstiefel aus Leder. Scarpetta wühlt in ihrer Jackentasche und holt ein Paar Baumwollhandschuhe heraus, die sie überstreift, während sie in der Tür des Wandschranks steht und die Stiefel betrachtet. Sie lässt den Blick über die hängenden Kleidungsstücke gleiten, macht auf dem Absatz kehrt und geht ins Bad. Über den Badewannenrand ist ein Tarn-T-Shirt gebreitet.

»Er hat Ihnen wohl ein Märchen aufgetischt«, sagt Mrs. Paulsson vom Fußende des Bettes aus. »Und Sie glauben ihm. Wir werden ja sehen, was die Polizei von der Sache hält. Ich denke nicht, dass sie Ihnen beiden Ihre Geschichte abkauft.«

»Wie oft haben Sie Soldat gespielt, wenn Ihre Tochter dabei war?«, fragt Scarpetta und blickt ihr in die Augen. »Offenbar hatte Frank Spaß daran. Haben Sie das Spiel von ihm gelernt? Oder haben Sie diese hässliche kleine Perversion selbst erfunden? Wie oft haben Sie es in Gillys Gegenwart getan, und wer war sonst noch dabei, während Gilly im Haus war? Gruppensex? Haben Sie das mit ›sie‹ gemeint? Andere Leute, die das Spiel mit Ihnen und Frank gespielt haben?«

»Wie können Sie es wagen, mir so etwas zu unterstellen!«, empört sie sich, und ihr Gesicht verzerrt sich vor Abscheu und Wut. »Davon weiß ich nichts.«

»Ach, zurzeit sind eine ganze Menge Unterstellungen im Umlauf, und es wird wahrscheinlich noch einige mehr geben«, erwidert Scarpetta, nähert sich dem Bett und schlägt mit behandschuhter Hand die Decke zurück. »Macht nicht den Eindruck, als hätten Sie die Bettwäsche gewechselt. Sehr gut. Sehen Sie die Blutflecke hier auf diesem Lacken? Welche Summe sind Sie bereit zu wetten, dass es sich um Marinos Blut handelt, nicht um Ihres?« Sie sieht Mrs. Paulsson forschend an. »Denn im Gegensatz zu Ihnen hat Marino Verletzungen. Und das ist wirklich merkwürdig. Außerdem muss hier irgendwo ein blutiges Handtuch herumliegen.« Sie sieht sich um. »Kann sein, dass Sie es gewaschen haben, aber das spielt keine Rolle. Auch aus gewaschenen Stoffen können wir die nötigen Spuren sicherstellen.«

»Ich bin diejenige, die misshandelt wurde. Sie sind ja noch schlimmer als er«, protestiert Mrs. Paulsson, doch ihr Gesichtsausdruck hat sich verändert. »Von einer Frau hätte ich wirklich ein bisschen mehr Verständnis erwartet.«

»Verständnis für eine Person, die einem Menschen erst Verletzungen zufügt und ihn dann eines tätlichen Angriffs beschuldigt? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es auf diesem Planeten auch nur eine anständige Frau gibt, die dafür Verständnis hätte, Mrs. Paulsson.« Scarpetta will die Bettdecke herunterziehen.

»Was soll das? Das dürfen Sie nicht!«

»Ich tue es aber trotzdem.« Sie entfernt die Laken und rollt sie zusammen mit den Kissen in die Überdecke ein.

»Dazu haben Sie kein Recht. Sie sind nicht von der Polizei.«

»Ich bin noch viel schlimmer als jeder Polizist. Sie werden schon sehen.« Scarpetta legt das Bettwäschebündel auf die nackte Matratze. »Was jetzt?« Sie sieht sich um. »Auch wenn es Ihnen bei der heutigen Begegnung im Büro des Chefpathologen nicht aufgefallen ist, trug Marino dieselbe Hose wie gestern Nacht. Und dieselbe Unterwäsche. Den ganzen Tag, um genau zu sein. Vermutlich ist Ihnen bekannt, dass ein Mann, der Sex hat, zumindest kleine Spuren in der Unterhose und vielleicht sogar in seiner Hose hinterlässt. Aber das war nicht so. Es gab weder in seiner Unterhose noch in seiner Hose die geringsten Spuren, bis auf das Blut von den Verletzungen, die Sie ihm zugefügt haben. Außerdem wissen Sie offenbar nicht, dass man durch Ihre Vorhänge von außen sehen kann, ob Sie Besuch haben und ob es sich um eine tätliche Auseinandersetzung oder um ein Schäferstündchen handelt, vorausgesetzt, Sie können noch aufrecht stehen. Schwer zu sagen, was die Nachbarn von gegenüber beobachten konnten, wenn bei Ihnen noch Licht oder das Kaminfeuer brannte.«

»Vielleicht hat es zwischen uns beiden ja schön angefangen und ist dann aus dem Ruder gelaufen«, entgegnet Mrs. Paulsson, die offenbar eine Entscheidung getroffen hat. »Es war alles ganz unschuldig, nur ein Mann und eine Frau, die Spaß zusammen hatten. Kann sein, dass ich es ein bisschen übertrieben habe, weil ich enttäuscht von ihm war. Erst hat er mich scharf gemacht, und dann lief nichts. Er konnte nicht. Ein großer Mann wie er, und dann kriegt er keinen hoch.«

»Durchaus möglich, wenn Sie ihm ständig Bourbon nachgeschenkt haben«, merkt Scarpetta an, und sie ist ziemlich sicher, dass Marino dieser Frau nichts getan hat. Sie sieht nicht, wie das hätte möglich sein können. Das Problem ist nur, dass er immer noch befürchtet, er könnte Schuld auf sich geladen haben, weshalb ein Gespräch mit ihm ziemlich sinnlos wäre.

Scarpetta beugt sich in den Wandschrank und greift nach den Stiefeln. Als sie sie aufs Bett legt, sehen sie auf der nackten Matratze sehr groß und bedrohlich aus.

»Das sind Franks Stiefel«, sagt Mrs. Paulsson.

»Wenn Sie sie anhatten, werden wir Ihre DNS darin finden.«

»Die sind mir doch viel zu groß.«

»Sie haben mich gehört. Die DNS wird uns viel verraten.« Scarpetta geht ins Bad und holt das Tarn-T-Shirt. »Vermutlich gehört das ebenfalls Frank.«

Mrs. Paulsson schweigt.

»Wenn Sie möchten, können wir jetzt in die Küche gehen«, schlägt Scarpetta vor. »Etwas Warmes zu trinken wäre schön. Vielleicht Kaffee. Was für einen Bourbon haben Sie gestern Nacht getrunken? Eigentlich müssten Sie sich jetzt auch ziemlich elend fühlen, außer Sie haben sein Glas öfter nachgefüllt als Ihres. Marino geht es heute ausgesprochen miserabel. Er musste ärztlich behandelt werden.« Raschen Schrittes steuert Scarpetta auf den hinteren Teil des Hauses und die Küche zu.

»Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, dass er zum Arzt musste.«

»Er war beim Arzt?«

»Er wurde untersucht und fotografiert. Zentimeter um Zentimeter. Es geht ihm gar nicht gut«, antwortet Scarpetta. Als sie in die Küche kommt, bemerkt sie die Kaffeemaschine neben dem Spülbecken. Gleich daneben hat gestern noch die Hustensaftflasche gestanden, die jetzt verschwunden ist. Sie zieht die Baumwollhandschuhe aus und steckt sie wieder in die Jackentasche.

»Das geschieht ihm recht, nach dem, was er mir angetan hat.«

»Verschonen Sie mich mit Ihrer Geschichte«, meint Scarpetta und füllt die gläserne Kaffeekanne mit Leitungswasser. »Sie ist nämlich von Anfang an erlogen, und Sie können sich die Mühe sparen. Falls Sie Verletzungen haben, möchte ich die gerne sehen.«

»Wenn ich sie überhaupt jemandem zeige, dann nur der Polizei.«

»Wo haben Sie den Kaffee?«

»Keine Ahnung, was Sie sich da zusammenphantasieren, aber mit der Wahrheit hat es jedenfalls nichts zu tun«, entgegnet Mrs. Paulsson. Sie öffnet den Gefrierschrank und legt eine Tüte mit Kaffee neben die Kanne. Aus dem Küchenschrank holt sie einen Karton mit Filtern und überlässt es Scarpetta, sich selbst zu bedienen.

»In letzter Zeit scheint die Wahrheit Mangelware zu sein«, erwidert Scarpetta. Nachdem sie eine Filtertüte in die Kaffeemaschine gelegt hat, gibt sie mit einem kleinen Löffel, der sich in der Tüte befunden hat, Kaffee hinein. »Ich frage mich, woran es wohl liegen mag, dass es uns nicht gelingt, die wirklichen Hintergründe von Gillys Tod aufzudecken. Und nun ist es anscheinend auch nicht möglich, herauszufinden, was gestern Nacht tatsächlich passiert ist. Ich würde gerne hören, was Sie zum Thema Wahrheit zu sagen haben, Mrs. Paulsson. Deshalb habe ich mich heute Abend zu diesem Spontanbesuch entschlossen.«

»Ich möchte nicht über Pete sprechen«, gibt sie erbittert zurück. »Glauben Sie nicht, ich hätte es sonst inzwischen längst getan? Die Wahrheit ist, dass ich dachte, er hätte Spaß.«

»Spaß?« Scarpetta lehnt sich an eine Theke und verschränkt die Arme auf Taillenhöhe. »Wenn Sie so aussehen würden wie er heute, würden Sie vermutlich nicht von Spaß reden.«

»Sie können ja überhaupt nicht beurteilen, wie ich aussehe.«

»An Ihren Bewegungen erkenne ich, dass er Sie nicht verletzt hat. Vermutlich war er nach all dem Bourbon, den er intus hatte, nicht mehr zu allzu viel in der Lage. Das haben Sie mir gerade selbst bestätigt.«

»Haben Sie was mit ihm? Sind Sie deshalb hier?« Sie wirft Scarpetta einen verschlagenen Blick zu, und Neugier glimmt in ihren Augen auf.

»Ich habe zwar etwas mit ihm, aber das ist eine Sache, die Sie vermutlich niemals verstehen würden. Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass ich auch Anwältin bin? Interessiert es Sie, was mit Leuten passiert, die jemanden fälschlicherweise eines tätlichen Übergriffs oder einer Vergewaltigung bezichtigen? Waren Sie schon mal im Gefängnis?«

»Sie sind bloß eifersüchtig. Jetzt durchschaue ich Sie.« Mrs. Paulsson grinst selbstzufrieden.

»Jeder hat ein Recht auf seine Meinung. Aber vergessen Sie das Gefängnis nicht, Mrs. Paulsson. Denken Sie daran, was geschieht, wenn Sie Vergewaltigung schreien und alle Beweise Sie als Lügnerin bloßstellen.«

»Keine Sorge, das werde ich nicht tun«, sagt sie, und ihre Züge werden hart. »Mich vergewaltigt man nicht. Die sollen es nur versuchen. Was für ein Riesenbaby. Mehr kann ich über ihn nicht sagen. Ein Baby. Ich dachte, es könnte lustig mit ihm werden. Tja, das war wohl ein Irrtum. Sie können ihn behalten, Mrs. Doktor oder Anwältin oder was Sie auch sonst sein mögen.«

Als der Kaffee fertig ist, fragt Scarpetta, wo die Tassen stehen. Mrs. Paulsson nimmt zwei Tassen und zwei Löffel aus einem Schrank. Sie trinken Kaffee, und dann beginnt Mrs. Paulsson zu weinen. Sie beißt sich auf die Unterlippe. Tränen treten ihr aus den Augen und laufen über ihr Gesicht. Sie schüttelt den Kopf.

»Ich gehe nicht ins Gefängnis«, sagt sie.

»Mir wäre es auch lieber, wenn Sie nicht ins Gefängnis müssten«, erwidert Scarpetta und trinkt einen Schluck Kaffee. »Warum haben Sie das getan?«

»Was Menschen miteinander machen, ist persönlich.« Sie weicht ihrem Blick aus.

»Wenn Sie jemandem blutende Wunden und Blutergüsse zufügen, ist das nicht persönlich, sondern eine Straftat. Stehen Sie auf Sex mit Gewalt?«

»Anscheinend sind Sie ganz schön prüde«, entgegnet Mrs. Paulsson, schlendert zum Tisch und setzt sich. »Es gibt offenbar eine Menge Sachen, von denen Sie noch nie gehört haben.«

»Das könnte stimmen. Also erzählen Sie mir von Ihrem Spiel.«

»Fragen Sie ihn doch selbst.«

»Ich weiß, was Marino zu Ihrem Spiel zu sagen hat, zumindest dem von letzter Nacht.« Scarpetta trinkt einen Schluck Kaffee. »Sie machen das schon seit einer Weile, richtig? Hat es mit Ihrem Ex-Mann angefangen? Mit Frank?«

»Ich bin nicht verpflichtet, mit Ihnen zu reden«, erwidert sie, immer noch am Tisch sitzend. »Und ich sehe auch keinen Grund dazu.«

»Sie meinten, Frank könnte etwas über die Rose wissen, die wir in Gillys Kommode gefunden haben. Was sollte das heißen?«

Sie schweigt verstockt, sitzt mit wütender, hasserfüllter Miene am Tisch und umfasst die Kaffeetasse mit beiden Händen.

»Mrs. Paulsson, denken Sie, dass Frank Gilly etwas angetan hat?«

»Ich hab keine Ahnung, von wem die Rose ist«, sagt sie und starrt auf dieselbe Stelle an der Wand wie bei Scarpettas gestrigem Besuch. »Ich weiß nur, dass sie nicht von mir ist. Vorher war sie nicht da, wenigstens nicht in ihrem Zimmer, jedenfalls habe ich sie nicht dort gesehen. Und ich hatte erst am Tag zuvor Wäsche und andere Dinge in ihre Schubladen geräumt. Gilly war recht unordentlich, und ich musste ständig hinter ihr herräumen. Aber ich habe nie eine Rose gesehen. Sie hätte nie selbst etwas weggeräumt, und wenn es um ihr Leben gegangen wäre.« Mrs. Paulsson bricht ab und starrt wieder schweigend an die Wand.

Scarpetta wartet ab, ob sie etwas hinzufügen wird. Doch etwa eine Minute lang herrscht bedrückende Stille.

»Am schlimmsten war es in der Küche«, fährt Mrs. Paulsson schließlich fort. »Sie nahm Lebensmittel aus dem Kühlschrank und vergaß sie einfach auf der Anrichte. Sogar Eiscreme. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viel Essen ich wegwerfen musste.« Trauer malt sich in ihrem Gesicht. »Und Milch. Ständig habe ich Milch weggeschüttet, weil sie sie den halben Tag lang draußen stehen ließ.« Ihre Stimme hebt und senkt sich und beginnt zu zittern. »Wissen Sie, wie es ist, wenn man ununterbrochen hinter jemandem herräumt?«

»Ja«, erwidert Scarpetta. »Das ist einer der Gründe, warum ich geschieden bin.«

»Tja, Frank ist nicht viel besser«, meint sie und blickt ins Leere. »Bei den beiden war ich nur am Aufräumen.«

»Was, glauben Sie, könnte Frank Gilly angetan haben, falls es überhaupt so war?«, fragt Scarpetta, wobei sie sich Mühe gibt, die Frage so zu formulieren, dass die Antwort nicht einfach »ja« oder »nein« lauten kann.

Mrs. Paulsson schaut weiter starr an die Wand. »Auf seine Weise hat er sicher etwas getan.«

»Ich meine körperlich. Gilly ist tot.«

Ihre Augen füllen sich mit Tränen, die sie grob mit der Hand abwischt, während sie weiter an die Wand schaut. »Er war nicht da, als es passierte. Nicht im Haus, soviel ich weiß.«

»Als was passierte?«

»Während ich im Drugstore war. Was auch immer in dieser Zeit geschah.« Wieder wischt sie sich über die Augen. »Das Fenster war offen, als ich nach Hause kam. Als ich ging, war es zu gewesen. Keine Ahnung, ob sie es aufgemacht hat. Damit will ich nicht behaupten, dass es Frank war. Nur, dass er etwas damit zu tun hat. Alles, was in seine Nähe geriet, starb oder ging kaputt. Komisch, so etwas von einem Arzt sagen zu müssen. Wissen Sie, was ich meine?«

»Ich gehe jetzt, Mrs. Paulsson. Mir ist klar, dass dieses Gespräch nicht einfach für Sie war. Sie haben meine Mobilfunknummer. Wenn Ihnen noch etwas Wichtiges einfällt, würde ich mich über Ihren Anruf freuen.«

Sie nickt und bricht in Tränen aus.

»Vielleicht war zuvor noch jemand in diesem Haus, von dem wir wissen sollten. Jemand außer Frank. Vielleicht ein Mensch, den Frank eingeladen hat und den er kannte. Jemand, der das Spiel gespielt hat.«

Mrs. Paulsson steht nicht auf, als Scarpetta zur Tür geht.

»Überlegen Sie, ob Ihnen noch jemand einfällt«, wiederholt Scarpetta. »Gilly ist nicht an der Grippe gestorben. Wir müssen herausfinden, was genau ihr zugestoßen ist. Und wir werden es erfahren. Früher oder später. Ich glaube, früher wäre Ihnen lieber, oder?«

Mrs. Paulsson starrt nur an die Wand.

»Sie können mich jederzeit anrufen«, spricht Scarpetta weiter. »Ich gehe jetzt. Falls Sie etwas brauchen, melden Sie sich bei mir. Außerdem wäre es schön, wenn Sie ein paar große Müllsäcke dahätten.«

»Unter dem Spülbecken. Wenn sie für das sind, was ich glaube, können Sie sich die Mühe sparen«, murmelt sie.

Scarpetta öffnet das Unterschränkchen und zieht vier große Müllsäcke aus Plastik aus einem Karton. »Ich nehme sie trotzdem mit«, entgegnet sie. »Hoffentlich ist es wirklich überflüssig.«

Im Schlafzimmer sammelt sie die zusammengerollte Bettwäsche, die Stiefel und das T-Shirt ein und verstaut sie in den Müllsäcken. Dann zieht sie im Wohnzimmer den Mantel an und tritt wieder hinaus in den Regen. Sie trägt vier Säcke, zwei voller schwerer Bettwäsche und zwei, die nur jeweils ein T-Shirt und ein Paar Stiefel enthalten. Kaltes Wasser spritzt hoch und durchweicht ihre Schuhe, als sie in die Pfützen auf dem Backsteinweg tritt, und halb gefrorener Regen prasselt auf sie herab.

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