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Du solltest es ihm sagen«, meint Marino. »Auch wenn es nicht so kommt, wie du gedacht hast, sollte er wissen, was los ist.«

»So gehen Menschen in die Irre«, erwidert Scarpetta.

»Oder sie gewinnen einen Vorsprung.«

»Diesmal nicht«, entgegnet sie.

»Du bist der Boss, Doc.«

Marino liegt auf dem Bett im Marriott in der Broad Street. Scarpetta sitzt in demselben Sessel wie vorhin, hat ihn aber näher herangerückt. In dem weiten weißen Baumwollpyjama, den sie ihm in einem Kaufhaus südlich vom Fluss gekauft hat, sieht er riesig, aber weniger bedrohlich aus. Seine Wunden unter dem dünnen, weichen Stoff sind mit dunkelorangenem Betadine bestrichen. Er behauptet, es täte schon viel weniger weh. Sie hat den schlammigen dunkelblauen Hosenanzug mit einer braunen Cordhose, einem dunkelblauen Rollkragenpullover und Mokassins vertauscht. Sie sind in seinem Zimmer, weil sie ihn nicht in ihrem Zimmer haben will und zu dem Schluss gekommen ist, dass sie auch in seinem sicher sind. Nachdem sie die beim Zimmerservice bestellten Sandwiches verspeist haben, unterhalten sie sich.

»Ich verstehe trotzdem nicht, warum du ihn nicht einfach um Rat fragen kannst«, hakt Marino wissbegierig nach. Seine Neugier, was ihre Beziehung zu Benton angeht, dringt wie Staub in sämtliche Ritzen ein. Sie ist sich ständig dessen bewusst, und es geht ihr auf die Nerven. Trotzdem ist es zwecklos, sie abwehren zu wollen.

»Morgen früh bringe ich gleich die Erdproben ins Labor«, sagt sie. »Dann werden wir bald wissen, ob ein Fehler passiert ist. Wenn ja, braucht Benton nichts davon zu erfahren. Dann hätte es nämlich nichts mit dem Fall zu tun und wäre einfach nur ein Fehler, wenn auch ein unverzeihlicher.«

»Aber du glaubst das nicht.« Er blickt aus dem Kissenhaufen auf, den sie ihm unter den Rücken geschoben hat. Seine Gesichtsfarbe wirkt inzwischen gesünder. Seine Augen sind aufmerksamer.

»Ich weiß nicht, was ich glaube«, erwidert sie. »Es ergibt keinen Sinn, ganz gleich, wie man es auch betrachtet. Wie würdest du die bei dem Traktorfahrer sichergestellten Spuren erklären, wenn nicht mit einem Fehler? Wie ist es möglich, dass dieselben Spuren auch im Fall Gilly Paulsson auftauchen? Hast du vielleicht eine Theorie?«

Marino denkt angestrengt nach. Er starrt auf das schwarze Fenster, in dem die Lichter der Innenstadt aufblitzen. »Keine Ahnung«, antwortet er. »Ich schwöre bei Gott. Mir fällt nicht mehr ein als das, was ich schon bei der Besprechung gesagt habe. Und da wollte ich mich nur aufspielen.«

»Wer? Du?«, spöttelt sie.

»Jetzt mal im Ernst. Wie kann dieser Whitby dieselben Spuren am Körper haben wie sie? Sie ist doch zwei Wochen vor ihm gestorben. Wo kommen die Spuren also her? Zwei Wochen nach ihrem Tod? Das sieht gar nicht gut aus«, sagt er.

Sie zuckt innerlich zusammen und verspürt eine Übelkeit, die sie inzwischen als Angst identifizieren kann. Momentan ist eine Verunreinigung oder eine falsche Etikettierung die einzig logische Erklärung. Das passiert beides viel öfter, als man meinen möchte. Dazu braucht man nur einen Asservatenbeutel oder ein Teströhrchen in den falschen Umschlag zu stecken oder ins falsche Regal zu legen beziehungsweise eine Probe mit einem falschen Aufkleber zu versehen. Fünf Sekunden Unachtsamkeit oder Verwirrung genügen, und das Beweisstück stammt entweder aus einer Quelle, die keinen Sinn ergibt, oder, noch schlimmer, es gibt Antworten auf eine Frage, die den Verdächtigen auf freien Fuß setzt oder ihn vor Gericht, ins Gefängnis oder gar in die Gaskammer bringt. Scarpetta erinnert sich an den Soldaten aus Fort Lee, der versucht hat, der dicken Frau das falsche Gebiss in den Mund zu zwängen. Man braucht nur einen Moment unaufmerksam zu sein.

»Ich begreife trotzdem nicht, warum du Benton nicht um Rat fragst«, sagt Marino und greift nach einem Glas Wasser, das neben dem Bett steht. »Was spricht eigentlich dagegen, dass ich mir ein paar Bierchen genehmige?«

»Und was spricht dafür?« Sie hat Aktenordner auf dem Schoß und blättert ziellos in den Kopien der Berichte herum, um festzustellen, ob etwas, das sie bereits über Gilly und den Traktorfahrer weiß, ihr vielleicht plötzlich die Augen öffnet. »Alkohol stört den Heilungsprozess. Außerdem war er in letzter Zeit nicht unbedingt dein Freund.«

»In der vergangenen Nacht nicht.«

»Bestell dir, was du willst. Ich mache dir keine Vorschriften.«

Er zögert, und sie ahnt, dass er sich Anweisungen von ihr wünscht. Aber sie wird sie ihm nicht geben. Aus Erfahrung weiß sie, dass es Zeitverschwendung ist, und sie hat keine Lust, als Copilotin zu fungieren, wenn er wie ein außer Kontrolle geratener Jagdbomber durchs Leben trudelt. Marino betrachtet das Telefon und die Hände auf seinem Schoß und greift dann nach dem Wasserglas.

»Wie geht es dir?«, fragt sie und blättert um. »Möchtest du noch ein Advil?«

»Mir geht es gut. Nichts, was ein paar Biere nicht in Ordnung bringen würden.«

»Das ist deine Sache.« Sie blättert noch einmal um und überfliegt die lange Liste von Mr. Whitbys zerquetschten und beschädigten Organen.

»Bist du sicher, dass sie nicht die Polizei ruft?«, fragt Marino.

Sie spürt seinen Blick auf sich. Seine Augen strahlen dieselbe leichte Hitze ab wie eine Glühbirne, und sie kann ihm seine Angst nicht zum Vorwurf machen. Allein die Anschuldigungen wären sein Untergang, daran gibt es nichts zu rütteln. Seine Karriere im Dienst von Recht und Gesetz wäre zu Ende, und es ist durchaus möglich, dass eine Jury in Richmond ihn für schuldig erklärt, weil er ein großer, kräftiger Mann ist und weil Mrs. Paulsson das Talent hat, Hilflosigkeit vorzutäuschen und Mitleid zu erregen. Schon der Gedanke an sie macht Scarpetta wütend.

»Das wird sie nicht«, erwidert sie. »Ich habe ihr auf den Kopf zu gesagt, dass sie lügt. Heute Nacht wird sie von den wunderbaren Beweisen träumen, die ich aus ihrem Haus entfernt habe. Und auch von dem Spiel. Sicher will sie nicht, dass die Polizei oder sonst jemand von dem kleinen Spiel oder den Spielen erfährt, die sie in ihrem Häuschen treibt … Ich muss dich was fragen.« Sie blickt von den Papieren auf ihrem Schoß auf. »Glaubst du, dass Mrs. Paulsson sich so verhalten hätte wie gestern Nacht, wenn Gilly noch leben würde? Natürlich sind das nur Mutmaßungen, aber was sagt dir dein Bauch?«

»Ich denke, sie tut, was ihr gefällt«, entgegnet er tonlos und voller Abscheu. Seine Empörung wird ein wenig von Scham gedämpft.

»Erinnerst du dich, ob sie betrunken war?«

»Sie war total high«, erwidert er. »Sie schwebte irgendwo.«

»Nur vom Alkohol, oder hat sie vielleicht sonst was genommen?«

»Ich habe nicht gesehen, dass sie Tabletten eingeworfen, was geraucht oder sich was gespritzt hätte. Aber mir ist wahrscheinlich eine ganze Menge entgangen.«

»Jemand muss mit Frank Paulsson reden«, meint Scarpetta mit einem Blick in einen anderen Bericht. »Abhängig davon, was wir morgen rauskriegen, könnten wir ja Lucy um Hilfe bitten.«

Ein listiger Ausdruck huscht über Marinos Gesicht, und er lächelt zum ersten Mal seit Stunden. »Gute Idee. Sie ist ja Pilotin. Hetzen wir sie dem Perversen auf den Hals.«

»Genau.« Scarpetta blättert um und holt tief Luft. »Nichts«, sagt sie. »Absolut nichts, was mir mehr über Gilly verraten würde. Sie wurde erstickt und hatte Lack- und Metallsplitter im Mund. Mr. Whitbys Verletzungen hingegen weisen deutlich darauf hin, dass er von dem Traktor überrollt worden ist. Aber wir sollten uns den Spaß erlauben, nachzuprüfen, ob er möglicherweise Verbindungen zu den Paulssons hatte.«

»Sie weiß es sicher«, meint Marino.

»Du rufst sie nicht an.« In dieser Situation kann sie nicht anders, als ihm Vorschriften zu machen. Er darf Suzanna Paulsson nicht anrufen. »Provoziere es nicht.« Sie sieht ihn an.

»Ich habe doch nicht gesagt, dass ich es tun werde. Vielleicht kannte sie ja den Traktorfahrer. Verdammt, möglicherweise hat er auch mitgespielt, und sie hatten einen Perversenclub.«

»Tja, Nachbarn sind sie jedenfalls nicht.« Scarpetta studiert die Papiere in Whitbys Akte. »Er hat in der Nähe des Flughafens gewohnt, nicht dass das unbedingt eine Rolle spielen muss. Während ich morgen im Labor bin, könntest du dich ja ein bisschen umhören.«

Marino antwortet nicht. Er hat keine Lust, mit der Polizei von Richmond zu sprechen.

»Du musst dich dem stellen«, meint sie und klappt die Akte zu.

»Wem stellen?« Er betrachtet das Telefon am Bett und denkt wahrscheinlich wieder an Bier.

»Das weißt du genau.«

»Ich kann es nicht leiden, wenn du so daherredest«, erwidert er gereizt. »So als ob ich deine Andeutungen verstehen müsste. Auch wenn es bestimmt Typen gibt, die für eine Frau, die sich kurz fasst, dankbar wären.«

Ein wenig amüsiert, verschränkt sie die Hände auf dem Aktenordner. So unwirsch reagiert er immer, wenn sie Recht hat. Sie wartet ab, was er als Nächstes sagen wird.

»Meinetwegen«, sagt er, als er das Schweigen nicht mehr ertragen kann. »Wem soll ich mich stellen? Erklär mir einfach, was zum Teufel Sache ist, denn ich drehe allmählich durch.«

»Du musst dich dem stellen, was du fürchtest. Und du fürchtest dich vor der Polizei, weil du immer noch Angst hast, dass Mrs. Paulsson dich angezeigt haben könnte. Hat sie aber nicht. Und sie wird es auch nicht tun. Also bring es hinter dich, dann legt sich auch die Angst.«

»Es geht nicht um Angst, sondern um Dummheit«, gibt er zurück.

»Gut. Dann rufst du jetzt Detective Browning oder sonst jemanden an. Denn anderenfalls wärst du dumm. Ich gehe jetzt zurück in mein Zimmer«, fügt sie hinzu, steht vom Sessel auf und schiebt ihn an seinem Platz am Fenster. »Wir treffen uns um acht in der Hotelhalle.«

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