39

Kay Scarpetta betritt, gefolgt von Marino, der sein Bestes tut, um aufrecht zu gehen, die Gerichtsmedizin. Bruce an der Pforte richtet sich mit erschrockener Miene auf.

»Äh, ich habe neue Anweisungen«, beginnt er und weicht ihrem Blick aus. »Der Chef sagt, keine Besucher. Vielleicht sind ja nicht Sie damit gemeint. Erwartet er Sie vielleicht?«

»Nein, tut er nicht«, entgegnet Scarpetta lässig. Inzwischen wundert sie gar nichts mehr. »Und wahrscheinlich meint er ausschließlich mich.«

»Oh, das tut mir aber Leid.« Mit seinen hochroten Wangen sieht Bruce aus, als würde er gleich vor Scham im Erdboden versinken. »Wie geht’s denn so, Pete?«

Marino lehnt sich an den Tresen. Seine Beine sind gespreizt, und die Hose hängt ihm tiefer als gewöhnlich. Bei einer Verfolgungsjagd zu Fuß würde er sie vermutlich verlieren. »War schon mal besser«, erwidert er. »Also will der kleine Häuptling, der sich für den Größten hält, uns nicht reinlassen. Möchtest du das damit ausdrücken, Bruce?«

»Dieser Typ …«, beginnt Bruce und reißt sich dann zusammen. Wie die meisten Menschen hängt er an seinem Job. Er trägt eine hübsche Uniform in Preußischblau und eine Waffe und arbeitet in einem schönen Gebäude. Deshalb geht er lieber kein Risiko ein, auch wenn er Dr. Marcus nicht ausstehen kann.

»Hmm«, brummt Marino und tritt von der Theke zurück. »Ich enttäusche den kleinen Häuptling ja nur ungern, aber wir wollen sowieso nicht zu ihm. Wir müssen Beweisstücke im kriminaltechnischen Labor abgeben. Trotzdem würde mich interessieren, was für Anweisungen du genau gekriegt hast. Die Formulierung macht mich neugierig.«

»Dieser Typ …«, wiederholt Bruce und fängt an, den Kopf zu schütteln. Aber dann beherrscht er sich.

»Schon gut«, erwidert Scarpetta. »Botschaft erhalten. Danke, dass Sie mir Bescheid geben. Schön, dass das überhaupt jemand tut.«

»Er hätte es Ihnen selbst sagen müssen.« Erneut hält Bruce inne und blickt sich um. »Sie sollten wissen, dass sich alle anderen mächtig gefreut haben, Sie zu sehen, Dr. Scarpetta.«

»Wenigstens fast alle.« Sie schmunzelt. »Kein Problem. Könnten Sie Mr. Eise melden, dass wir da sind? Er erwartet uns nämlich«, fügt sie hinzu.

»Ja, Ma’am«, entgegnet Bruce, ein wenig vergnügter. Er greift zum Telefon, wählt eine Nummer und gibt die Nachricht weiter.

Ein oder zwei Minuten lang stehen Scarpetta und Marino wartend am Aufzug. Man kann hier den ganzen Tag lang vergeblich auf den Knopf drücken, wenn man keine Magnetkarte besitzt und einem niemand den Aufzug hinunterschickt. Die Türen gehen auf, und sie steigen ein. Scarpetta, die ihre schwarze Tatorttasche geschultert hat, betätigt den Knopf für den zweiten Stock.

»Offenbar hat der Schweinehund dich abserviert«, merkt Marino an, während sich der Aufzug mit einem leichten Ruck auf den kurzen Weg nach oben macht.

»Offensichtlich.«

»Und? Was wirst du dagegen unternehmen? Du kannst ihm das doch nicht durchgehen lassen. Erst fleht er dich an, nach Richmond zu kommen, und dann behandelt er dich wie den letzten Dreck. Ich würde dafür sorgen, dass er fliegt.«

»Das wird er früher oder später auch selbst hinkriegen. Ich habe Besseres zu tun«, erwidert sie, als sich die Türen aus Edelstahl öffnen und den Blick auf Junius Eise freigeben, der sie auf einem weißen Flur erwartet.

»Danke, Junius«, sagt Scarpetta und hält ihm die Hand hin. »Schön, Sie wiederzusehen.«

»Ach, ich tue Ihnen doch gern einen Gefallen«, erwidert Eise leicht verlegen.

Er ist ein merkwürdiger Mann mit farblosen Augen. Seine Oberlippe geht in der Mitte in eine dünne Narbe über, die bis zur Nase reicht, die typischen Spuren einer verpfuschten Operation, die Scarpetta schon oft bei Menschen mit Hasenscharte gesehen hat. Allerdings ist er nicht nur äußerlich seltsam, was Scarpetta schon vor Jahren fand, wenn sie ihm hin und wieder im Labor begegnet ist. Damals hat sie kaum ein Wort mit ihm gewechselt und ihn nur gelegentlich in einem Fall um Rat gefragt. Als Chefpathologin war sie immer höflich und darauf bedacht, den Mitarbeitern im Labor den Respekt zu erweisen, den sie ihrer Ansicht nach ehrlich verdienten. Jedoch war sie nie übermäßig freundlich. Während sie Eise durch das Labyrinth weißer Flure und großer Glasfenster folgt, durch die man den Wissenschaftlern in den Labors bei der Arbeit zusehen kann, wird ihr klar, dass sie damals kühl und einschüchternd gewirkt hat. Als Chefpathologin wurde sie zwar geachtet, aber nicht unbedingt geliebt. Das hat sie sehr belastet, doch sie hat damit gelebt, da ihre Position es eben mit sich brachte. Nun braucht sie es nicht mehr zu ertragen.

»Wie ist es Ihnen in der Zwischenzeit ergangen, Junius?«, fragt sie. »Ich habe gehört, dass Sie und Marino fast die Letzten im Polizeiclub waren. Hoffentlich macht Ihnen dieser seltsame Zwischenfall mit den Spuren nicht allzu sehr zu schaffen. Wenn es jemandem gelingt, das Rätsel zu lösen, dann Ihnen.«

Eise wirft ihr einen ungläubigen Blick zu. »Hoffentlich«, erwidert er verlegen. »Tja, ich bin ganz sicher, dass ich nichts verwechselt habe. Ganz gleich, was auch behauptet wird, ich weiß genau, dass ich es nicht war.«

»Sie wären auch der Letzte, dem so ein Fehler unterlaufen würde«, antwortet sie.

»Danke. Es bedeutet mir sehr viel, dass Sie das sagen.« Er nimmt die Magnetkarte, die an einer Kordel um seinen Hals hängt, und schwenkt sie vor einem Sensor an der Wand, bis das Schloss mit einem Klicken aufspringt. Dann öffnet er die Tür. »Es steht mir nicht an, Schlussfolgerungen zu ziehen«, fügt er hinzu, während sie das Labor betreten. »Aber ich weiß, dass ich die Probe nicht falsch beschriftet habe. So etwas ist mir noch nie passiert. Nicht ein einziges Mal.«

»Ich verstehe.«

»Erinnern Sie sich noch an Kit?«, fragt Eise, als ob Kit neben ihm stünde, aber sie ist nirgendwo zu sehen. »Sie ist nicht hier.

Hat sich krank gemeldet. Ich sage Ihnen, die halbe Welt hat die Grippe. Aber ich soll Ihnen Grüße von ihr ausrichten. Es wird ihr Leid tun, dass sie Sie verpasst hat.«

»Sagen Sie ihr, es täte mir auch Leid«, erwidert Scarpetta. Sie stehen vor einer langen schwarzen Theke in Eises Arbeitsbereich.

»Noch eine Frage«, meint Marino. »Gibt es hier ein ruhiges Plätzchen mit einem Telefon?«

»Na klar: das Büro der Abteilungsleiterin gleich um die Ecke. Sie ist heute bei Gericht. Fühlen Sie sich wie zu Hause. Ich weiß, sie hätte nichts dagegen.«

»Dann lasse ich euch jetzt in Ruhe im Matsch spielen«, verkündet Marino und schlendert davon. Er geht ein bisschen obeinig wie ein Cowboy, der gerade von einem langen, anstrengenden Ritt zurückkommt.

Eise bedeckt einen Teil des Tresens mit sauberem weißem Papier, während Scarpetta ihre schwarze Tasche öffnet und die Erdproben herausholt. Er zieht einen zweiten Stuhl heran, damit sie neben ihm am Mikroskop sitzen kann, und reicht ihr ein Paar Untersuchungshandschuhe. Der erste Schritt ist der einfachste. Eise nimmt einen winzigen Stahlspatel, taucht ihn in eine der Tüten, streicht ein winziges Bröckchen roten Ton und sandige Erde auf einen sauberen Objektträger und legt ihn auf den Objekttisch des Mikroskops. Dann späht er durch die Linse, stellt die Schärfe ein und bewegt den Objektträger langsam hin und her, während Scarpetta zusieht. Sie kann nichts erkennen als einen rötlichen Erdschmierer auf dem Glasplättchen. Nachdem er den Objektträger wieder entfernt und ihn auf einem weißen Papierhandtuch abgelegt hat, bereitet er auf dieselbe Weise weitere Proben vor.

Erst in der zweiten Tüte mit Erde, die Scarpetta an der Abrissstelle eingesammelt hat, wird Eise fündig.

»Wenn ich es nicht mit eigenen Augen sehen würde, würde ich es nicht glauben«, sagt er und blickt vom Mikroskop auf. »Schauen Sie selbst.« Er rollt seinen Stuhl zurück, um ihr Platz zu machen.

Scarpetta rückt näher ans Mikroskop heran und betrachtet durch die Linse eine winzige Geröllhalde aus Sand und anderen Mineralien, Stückchen von Pflanzen und Insekten und Tabakkrümeln – alles typisch für einen verschmutzten Parkplatz. Dann bemerkt sie einige Metallsplitter, die zum Teil matt silbrig schimmern. Das ist ziemlich ungewöhnlich. Als sie sich nach einem spitzen Werkzeug umsieht, entdeckt sie einige in ihrer Reichweite. Vorsichtig bewegt sie die Metallsplitter und trennt sie von der restlichen Probe. Auf diesem Objektträger befinden sich genau drei davon, alle ein klein wenig größer als die größten Bröckchen Silizium, Stein oder Schutt. Zwei sind rot, eines ist weiß. Als sie mit der Wolframnadel weiterstochert, fördert sie noch etwas zu Tage, das ihr Interesse weckt. Sie erkennt sofort, was es ist, spricht es aber nicht gleich aus, weil sie erst auf Nummer sicher gehen will.

Es ist etwa so groß wie der kleinste Farbsplitter, graugelb, merkwürdig geformt und weder mineralisch noch aus Kunststoff. Das Teilchen erinnert an einen prähistorischen Vogel mit einem hammerförmigen Kopf, einem Auge, einem mageren Hals und einem kugeligen Körper.

»Die flachen Platten der Lamellen. Sie sehen aus wie konzentrische Kreise und sind Knochenschichten, die angeordnet sind wie die Jahresringe eines Baumes«, erklärt sie und schiebt das Teilchen ein wenig herum. »Dazu die Rillen und Kanäle der Canaliculi. Das sind die Löcher, die wir hier sehen, also die Havers’schen Kanäle oder Canaliculi, wo winzige Blutgefäße verlaufen. Wenn Sie dieses Ding unter ein Mikroskop mit Polarisator legen, müssten Sie wellenförmige, fächrige Verlängerungen feststellen. Vermutlich wird es sich unter gebrochenen Röntgenstrahlen als Kalziumphosphat entpuppen. In anderen Worten als Knochenstaub. Angesichts des Fundorts überrascht mich das nicht weiter. In dem alten Gebäude gab es sicher Knochenstaub in rauen Mengen.«

»Du heiliger Strohsack!«, ruft Eise beglückt aus. »Und ich habe mich deswegen verrückt gemacht. So ein Ding habe ich auch bei dem kranken Mädchen, also im Fall Paulsson, gefunden, wenn wir dasselbe meinen. Darf ich mal schauen?«

Sie rollt ihren Stuhl zurück und ist erleichtert, allerdings ebenso verdattert wie zuvor. »Lacksplitter und Knochenstaub mögen im Fall des Traktorfahrers Sinn ergeben, jedoch nicht bei Gilly Paulsson. Wie kann es sein, dass in ihrer Mundhöhle die identischen Spuren sichergestellt wurden?«

»Es ist dasselbe gottverdammte Zeug«, verkündet Eise mit dem Brustton der Überzeugung. »Ich zeige Ihnen die Proben vom toten Mädchen. Sie werden Ihren Augen nicht trauen.« Er nimmt einen dicken Umschlag von einem Stapel an seinem Schreibtisch, löst das Klebeband an der Lasche und nimmt einen Pappordner mit Dias heraus. »Ich habe sie immer in Griffweite, weil ich sie mir immer wieder angeschaut habe. Das können Sie mir glauben.« Er legt ein Dia unter das Mikroskop. »Rote, weiße und blaue Partikel, einige an Metallsplittern anhaftend, andere nicht.« Er schiebt das Dia herum und stellt die Schärfe ein. »Die Farbe ist in einer Schicht aufgetragen. Es handelt sich um einen harzhaltigen Lack, der allerdings nicht rein ist. Das heißt, dass der fragliche Gegenstand vermutlich ursprünglich nur weiß war und irgendwann rot, weiß und blau überlackiert wurde. Schauen Sie.«

Eise hat alle Partikel im Fall Paulsson sorgfältig isoliert, sodass sich nur rote, weiße und blaue Farbsplitter auf dem Objektträger befinden. Sie sehen so groß und bunt aus wie Bauklötzchen, sind jedoch unregelmäßig geformt. Einige haften an matt schimmerndem silbrigem Metall, andere scheinen nur aus Lack zu bestehen. In Farbe und Beschaffenheit sind sie offenbar mit denen identisch, die Scarpetta gerade in ihrer Erdprobe entdeckt hat. Scarpetta versteht die Welt nicht mehr und hat das Gefühl, dass ihr Verstand streikt. Sie kann nicht mehr klar denken, und ihr Gehirn wird immer langsamer, wie ein Computer, dem allmählich der Speicherplatz ausgeht. Sie kommt einfach nicht hinter die logischen Zusammenhänge.

»Und hier sind die Partikel, die Sie als Knochenstaub bezeichnen.« Er vertauscht die Probe mit einer anderen.

»Das stammt tatsächlich von den Proben, die von Gillys Leiche genommen wurden?« Sie muss sich noch einmal vergewissern, so unglaublich ist es.

»Keine Frage. Daran ist nicht zu rütteln.«

»Derselbe Staub.«

»Überlegen Sie nur, wie viel von diesem Zeug am alten Gebäude herumliegen muss. Mehr Staub, als es Sterne im Weltall gibt, wenn Sie erst mal anfangen, den ganzen Dreck da zusammenzukratzen«, meint Eise.

»Einige dieser Partikel scheinen alt zu sein, das Ergebnis natürlichen Abblätterns oder von Abschilferung, wenn sich die Knochenhaut zersetzt«, erklärt Scarpetta. »Sehen Sie, wie abgerundet und allmählich zulaufend die Ränder sind? Mit derartigem Staub rechne ich bei skelettierten Überresten, das heißt bei vergrabenen oder im Wald gefundenen Knochen. Aus nicht-traumatisierten Knochen wird auch nicht-traumatisierter Staub. Aber einige davon«, sie isoliert ein Knochenstaubpartikel, das schartig, gebrochen und einige Farbtöne heller ist, »wirken auf mich, als wären sie zerschmettert worden.«

Er beugt sich vor, um sich zu vergewissern, und macht ihr dann Platz, damit sie durch die Linse spähen kann.

»Ich glaube, dass dieses Teilchen hier verbrannt wurde. Haben Sie bemerkt, wie dünn es ist? Ich sehe einen kleinen geschwärzten Rand, der einen verkohlten und angesengten Eindruck macht. Ich wette, dass das Teilchen am Hautfett meines Fingers kleben bleiben würde, wenn ich darauf drücke, was bei normalem Knochenstaub nicht der Fall wäre«, fährt sie fasziniert fort. »Ich denke, bei einem Teil dieser Partikel handelt es sich um Überreste von eingeäscherten menschlichen Leichen.« Sie betrachtet das bläulich weiße, schartige Partikel mit den verkohlten Rändern im hellen Lichtkegel. »Es sieht kalkig und abgebrochen aus, aber nicht notwendigerweise durch Hitze. Ich weiß nicht. Bis jetzt hatte ich nie Grund, mich mit Knochenstaub zu befassen, insbesondere mit verbranntem. Eine Elementaranalyse wird Ihnen mehr sagen. Bei verbrannten Knochen müssten Sie verschiedene Kalziumanteile und einen höheren Phosphoranteil feststellen«, spricht sie weiter, ohne den Blick von den binokularen Linsen des Mikroskops abzuwenden. »Ach, übrigens ist im Schutt des alten Gebäudes mit Krematoriumsstaub zu rechnen, weil es dort einen Verbrennungsofen gab. Der Himmel weiß, wie viele Leichen dort im Laufe der Jahrzehnte eingeäschert wurden. Allerdings erstaunt es mich ein wenig, dass die Erde, die ich Ihnen mitgebracht habe, Knochenstaub enthält. Ich habe diese Erde auf dem Asphalt an der Hintertür sichergestellt. Der hintere Teil des Gebäudes ist noch nicht abgerissen worden, und auch der Parkplatz dort wurde noch nicht umgegraben. Eigentlich müsste die Anatomieabteilung noch stehen. Erinnern Sie sich an die Hintertür des alten Gebäudes?«

»Na klar.«

»Daher stammt er. Wie kann Staub aus dem Krematorium nach oben auf den Parkplatz geraten, wenn er nicht aus dem Gebäude dorthin verschleppt wurde?«

»Meinen Sie, jemand ist unten in der Anatomie gewesen und hat den Staub an den Schuhen auf den Parkplatz getragen?«

»Keine Ahnung, durchaus möglich. Und offenbar hat Mr. Whitbys blutiges Gesicht den schmutzigen Asphalt berührt, sodass die Spuren in der Wunde und in seinem Blut haften geblieben sind.«

»Das mit dem zerbrochenen Knochenstaub müssen Sie mir noch einmal erklären«, meint Eise verwirrt. »Wodurch können verbrannte Knochen brechen, wenn nicht durch die Hitze?«

»Wie ich schon sagte, weiß ich das nicht genau. Aber es ist möglich, dass Staub aus dem Krematorium sich mit der Erde auf dem Asphalt vermischt hat und dann von einem Traktor oder einem Auto überrollt oder sogar von Menschen zertreten wurde. Allerdings habe ich keine Ahnung, ob Knochenstaub, der einer solchen Behandlung ausgesetzt wird, genauso aussieht wie nach Gewalteinwirkung.«

»Und wie zum Teufel kommt der verbrannte Knochenstaub an die Leiche des kranken Mädchens?«, fragt Eise.

»Richtig.« Sie versucht, einen klaren Kopf zu bekommen und ihre Gedanken zu ordnen. »Stimmt. Das sind ja keine Proben vom Fall Whitby. Der verbrannte und gebrochen aussehende Staub wurde ja gar nicht bei ihm, sondern bei Gilly Paulsson entdeckt.«

»Staub aus dem Krematorium im Mund des kranken Mädchens? Heilige Muttergottes, das kann ich mir einfach nicht erklären. Sie vielleicht?«

»Keine Ahnung, warum wir in ihrem Fall überhaupt mit Knochenstaub zu tun haben«, erwidert Scarpetta. »Was haben Sie sonst noch gefunden? Soweit ich informiert bin, wurde eine Reihe von Gegenständen aus Gilly Paulssons Elternhaus hier abgegeben.«

»Nur ihr Bettzeug. Kit und ich haben zehn Stunden im Schaberaum verbracht. Und dann musste ich eine halbe Ewigkeit lang Baumwollfasern herauspicken, weil Dr. Marcus eine Schwäche für Wattestäbchen hat. Vermutlich besitzt er Q-Tips-Aktien«, beschwert sich Eise. »Die DNS-Leute haben natürlich auch einen Blick auf die Bettwäsche geworfen.«

»Das weiß ich«, meint Scarpetta. »Sie haben Schleimhautepithelzellen gefunden.«

»Außerdem haben wir auf den Laken schwarz gefärbte Haare sichergestellt. Die haben Kit ziemliches Kopfzerbrechen bereitet.«

»Menschlich, wie ich annehme. DNS?«

»Ja, menschlich. Sie wurden zur Mitochondrienanalyse ins Bode-Labor geschickt.«

»Was ist mit Tierhaaren? Von einem Hund zum Beispiel?«

»Nein«, antwortet er.

»Weder in ihren Laken noch auf ihrem Pyjama oder auf sonst etwas, das aus dem Haus stammt?«

»Nein. Was ist mit Staub von der Autopsiesäge?«, fragt er, denn der Knochenstaub lässt ihm einfach keine Ruhe. »Der könnte auch aus dem alten Gebäude sein.«

»Der sieht ganz anders aus.« Sie lehnt sich zurück und blickt ihn an. »Staub von einer Säge würde aus feinen Körnchen, vermischt mit Bröckchen, bestehen. Vielleicht wären auch noch feine Metallspäne vom Sägeblatt selbst dabei.«

»Gut. Ich würde gern über etwas sprechen, das mir im Kopf herumgeht, bevor mir der Schädel platzt.«

»Nur zu.«

»Vielen Dank. Zugegeben, Sie sind die Knochenspezialistin.« Er legt die Dias zurück in Gilly Paulssons Akte. »Aber mit Lacken kenne ich mich aus. Sowohl beim toten Mädchen als auch beim Traktorfahrer war die Spur einer Schutzschicht oder eines Poliermittels vorhanden. Also wissen wir, dass es kein Autolack sein kann. Außerdem sind die darunter liegenden Metallpartikel nicht magnetisch, was heißt, dass sie nicht aus Eisen bestehen. Das habe ich gleich am ersten Tag ausprobiert. Wir haben es hier mit Aluminium zu tun.«

»Ein Gegenstand aus Aluminium, der rot, weiß und blau lackiert ist«, denkt Scarpetta laut. »Gemischt mit Knochenstaub.«

»Ich gebe mich geschlagen«, sagt Eise.

»Ich mich im Augenblick auch«, erwidert sie.

»Menschlicher Knochenstaub?«

»Wenn er nicht frisch ist, werden wir es nie erfahren.«

»Wie frisch ist frisch?«

»Einige Jahre im Gegensatz zu Jahrzehnten«, antwortet sie. »Wir können Fingerabdrücke nehmen und Struktur und Mitochondrien untersuchen, also ist es nicht zu anspruchsvoll, vorausgesetzt, die Probe ist nicht zu alt oder in zu schlechtem Zustand. Bei der DNS geht es um Qualität versus Quantität, aber wenn ich eine Wette abschließen müsste, würde ich sagen, dass wir vermutlich kein Glück haben werden. Erstens kann man bei Krematoriumsresten die DNS sowieso vergessen. Was den nicht verbrannten Knochenstaub angeht, kommt er mir alt vor, ich weiß nicht, warum. Natürlich können Sie einen Teil des unverbrannten Staubs in die Bode-Labors zum Mitochondrientest schicken oder eine Strukturanalyse veranlassen. Aber dabei würde eine winzige Probe wie diese verbraucht werden. Wollen wir das riskieren, in dem Wissen, dass wahrscheinlich nichts dabei herauskommen wird?«

»DNS ist nicht meine Abteilung. Ansonsten wäre mein Budget um einiges größer.«

»Tja, die Entscheidung liegt ohnehin nicht bei mir«, meint sie und steht auf. »Anderenfalls würde ich wahrscheinlich dafür stimmen, die Beweisstücke aufzubewahren, nur für den Fall, dass sie später noch einmal gebraucht werden. Das Interessante ist doch, dass der Knochenstaub in zwei Fällen aufgetreten ist, die eigentlich nicht das Geringste miteinander zu tun haben.«

»Eindeutig.«

»Ich überlasse es Ihnen, Dr. Marcus die frohe Botschaft zu überbringen«, sagt sie.

»Er liebt meine E-Mails. Ich schicke ihm gleich wieder eine«, antwortet Eise. »Schade, dass ich keine bessere Nachricht für Sie habe, Dr. Scarpetta. Aber diese Tüten mit Erde werden mich einige Zeit, wenn nicht gar mehrere Tage, auf Trab halten. Ich verteile alles auf Objektträger, lasse es gut trocknen und siebe es dann durch, um die Partikel zu isolieren. Das ist ziemlich lästig, weil man mit den verdammten Sieben alle zwei Minuten auf den Tresen klopfen muss, damit der Inhalt in den Auffangbehälter rieselt. Ich habe es aufgegeben, um einen Teilchentrenner mit automatischer Schüttelvorrichtung zu betteln, weil diese Dinger bis zu sechs Riesen kosten. Also kann ich es vergessen. Das Trocknen und das Sieben wird ein paar Tage dauern, und dann sitze ich hier allein vor meinem Mikroskop. Ich kann es auch noch mit dem Elektronenmikroskop versuchen. Habe ich Ihnen übrigens schon eines meiner selbst gemachten Werkzeuge gegeben? Sie werden hier Eise-Nadeln genannt.«

Er entdeckt einige auf seinem Schreibtisch, wählt eines aus und dreht es langsam in der Hand, um sich zu vergewissern, dass das Wolfram nicht verbogen ist und auch nicht geschärft werden muss. Stolz hält er das Instrument hoch und reicht es ihr mit einer eleganten Geste, als würde er ihr eine langstielige Rose verehren.

»Das ist aber sehr nett von Ihnen, Junius«, sagt sie. »Vielen Dank. Nein, Sie haben mir noch nie eines geschenkt.«

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