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In den engen Straßen des Ausbildungslagers schleichen fünf männliche und weibliche Agents, ausgerüstet mit Neun-Millimeter-Sturmgewehren von Beretta, Bushnell-Sichtgeräten und Taschenlampen, aus verschiedenen Richtungen auf ein kleines verputztes Haus mit Betondach zu.

Das Gebäude ist alt und verfallen, und der winzige überwucherte Vorgarten strotzt von kitschigen aufblasbaren Nikoläusen, Schneemännern und Zuckerstangen. Bunte Lichterketten sind nachlässig in die Kronen der Palmen geschlungen. Drinnen im Haus bellt unablässig ein Hund. Die Agents tragen die Sturmgewehre an Riemen, die quer über ihren Oberkörper verlaufen, und halten die Mündungen so, dass sie in einem Vierzig-Grad-Winkel zu Boden zeigen. Sie sind schwarz gekleidet, haben allerdings auf kugelsichere Westen verzichtet, was beim Sturm eines Gebäudes eher ungewöhnlich ist.

Rudy Musil wartet in aller Seelenruhe im Haus. Er hat sich hinter einer hohen Barrikade aus umgestürzten Tischen und Stühlen verschanzt, die den schmalen Durchgang zur Küche blockieren. Er hat eine tarnfarbene Hose und Turnschuhe an und ist mit einer AR-15 ausgerüstet. Das ist keine leichte Waffe wie das Sturmgewehr, sondern eine schlagkräftige Kriegswaffe mit einem sechzig Zentimeter langen Lauf, die einen Feind auf bis zu dreihundert Metern Entfernung aufhalten kann. Er braucht die Waffe nicht, um das Haus zu räumen, weil er sich bereits darin befindet. Vom Türbogen geht er zu dem zerbrochenen Fenster über der Spüle und blickt hinaus. Hinter einem Müllcontainer, etwa fünfzig Meter vom Haus entfernt, bewegt sich etwas.

Er stützt die AR-15 auf den Spülbeckenrand, sodass der Lauf auf dem morschen Fensterbrett ruht. Durch das Sichtgerät erkennt er sein erstes Opfer, das hinter dem Müllcontainer kauert und nur ein Stück seines in Schwarz gekleideten Körpers sehen lässt. Rudy drückt ab, ein Knall ertönt, und der Agent schreit auf. Dann springt ein zweiter Agent aus dem Nichts hervor und wirft sich auf den Boden. Rudy schießt ihn ebenfalls ab. Der Agent schreit nicht und gibt auch sonst keinen Laut von sich, den Rudy hören könnte. Vom Fenster geht er zu der Barrikade in der Tür und stößt ärgerlich Tische und Stühle beiseite. Nachdem er seine eigene Barrikade durchbrochen hat, schlägt er das Wohnzimmerfenster ein und eröffnet das Feuer. Es dauert nur fünf Minuten, bis alle fünf Agents ein Gummigeschoss abbekommen haben. Doch sie rücken weiter vor, bis Rudy ihnen per Funk den Befehl zum Abbrechen gibt.

»Ihr seid die absoluten Flaschen«, spricht er ins Funkgerät, während er schwitzend in dem Haus sitzt, in dem im Trainingslager Kampfsituationen simuliert werden. »Ihr seid tot. Alle miteinander. Herkommen.«

Er tritt aus der Vordertür, als sich die schwarz gekleideten Agents dem weihnachtlich dekorierten Garten nähern. Rudy muss ihnen zugute halten, dass sie sich ihre Schmerzen wenigstens nicht anmerken lassen. Denn wie er weiß, tut es höllisch weh, wenn einen ein Gummigeschoss am ungeschützten Körper trifft. Nach einigen solcher Treffer möchte man sich am liebsten hinwerfen und weinen wie ein Baby, aber diese neuen Rekruten sind wenigstens hart im Nehmen und können etwas aushalten. Als Rudy eine kleine Fernbedienung betätigt, verstummt das Hundegebell im Haus.

Rudy steht in der Tür und betrachtet die Agents. Sie stehen keuchend und schwitzend da und sind wütend auf sich selbst. »Was ist passiert?«, fragt Rudy. »Die Antwort ist einfach.«

»Wir haben es vermasselt«, erwidert ein Agent.

»Warum?«, will Rudy wissen. Er hat immer noch die AR-15 in der Hand. Der Schweiß läuft ihm über die nackte, muskulöse Brust, und an seinen gebräunten, wohlgeformten Armen treten die Venen hervor. »Ich will auf etwas Bestimmtes hinaus. Es liegt an einem einzigen Fehler, dass ihr jetzt alle tot seid.«

»Wir haben nicht damit gerechnet, dass Sie eine Kriegswaffe haben. Höchstens mit einer Pistole«, sagt ein weiblicher Agent. Sie wischt sich das tropfnasse Gesicht mit dem Ärmel ab und keucht vor Nervosität und Anspannung.

»Ihr dürft euch nie auf Mutmaßungen verlassen«, sagt Rudy laut zu der Gruppe. »Ich hätte ein vollautomatisches Maschinengewehr hier drinnen haben oder mit Kaliber-Fünfzig-Patronen um mich schießen können. Aber ihr habt einen anderen verhängnisvollen Fehler gemacht. Kommt schon. Ihr wisst, was ich meine. Wir haben schon einmal drüber gesprochen.«

»Wir haben uns mit dem Boss angelegt«, erwidert einer, und alle lachen.

»Kommunikation«, meint Rudy langsam. »Sie, Andrews.« Er betrachtet einen Agent, dessen schwarze Uniform mit Dreck beschmiert ist. »Sobald Sie den Treffer an der linken Schulter abgekriegt hatten, hätten Sie Ihre Kameraden warnen müssen, dass ich hinten aus dem Küchenfenster schieße. Haben Sie das getan?«

»Nein, Sir.«

»Warum nicht?«

»Wahrscheinlich, weil es das erste Mal war, dass auf mich geschossen wurde.«

»Tut weh, stimmt’s?«

»Höllisch, Sir.«

»Richtig. Und Sie haben nicht damit gerechnet.«

»Nein, Sir. Niemand hat uns gesagt, dass richtige Geschosse verwendet werden.«

»Und genau deshalb tun wir das hier im Schmerz- und Elendlager«, entgegnet Rudy. »Wenn einem im wirklichen Leben etwas Unangenehmes zustößt, kriegt man normalerweise auch keine Vorankündigung, stimmt’s? Also sind Sie getroffen worden. Es tat höllisch weh und hat Ihnen einen ordentlichen Schrecken eingejagt. Das Ergebnis war, dass Sie nicht sofort zum Funkgerät gegriffen und Ihre Kameraden gewarnt haben. Und alle wurden getötet. Wer hat den Hund gehört?«

»Ich«, antworten einige Agents im Chor.

»Sie haben also gehört, wie ein verdammter Köter sich die Seele aus dem Leib bellt«, gibt Rudy ungeduldig zurück. »Hat einer von Ihnen den anderen Bescheid gegeben? Der Hund bellt, also weiß der Typ im Haus, dass wir kommen. Habt ihr verstanden?«

»Ja, Sir.«

»Ende der Durchsage.« Rudy schickt sie weg. »Ich muss mich für eure Beerdigung umziehen.«

Er geht zurück ins Haus und schließt die Tür. Während er mit den Rekruten gesprochen hat, hat das Funktelefon an seinem Gürtel zweimal vibriert, und er sieht nach, wer versucht hat, ihn zu erreichen. Beide Anrufe waren von seinem Computerspezialisten, und Rudy ruft ihn zurück.

»Was gibt’s?«, erkundigt er sich.

»Sieht aus, als würde deinem Mann bald das Cortison ausgehen. Das letzte Rezept hat er vor sechsundzwanzig Tagen bei CVS eingelöst.« Er diktiert Adresse und Telefonnummer.

»Das Problem ist«, erwidert Rudy, »dass er meiner Ansicht nach nicht in Richmond ist. Also müssen wir rauskriegen, wo zum Teufel er sich das nächste Mal seine Medikamente besorgt. Vorausgesetzt, er macht sich die Mühe.«

»Er bringt seine Rezepte jeden Monat zur selben Apotheke in Richmond. Also braucht er das Zeug offensichtlich oder glaubt das zumindest.«

»Sein Arzt?«

»Dr. Stanley Philpott.« Er gibt Rudy die Nummer.

»Keine Aufzeichnungen darüber, dass er ein Rezept anderswo eingelöst hat? In Südflorida zum Beispiel?«

»Nur in Richmond, und ich habe mich bundesweit umgesehen. Wie ich schon sagte, reicht der Vorrat von seinem letzten Rezept noch fünf Tage. Dann hat er keine Medikamente mehr, außer er verfügt über eine andere Quelle.«

»Gut gemacht«, antwortet Rudy und öffnet den Kühlschrank in der Küche, um eine Wasserflasche herauszuholen. »Ich prüfe das nach.«

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