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Die Lichtstrahlen von Taschenlampen stochern wie lange gelbe Bleistifte im schwarzen Garten herum. Scarpetta steht am Fenster und blickt hinaus. Sie hofft, dass die Polizei um diese Uhrzeit noch Glück haben wird, hat aber ihre Zweifel. Ihr Vorschlag erscheint ihr an den Haaren herbeigezogen, wenn nicht gar paranoid, was vielleicht an ihrer Übermüdung liegt.

»Also erinnern Sie sich nicht daran, ob er bei Mrs. Arnette gewohnt hat?«, fragt Detective Browning. Er sitzt auf einem schlichten Holzstuhl im Schlafzimmer, klopft mit einem Stift auf seinen Notizblock und kaut Kaugummi.

»Ich kannte ihn nicht«, erwidert sie und beobachtet, wie sich die langen Lichtstrahlen durch die Dunkelheit tasten. Sie spürt die kalte Luft, die durch die Fensterrahmen hereinzieht. Wahrscheinlich werden sie nichts finden, aber sie befürchtet, dass sie doch auf etwas stoßen. Sie denkt an den Knochenstaub in Gillys Mund und an der Leiche des Traktorfahrers und hat Angst, die Polizei könnte eine Entdeckung machen. »Ich habe keine Ahnung, mit wem er zusammengelebt oder ob er allein gewohnt hat. Schließlich kann ich mich kaum daran erinnern, je ein Wort mit ihm gewechselt zu haben.«

»Was soll man mit so einem verdrucksten Typen auch reden?«

»Leider galten die Mitarbeiter in der Anatomie beim übrigen Personal als ziemlich verschroben. Die Leute ekelten sich vor dem, was sie taten. Sie wurden zwar zu Partys, Picknicks und dem Grillfest am 4. Juli, das ich immer bei mir zu Hause veranstaltete, eingeladen, aber man wusste nie, ob sie auch auftauchen würden«, erklärt Scarpetta.

»War er je dabei?« Sie hört, wie Browning den Kaugummi heftig mit den Zähnen bearbeitet, während sie weiter dasteht und aus dem Fenster starrt.

»Das weiß ich beim besten Willen nicht mehr. Edgar Allan kam und ging, ohne dass es jemandem auffiel. Auch wenn es unfreundlich klingt, war er der farbloseste Mensch, der je für mich gearbeitet hat. Ich erinnere mich kaum daran, wie er aussah.«

»Aussehen ist der Schlüsselbegriff. Wir haben nämlich keine Ahnung, wie er heute aussieht.« Browning überlegt laut und blättert in seinem Notizbuch herum. »Sie sagten, er sei damals klein und rothaarig gewesen. Wie groß etwa? Eins achtundsechzig, eins siebzig? Fünfundsiebzig Kilo?«

»Eher eins fünfundsechzig und vielleicht fünfundsechzig Kilo«, erinnert sie sich. »Welche Augenfarbe er hatte, kann ich nicht sagen.«

»Laut Führerscheinstelle sind sie braun. Aber möglicherweise stimmt das nicht, weil er auch Körpergröße und Gewicht falsch angegeben hat. Auf seinem Führerschein ist er eins fünfundsiebzig und wiegt fünfundachtzig Kilo.«

»Warum fragen Sie mich dann?« Sie dreht sich um und sieht ihn an.

»Um Ihnen die Chance zu geben, sich zu erinnern, bevor ich Sie mit vermutlich falschen Informationen beeinflusse.« Er zwinkert ihr zu und kaut weiter Kaugummi. »Außerdem hat er behauptet, er hätte braunes Haar.« Er klopft mit dem Stift auf den Notizblock. »Was hat ein Typ, der in der Anatomie Leichen einbalsamiert hat, denn damals so verdient?«

»Vor acht oder zehn Jahren?« Wieder schaut sie aus dem Fenster in die Nacht hinaus und betrachtet die Lichter, die in Gilly Paulssons Haus auf der anderen Seite des Zauns brennen. Die Polizei ist auch in ihrem Garten und in ihrem Zimmer. Sie kann sehen, wie sich hinter den Vorhängen Schatten bewegen. Wahrscheinlich hat Edgar Allan Pogue durch dasselbe Fenster hineingestarrt, wann immer er die Möglichkeit dazu hatte. Er hat beobachtet, phantasiert, vielleicht sogar den Spielen zugeschaut, die in diesem Haus getrieben wurden, und dabei Flecken auf seinen Laken hinterlassen. »Meiner Schätzung nach können es nicht mehr als zweiundzwanzigtausend Dollar pro Jahr gewesen sein.«

»Und dann hat er plötzlich gekündigt und behauptet, er sei aus irgendeinem Grund arbeitsunfähig. So was kommt wohl häufiger vor.«

»Kontakt mit Formaldehyd. Er hat nicht simuliert. Ich musste damals seine Arztberichte überprüfen und habe vermutlich auch mit ihm gesprochen. Es muss so gewesen sein. Wegen des Formaldehyds hatte er eine Erkrankung der Atmungsorgane, eine Lungenfibrose, die durch Röntgenbilder und eine Biopsie nachgewiesen wurde. Soweit ich mich erinnere, ergaben die Untersuchungen, dass mit dem Sauerstoffgehalt seines Blutes einiges im Argen lag, und das Spirometer zeigte eine eindeutig eingeschränkte Atmung.«

»Spirowas?«

»Das ist ein Gerät, in das man hineinatmet, um die Atmungsfunktion zu messen.«

»Verstanden. Als ich noch geraucht habe, wäre ich wahrscheinlich durchgefallen.«

»Wenn Sie weitergeraucht hätten, wäre es irgendwann sicher so weit gewesen.«

»Gut. Also hatte Edgar Allan wirklich ein Problem. Muss ich annehmen, dass er immer noch krank ist?«

»Tja, sobald er keinen Kontakt mit Formaldehyd oder anderen reizenden Stoffen mehr hatte, hätte die Krankheit eigentlich nicht weiter fortschreiten dürfen. Das heißt allerdings nicht, dass er geheilt ist, weil sich Narbengewebe gebildet hat, und das ist irreversibel. Ja, er ist sicher immer noch nicht gesund, aber wie schwer seine Erkrankung ist, kann ich nicht sagen.«

»Dann müsste er doch regelmäßig zum Arzt gehen. Glauben Sie, wir finden den Namen seines Arztes in seiner alten Personalakte?«

»Sofern sie noch existiert, liegt sie in der Registratur. Genau genommen müssen Sie Dr. Marcus fragen. Ich bin nicht zuständig.«

»Aha. Aber mich interessiert Ihre Meinung als Ärztin, Dr. Scarpetta. Ich möchte wissen, wie krank dieser Typ ist. Geht er regelmäßig zum Arzt oder in eine Klinik, und muss er verschreibungspflichtige Medikamente einnehmen?«

»Wahrscheinlich nimmt er Medikamente. Es muss aber nicht so sein, solange er auf seine Gesundheit achtet und einen großen Bogen um Leute macht, die erkältet sind oder die Grippe haben, damit er sich nicht ansteckt. Einen Infekt der oberen Atemwege sollte er nämlich unter allen Umständen vermeiden, da er, anders als Sie oder ich, kaum noch gesundes Lungengewebe hat. Also könnte er schwer erkranken und sich zum Beispiel eine Lungenentzündung zuziehen. Wenn er zu Asthma neigt, wird er alles meiden, was einen Anfall auslösen könnte. Vielleicht nimmt er verschreibungspflichtige Medikamente wie zum Beispiel Steroide. Er könnte auch Spritzen gegen Allergien bekommen. Möglicherweise schluckt er auch frei verkäufliche Arzneimittel. Alles kommt in Frage, auch dass er seine Erkrankung einfach ignoriert.«

»Okay, okay«, erwidert Browning, klopft mit dem Stift und kaut heftig. »Aber bei einem Kampf würde ihm doch sicher rasch die Puste ausgehen.«

»Wahrscheinlich.« Dieses Gespräch dauert nun schon über eine Stunde, und Scarpetta ist sehr müde. Sie hat den ganzen Tag lang kaum etwas gegessen und fühlt sich erschöpft. »Es kann zwar sein, dass er über Muskelkraft verfügt, aber er ist in seiner körperlichen Aktivität eingeschränkt. Zum Kurzstreckenläufer oder Tennisspieler eignet er sich sicherlich nicht. Falls er jahrelang immer wieder Stereoide eingenommen hat, ist er vielleicht zu dick und hat keine gute Kondition.« Die langen hellen Strahlen der Taschenlampen gleiten über den Holzschuppen hinter dem Haus und bleiben an der Tür hängen. Ein uniformierter Polizist, der gerade mit einem Bolzenschneider das Schloss bearbeitet, steht mitten im Lichtkegel.

»Finden Sie es dann nicht seltsam, dass er Gilly Paulsson überfallen hat, obwohl sie die Grippe hatte? Hätte er denn nicht befürchten müssen, sich anzustecken?«, fragt Browning.

»Nein«, erwidert sie und beobachtet den Polizisten mit dem Bolzenschneider. Plötzlich schwingt die Tür weit auf, und die Lichtstrahlen durchbohren die Dunkelheit im Inneren des Schuppens.

»Warum nicht?«, hakt Browning nach. Scarpettas Mobiltelefon vibriert.

»Drogensüchtige mit Entzugserscheinungen denken auch nicht an Hepatitis und AIDS. Serienvergewaltiger und Mörder machen sich keine Sorgen über Geschlechtskrankheiten, wenn sie Lust haben, jemanden zu vergewaltigen oder zu ermorden«, entgegnet sie und nimmt das Telefon aus der Tasche. »Nein, ich glaube nicht, dass Edgar Allan sich den Kopf über die Grippe zerbrechen würde, wenn ihn der Drang überkommt, ein junges Mädchen umzubringen … Entschuldigen Sie bitte.« Sie nimmt das Gespräch an.

»Ich bin es«, sagt Rudy. »Es ist etwas passiert, das du wissen solltest. Es geht um den Fall, den du gerade in Richmond bearbeitest. Latente Fingerabdrücke aus diesem Fall stimmen mit denen aus einem Fall überein, an dem wir hier in Florida dran sind. IAFIS hat die Übereinstimmung festgestellt. Allerdings ist der Besitzer unbekannt.«

»Wer ist wir?«

»Ein Fall, mit dem Lucy und ich beschäftigt sind. Du weißt nicht, worum es geht, und es ist zu kompliziert, um es dir jetzt zu erklären. Lucy wollte nicht, dass du davon erfährst.«

Scarpetta hört ungläubig zu, und ihre Benommenheit schwindet. Durch das Fenster sieht sie, wie sich eine große, dunkel gekleidete Gestalt vom Schuppen hinter dem Haus entfernt. Seine Taschenlampe bewegt sich im Gleichtakt mit seinen Schritten. Marino kommt auf das Haus zu.

»Ich darf nicht drüber reden.« Er hält inne und holt Luft. »Aber ich kann Lucy nicht erreichen. Ihr gottverdammtes Telefon. Keine Ahnung, was sie gerade treibt, aber sie geht wieder mal nicht ran. Schon seit zwei Stunden nicht. Ein Mordversuch an einer unserer Mitarbeiterinnen. Sie war in Lucys Haus, als es geschah.«

»O Gott.« Scarpetta schließt kurz die Augen.

»Es ist echt seltsam. Zuerst dachte ich, sie will sich nur wichtig machen, aber die Fingerabdrücke auf der Flaschenbombe sind identisch mit denen im Schlafzimmer. Und auch dieselben wie in deinem Fall in Richmond, dem des toten Mädchens, zu dem man dich hinzugezogen hat.«

»Was genau ist der Frau in deinem Fall zugestoßen?«, erkundigt sich Scarpetta.

»Sie lag krank im Bett. Die Grippe. Wir wissen nicht genau, was dann passiert ist, nur dass er durch eine unverschlossene Tür eingedrungen sein muss. Vermutlich wurde er dadurch verscheucht, dass Lucy nach Hause gekommen ist. Das Opfer war bewusstlos, stand unter Schock und ist dann völlig ausgerastet. Keine Ahnung. Sie erinnert sich an nichts mehr, aber sie lag nackt und bäuchlings auf dem Bett. Die Decken waren heruntergezogen.«

»Verletzungen?«

»Nur ein paar Blutergüsse. Benton sagt, auf ihren Händen, ihrer Brust und auf dem Rücken.«

»Also weiß Benton davon. Jeder außer mir ist informiert«, sagt Scarpetta wütend. »Lucy hat es mir verschwiegen. Warum?«

Rudy zögert und weiß nicht, wie er sich ausdrücken soll. »Vermutlich aus persönlichen Gründen.«

»Ich verstehe.«

»Entschuldige. Ich sage lieber nichts mehr dazu. Aber es tut mir wirklich Leid. Ich hätte es dir gar nicht erzählen sollen, aber du musst es wissen, weil offenbar ein Zusammenhang zu deinem Fall besteht. Frag mich nicht, welcher. Mein Gott, so etwas Merkwürdiges ist mir noch nie untergekommen. Womit haben wir es hier zu tun, verdammt? Einem Spinner?«

»Mehr als das«, meint sie zu Rudy. »Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich um einen weißen Mann namens Edgar Allan Pogue, etwa Mitte dreißig. Es gibt Datenbanken für Apotheken«, fährt sie fort. »Er könnte in einer oder mehreren davon verzeichnet sein, weil er möglicherweise wegen einer Erkrankung der Atmungsorgane Stereoide einnimmt. Mehr kann ich dazu nicht sagen.«

»Brauchst du auch nicht«, entgegnet Rudy und klingt ein wenig aufgemuntert.

Scarpetta beendet das Gespräch und ihr schießt dabei durch den Kopf, dass sich ihre Einstellung zu Regeln verändert, wie Licht es abhängig vom Wetter und von der Jahreszeit tut. Dinge, die früher ein bestimmtes Gesicht hatten, sehen heute ganz anders aus und werden sich in den kommenden Tagen und Jahren weiter wandeln. Es gibt auf der Welt kaum eine Datenbank, auf die Das Letzte Revier keinen Zugriff hätte. Und im Moment geht es darum, ein Ungeheuer zu schnappen. Zum Teufel mit den Regeln. Zum Teufel mit den Schuldgefühlen und Zweifeln, die sie spürt, als sie im Schlafzimmer steht und das Telefon wieder in die Tasche steckt.

»Von seinem Schlafzimmerfenster konnte er in ihres hineinschauen«, führt Scarpetta das Gespräch mit Browning fort. »Falls Mrs. Paulsson ihre so genannten Spielchen im Haus veranstaltet hat, hat er sie möglicherweise durch die Scheiben beobachtet. Und wenn, Gott behüte, ein Teil davon in Gillys Zimmer stattfand, hat er das auch gesehen.«

Marino tritt ins Schlafzimmer und blickt Scarpetta eindringlich an. »Doc?«

»Ich will darauf hinaus, dass es mit der menschlichen Natur, genauer der beschädigten menschlichen Natur, eine seltsame Bewandtnis hat«, spricht sie weiter. »Jemand, der sieht, wie jemand zum Opfer gemacht wird, kann Lust bekommen, sich auch an dieser Person zu vergehen. Durch ein Fenster Zeuge sexueller Gewalt zu werden, kann provozierend auf jemanden wirken, der bereits Tendenzen …«

»Was für Spiele?«, fällt Browning ihr ins Wort.

»Doc?«, wiederholt Marino, und sein Blick ist hart. Es lodert die Wut darin, die ein Bestandteil der Jagd ist. »Offenbar haben wir es da draußen im Schuppen mit einer ziemlichen Menschenansammlung zu tun. Lauter Tote. Ich glaube, das solltest ihr euch mal anschauen.«

»Sie haben gerade von einem anderen Fall gesprochen«, hakt Browning nach, als sie den schmalen, dämmrigen und kalten Flur entlanggehen. Plötzlich hat Scarpetta das Gefühl, dass der Geruch nach Staub und Moder ihr den Atem raubt, und sie versucht, nicht an Lucy zu denken. Auch nicht daran, was ihre Nichte als persönlich und geheim einstuft. Scarpetta berichtet Browning und Marino, was sie gerade von Rudy erfahren hat. Browning reagiert aufgeregt, Marino verstummt.

»Dann ist Pogue vermutlich in Florida«, sagt Browning. »Darauf würde ich jede Wette eingehen.« Er wirkt verwirrt, während die verschiedensten Gedanken in seinen Augen aufblitzen. In der Küche bleibt er stehen und fügt hinzu: »Ich komme gleich nach.« Mit diesen Worten nimmt er das Telefon vom Gürtel.

Ein Spurensicherungsexperte in einem marineblauen Overall und mit Baseballkappe nimmt Fingerabdrücke von der Abdeckung des Lichtschalters in der Küche. Scarpetta hört die anderen Polizisten im Wohnzimmer des bedrückenden kleinen Hauses. An der Hintertür stehen große schwarze Müllsäcke, verschlossen und als Beweisstücke etikettiert. Junius Eise fällt ihr ein. Er wird alle Hände voll damit zu tun haben, den wirren Müll aus Edgar Allan Pogues wirrem Leben zu sortieren.

»Hat der Kerl je in einem Beerdigungsinstitut gearbeitet?«, fragt Marino Scarpetta. Hinter dem Haus ist der Garten überwuchert, tot und mit feuchtem Laub bedeckt. »In dem Schuppen stapeln sich Unmengen von Kartons, in denen sich offenbar menschliche Asche befindet. Sie scheinen zwar schon ein paar Jahre alt zu sein, stehen meiner Ansicht nach aber noch nicht lange hier. So als ob er sie erst vor kurzem in den Schuppen gebracht hätte.«

Sie schweigt, bis sie den Schuppen erreicht haben. Dort angekommen, leiht sie sich von einem Polizisten die Taschenlampe und leuchtet mit dem starken Strahl in den Raum. Das Licht fällt auf große Müllsäcke aus Plastik, die die Polizisten geöffnet haben. Daraus ergießen sich weiße Asche, kalkige Knochenstückchen und billige Blechschachteln und Zigarrenkistchen, die mit weißem Staub bedeckt sind. Einige davon sind verbeult. Neben der offenen Tür steht ein Polizist, deutet mit einem Schlagstock hinein und stochert in einem offenen Sack mit Asche herum.

»Glauben Sie, er hat diese Leute selbst verbrannt?«, will der Polizist von Scarpetta wissen. Der Lichtstrahl ihrer Lampe gleitet durch das Innere des Schuppens und bleibt an langen Knochen und einem Schädel hängen, der die Farbe von altem Pergament hat.

»Nein«, erwidert sie. »Dazu hätte er sein eigenes Krematorium haben müssen. Das sind typische Krematoriumsreste.« Sie weist mit dem Lichtstrahl auf einen staubigen und verbeulten Karton, der halb unter der Asche in einem Müllsack begraben ist. »Die Asche des Verstorbenen wird den Angehörigen in einem einfachen Karton wie diesem ausgehändigt. Wer etwas Eleganteres will, muss es kaufen.« Sie beleuchtet die unverbrannten langen Knochen und den Schädel, der ihnen aus schwarzen leeren Augenhöhlen und mit einer zahnlückigen Grimasse entgegenstarrt. »Um eine menschliche Leiche zu Asche zerfallen zu lassen, sind Temperaturen von mehr als tausend Grad nötig.«

»Was ist mit den unverbrannten Knochen?« Er deutet mit dem Schlagstock auf die langen Knochen und den Schädel. Obwohl der Schlagstock in seiner Hand nicht zittert, merkt sie ihm sein Entsetzen an.

»Ich würde nachprüfen, ob es in dieser Gegend kürzlich Fälle von Grabraub gegeben hat«, sagt sie. »Die Knochen machen einen ziemlich alten Eindruck auf mich. Frisch sind sie ganz sicher nicht. Außerdem rieche ich nichts, was auf verwesende Leichen hinweist.« Sie sieht den Schädel an, der ihren Blick erwidert.

»Nekrophilie«, verkündet Marino, lässt den Lichtstrahl seiner Lampe durch den Schuppen tanzen und beleuchtet den weißen Staub von unzähligen Menschen, der offenbar jahrelang irgendwo gesammelt wurde und vor kurzem in diesen Schuppen gebracht worden ist.

»Ich weiß nicht«, antwortet Scarpetta, knipst ihre Lampe aus und entfernt sich vom Schuppen. »Allerdings könnte er durchaus eine Betrugsmasche am Laufen haben. Er nimmt die Asche Verstorbener gegen eine Gebühr an und behauptet, den letzten Wunsch des armen Teufels zu erfüllen, indem er seine Überreste auf einem Berg, über dem Meer, in einem Garten oder an seinem liebsten Fischteich verstreut. Nachdem er das Geld kassiert hat, lagert er die Asche einfach irgendwo ein, vermutlich in diesem Schuppen. Niemand weiß davon. So etwas ist schon öfter vorgekommen. Vielleicht hatte er ja bereits damit anfangen, als er noch für mich gearbeitet hat. Ich würde mich auch mit den hiesigen Krematorien in Verbindung setzen und mich erkundigen, ob er sich dort herumgedrückt hat, um Kundschaft anzuwerben. Natürlich wird das wahrscheinlich niemand zugeben.« Sie stapft durch das feuchte tote Laub davon.

»Also geht es um Geld?« Der Polizist mit dem Schlagstock folgt ihr. Seine Stimme klingt ungläubig.

»Möglicherweise hat ihn der Tod irgendwann so fasziniert, dass er angefangen hat, ihn selbst herbeizuführen«, antwortet sie und marschiert weiter durch den Garten. Der Regen hat aufgehört. Der Wind hat sich gelegt, und der Mond lugt hinter den Wolken hervor. Er ist dünn und fahl und steht wie eine Glasscherbe hoch über dem vermoosten Schieferdach des Hauses, in dem Edgar Allan Pogue gelebt hat.

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