Der Flug mit der Sabena nach Moskau dauerte dreieinhalb Stunden. Dana bemerkte, dass die meisten Passagiere warme Kleidung trugen und dass in der Gepäckablage lauter Pelzmäntel, Mützen und Schals lagen.
Ich hätte mich wärmer anziehen sollen, dachte sie. Na ja, ich will ja nur ein, zwei Tage in Moskau bleiben.
Immer wieder musste sie an Antonio Persicos Worte denken. Winthrop war wie von Sinnen. Er hat am Telefon nur ständig gesagt: »Das russische Vorhaben muss durchgeführt werden. Wir sind schon zu weit gegangen, als dass wir uns jetzt noch von irgendetwas aufhalten lassen dürfen.«
Mit was für einem wichtigen Vorhaben war Winthrop beschäftigt gewesen? Welche Einzelheiten waren geregelt? Und kurz darauf hat ihn der Präsident zum Botschafter in Moskau ernannt.
Je mehr ich erfahre, desto weniger werde ich aus dem Ganzen schlau, stellte Dana fest.
Scheremetjewo II, der internationale Flughafen der russischen Hauptstadt, war zu Danas Erstaunen voller Touristen.
Wie kann ein vernünftiger Mensch nur im Winter nach Russland reisen?, fragte sie sich.
Als Dana zur Gepäckausgabe kam, fiel ihr ein Mann auf, der sie verstohlen betrachtete. Dana stockte das Herz. Die haben gewusst, dass ich komme, dachte sie. Aber woher nur?
Der Mann kam auf sie zu. »Dana Evans?« Er sprach mit schwerem slawischem Akzent.
»Ja .«
Er lächelte über das ganze Gesicht und sagte begeistert:
»Sie mein größtes Fan. Sie mich immerzu im Fernsehen anschauen.«
Dana fiel ein Stein vom Herzen. »Oh. Ja. Vielen Dank.« »Ob Sie wohl könnten so freundschaftlich sein und mir ein Autogramm geben?«
»Natürlich.«
Er hielt ihr ein Blatt Papier hin. »Ich nicht haben Stift.« »Aber ich.« Dana zückte ihren goldenen Kugelschreiber und gab ihm ein Autogramm.
»Spasiba! Spasiba!«
Als Dana ihren Kuli wieder in die Handtasche stecken wollte, rempelte sie jemand an, und der Stift fiel auf den Betonboden. Dana bückte sich und hob ihn auf. Das Gehäuse war gesprungen.
Hoffentlich lässt sich das wieder reparieren, dachte Dana. Dann besah sie sich den Schaden genauer. Ein dünner Draht ragte aus dem Sprung. Verdutzt zog sie daran. Ein winziger Sender hing daran. Ungläubig betrachtete ihn Dana. Deshalb haben die ständig gewusst, wo ich mich aufhalte! Aber wer hat ihn angebracht und warum? Dann fiel ihr die Karte ein, die dem Geschenk beigelegt war.
Liebe Dana, wir wünschen Ihnen eine angenehme Reise. Die Bande.
Wütend riss Dana den Sender heraus, warf ihn zu Boden und zertrat ihn mit dem Absatz ihres Schuhs.
In einem hermetisch von der Außenwelt abgeschirmten Laboratorium verschwand plötzlich der Markierungspunkt auf der Landkarte am Computermonitor.
»Verdammter Mist.«
»Dana?«
Sie drehte sich um. Der WTN-Korrespondent in Moskau stand hinter ihr.
»Ich bin Tim Drew. Tut mir Leid, dass ich zu spät komme. Der Verkehr da draußen ist der reinste Albtraum.«
Tim Drew war um die vierzig, ein großer, rothaariger Mann mit einem freundlichen Lächeln. »Mein Wagen steht draußen. Matt sagt, dass Sie nur ein, zwei Tage bleiben wollen.«
»Stimmt.«
Sie holten Danas Gepäck vom Förderband und begaben sich nach draußen.
Die Fahrt in die Innenstadt kam Dana vor wie eine Szene aus Doktor Schiwago. Ganz Moskau, so schien es, lag unter einer dicken Schneedecke.
»Das ist ja herrlich!«, rief Dana. »Wie lange sind Sie schon hier?«
»Zwei Jahre.«
»Gefällt es Ihnen?«
»Es ist ein bisschen unheimlich. Jelzin kriegt nichts mehr auf die Reihe, und keiner weiß, was er von Wladimir Putin erwarten soll. Das reinste Tollhaus.« Er trat abrupt auf die Bremse und ließ ein paar Fußgänger vorbei, die einfach die Straße überquerten, ohne nach links oder rechts zu blicken. »Sie sind im Hotel Sewastopol untergebracht.«
»Ja. Wie ist es dort?«
»Eins der typischen Intourist-Hotels. Sie können davon ausgehen, dass irgendjemand auf Ihrer Etage Sie ständig im Auge behält.«
Die Straßen waren voller Menschen mit Pelzmützen, dik-ken Pullovern und Wintermänteln. Tim Drew warf Dana einen kurzen Blick zu. »Sie sollten sich lieber ein paar wärmere Klamotten besorgen, sonst frieren Sie hier fürchterlich.«
»Ich komme schon klar. Morgen, spätestens übermorgen will ich wieder auf dem Heimweg sein.«
Vor ihnen lag der Rote Platz, und daneben, auf einer Anhöhe über dem linken Ufer der Moskwa, ragten die Türme des Kreml auf.
»Mein Gott, ist das eindrucksvoll«, sagte Dana.
»Ja. Wenn diese Mauern sprechen könnten, würden einem vor lauter Geschrei die Ohren klingeln. Es ist eins der berühmtesten Bauwerke der Welt«, fuhr Tim Drew fort. »Er wurde auf dem Borowizkij-Hügel am nördlichen Ufer der Moskwa erbaut und ...«
Dana hörte gar nicht mehr zu. Und wenn Antonio Persico gelogen hat?, dachte sie. Wenn er sich die ganze Geschichte, dass Taylor Winthrop den Jungen überfahren hat, nur zusammengereimt hat? Wenn dieses ganze russische Vorhaben nichts als ein Hirngespinst ist?
»Dort, vor der östlichen Kremlmauer, befindet sich der Rote Platz. Am Kutafja-Turm dort ist der Eingang für Besucher an der Westmauer.«
Aber wieso wollte dann Taylor Winthrop unbedingt nach Russland? Der Posten als Botschafter kann ihm doch nicht so viel bedeutet haben.
»Von hier aus ist Russland jahrhundertelang regiert worden«, sagte Tim Drew gerade. »Hier haben Iwan der Schreckliche und Stalin residiert, desgleichen Lenin und Chruschtschow.«
Alle Einzelheiten sind geregelt. Ich muss herausfinden, was er damit gemeint hat.
Sie hielten vor einem riesigen Hotel. »Da wären wir«, sagte Tim Drew.
»Danke, Tim.« Eisige Luft schlug Dana entgegen, als sie aus dem Wagen stieg.
»Gehen Sie schon mal rein«, rief Tim. »Ich bringe Ihnen Ihre Koffer. Übrigens, falls Sie heute Abend noch nichts vorhaben sollten, würde ich Sie gern zum Essen ausführen.«
»Ich danke Ihnen vielmals.« »Es gibt da einen Privatclub, der eine ziemlich gute Küche hat. Ich glaube, der wird Ihnen gefallen.«
»Fein.«
Das prunkvolle Foyer des Hotels Sewastopol war riesengroß und voller Menschen. Etliche Portiers waren an der Rezeption im Einsatz. Dana ging zu einem von ihnen.
»Ich bin Dana Evans. Ich habe ein Zimmer reservieren lassen.«
Der Mann blickte sie einen Moment lang an. »Ah, ja. Miss Evans«, sagte er dann nervös. Er reichte ihr die Anmeldekarte. »Wenn Sie die bitte ausfüllen möchten. Und außerdem brauchte ich Ihren Pass.«
Als Dana sich einschrieb, warf der Hotelbedienstete einem Mann, der am anderen Ende des Foyers stand, einen Blick zu und nickte. Dana reichte ihm die Anmeldekarte.
»Ich lasse Sie von jemandem auf Ihr Zimmer bringen.«
»Vielen Dank.«
Das Zimmer kündete von einstiger Pracht und Größe, auch wenn das Mobiliar zerschrammt und abgewetzt war und ein muffiger Geruch in der Luft hing.
Eine stämmige Frau in einer unförmigen Kluft brachte Danas Gepäck. Dana gab ihr ein paar Dollar Trinkgeld, worauf die Frau einmal kurz schniefte und sich verzog. Dana griff zum Telefon und wählte die Nummer 252-2451.
»Amerikanische Botschaft.«
»Botschafter Hardy bitte.«
»Einen Moment.«
»Botschaftsbüro.«
»Hallo. Dana Evans hier. Könnte ich den Botschafter sprechen?«
»Botschafter Hardys Büro.«
»Hallo. Hier ist Dana Evans. Kann ich den Botschafter sprechen?« »Könnten Sie mir sagen, worum es geht?«
»Es - es geht um ein persönliches Anliegen.«
»Einen Moment bitte.«
Dreißig Sekunden später war Botschafter Hardy am Apparat. »Miss Evans?«
»Ja.«
»Willkommen in Moskau.«
»Vielen Dank.«
»Roger Hudson hat Sie bereits angekündigt. Womit kann ich Ihnen dienen?«
»Dürfte ich vielleicht vorbeikommen und mit Ihnen sprechen?«
»Aber gewiss doch. Ich bin - einen Moment mal.« Kurz darauf meldete sich der Botschafter zurück. »Wie wär’s mit morgen früh? Um zehn Uhr?«
»Von mir aus gern. Ich danke Ihnen vielmals.«
Dana blickte aus dem Fenster auf die Menschen, die eiligen Schrittes in der bitteren Kälte draußen vorüberhasteten. Tim hat Recht, dachte sie. Ich sollte mir lieber ein paar warme Sachen besorgen.
Das berühmte GUM war nicht weit von Danas Hotel entfernt. Es war ein riesiges Kaufhaus, in dem allerlei billiger Ramsch feilgeboten wurde.
Dana ging in die Abteilung für Damenkonfektion, wo etliche Ständer voller dicker Wintermäntel hingen. Sie suchte sich einen roten Wollmantel aus und einen dazu passenden roten Schal. Es dauerte zwanzig Minuten, bis sie jemanden fand, bei dem sie bezahlen konnte.
Danas Handy klingelte, als sie ins Hotel zurückkehrte. Jeff war dran.
»Hallo, meine Liebste. Ich habe an Silvester bei dir angerufen, aber über Handy hast du dich nicht gemeldet, und ich wusste nicht, wie ich dich anderweitig erreichen kann.«
»Tut mir Leid, Jeff.« Er hat es also nicht vergessen. Gottlob.
»Wo steckst du?«
»In Moskau.«
»Ist alles in Ordnung, Liebling?«
»Bestens. Sag mal, Jeff, wie geht es Rachel?«
»Das kann man noch nicht sagen. Die Ärzte wollen morgen eine neue Behandlungsmethode anwenden. Irgendwas, das bisher noch in der Erprobungsphase ist. In ein paar Tagen müssten die ersten Ergebnisse vorliegen.«
»Hoffentlich spricht es an«, sagte Dana.
»Ist es drüben bei dir kalt?«
Dana lachte. »Das kannst du dir gar nicht vorstellen. Ich komme mir vor wie ein Eiszapfen.«
»Ich wünschte, ich wäre da und könnte dich zum Schmelzen bringen.«
Fünf Minuten lang redeten sie miteinander, dann hörte Dana im Hintergrund, wie Rachel nach Jeff rief.
»Ich muss Schluss machen, Liebling«, sagte Jeff. »Rachel braucht mich.«
Ich brauche dich ebenfalls, dachte Dana. »Ich liebe dich.«
»Ich dich auch.«
Die amerikanische Botschaft am Nowinskij Bulvar war ein altes, heruntergekommenes Gebäude, vor dem russische Posten in Schilderhäuschen Wache standen. Eine lange Schlange geduldig wartender Menschen hatte sich davor gebildet. Dana ging daran vorbei und nannte einem Posten ihren Namen. Er warf einen Blick auf eine Liste und winkte sie durch.
Am Eingang stand ein amerikanischer Marineinfanterist in einem Kabuff aus kugelsicherem Glas. Eine weibliche Sicherheitskraft, auch sie eine Amerikanerin, überprüfte den Inhalt von Danas Handtasche.
»Okay.«
»Vielen Dank.« Dana ging zur Rezeption. »Dana Evans.«
»Der Botschafter erwartet Sie bereits, Miss Evans«, sagte ein Mann, der am Schalter stand. »Wenn Sie bitte mitkommen möchten.«
Dana stieg hinter ihm die Marmortreppe hinauf und folgte ihm zu einem Empfangsraum am Ende eines langen Flurs. Eine attraktive Frau, etwa Anfang vierzig, lächelte, als Dana eintrat. »Miss Evans«, sagte sie, »wie nett. Ich bin Lee Hopkins, die Sekretärin des Botschafters. Sie dürfen gleich hineingehen.«
Dana ging in das eigentliche Büro. Botschafter Edward Hardy erhob sich, als sie sich dem Schreibtisch näherte.
»Guten Morgen, Miss Evans.«
»Guten Morgen«, sagte Dana. »Danke, dass Sie mich empfangen.«
Der Botschafter war ein großer, gesund und kräftig wirkender Mann, der sich betont herzlich gab - ein typischer Politiker.
»Sehr erfreut, Sie kennen zu lernen. Darf ich Ihnen etwas anbieten?«
»Nein, danke.«
»Bitte nehmen Sie Platz.«
Dana setzte sich.
»Ich war begeistert, als Roger Hudson mir Ihren Besuch ankündigte. Sie sind zu einem höchst interessanten Zeitpunkt gekommen.«
»Ach ja?«
»Ich sage das nur ungern, aber ich fürchte, unter uns gesagt, dass sich dieses Land im freien Fall befindet.« Er seufzte. »Ehrlich, ich habe keine Ahnung, was hier als nächstes geschehen wird, Miss Evans. Dieses Land hat eine über achthundertjährige Geschichte, und wir müssen hier mit ansehen, wie es den Bach runtergeht. Die Kriminellen haben hier zu Lande das Sagen.«
Dana blickte ihn fragend an. »Wie meinen Sie das?«
Der Botschafter lehnte sich zurück. »Laut Gesetz darf kein Mitglied der Duma - das ist das Parlament - wegen einer Straftat verfolgt werden. Was darauf hinausläuft, dass in der Duma lauter Leute sitzen, die alles Mögliche auf dem Kerbholz haben - teils sind es ehemalige Sträflinge, teils Gauner, die weiterhin ihren kriminellen Machenschaften frönen. Keiner von ihnen kann belangt werden.«
»Das ist ja unglaublich«, versetzte Dana.
»Ja. Die Menschen in Russland sind wunderbar, aber ihre Regierung . Nun gut, womit kann ich Ihnen dienen, Miss Evans?«
»Ich möchte Ihnen ein paar Fragen über Taylor Winthrop stellen. Ich arbeite an einer Reportage über seine Familie.«
Botschafter Hardy schüttelte bekümmert den Kopf. »Es kommt einem vor wie eine griechische Tragödie, nicht wahr?«
»Ja.« Schon wieder diese Formulierung.
Botschafter Hardy musterte Dana neugierig. »Diese Geschichte ist doch schon zig Male abgehandelt worden. Meiner Meinung nach gibt es dazu nichts mehr zu sagen.«
»Ich möchte vor allem auf seine Persönlichkeit eingehen. Ich möchte wissen, wie Taylor Winthrop wirklich war, was für ein Mensch er war, was für Freunde er hier hatte, ob er irgendwelche Feinde hatte .«
»Feinde?« Er blickte erstaunt auf. »Keine. Jeder mochte Taylor. Er war vermutlich der beste Botschafter, den wir hier jemals hatten.«
»Haben Sie mit ihm zusammengearbeitet?«
»Ja. Ich war ein Jahr lang sein Stellvertreter.«
»Botschafter Hardy, wissen Sie, ob Taylor Winthrop hier mit irgendetwas beschäftigt war, bei dem -« Sie stockte, wusste nicht genau, wie sie es ausdrücken sollte »- viele Einzelheiten zu regeln waren?«
Botschafter Hardy runzelte die Stirn. »Beziehen Sie sich dabei auf etwas Geschäftliches, oder meinen Sie ein Abkommen auf Regierungsebene?«
»Das weiß ich nicht genau«, räumte Dana ein.
Botschafter Hardy dachte einen Moment lang nach. »Ich auch nicht. Nein, ich habe keine Ahnung, worum es sich dabei handeln könnte.«
»Gibt es unter dem derzeitigen Botschaftspersonal jemanden«, sagte Dana, »der auch für ihn tätig war?«
»O ja. Lee zum Beispiel, meine Sekretärin. Sie war auch Taylors Sekretärin.«
»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mit ihr spreche?«
»Ganz und gar nicht. Ich stelle Ihnen sogar eine Liste mit einigen Leuten zusammen, die Ihnen eventuell weiterhelfen könnten.«
»Das wäre wunderbar. Vielen Dank.«
Er erhob sich. »Seien Sie vorsichtig, solange Sie sich hier aufhalten, Miss Evans. Es gibt allerhand Straßenkriminalität.«
»Das habe ich schon gehört.«
»Trinken Sie kein Leitungswasser. Nicht mal die Russen rühren es an. Oh, und wenn Sie auswärts essen, müssen Sie ausdrücklich auf einem tschisti stol bestehen - das heißt so viel wie reiner Tisch -, sonst finden Sie an Ihrem Platz lauter teure Vorspeisen vor, die Sie nicht wollen. Wenn Sie sich etwas kaufen wollen, halten Sie sich am besten ans Arbat. In den Läden dort gibt es so gut wie alles. Und seien Sie mit den hiesigen Taxis vorsichtig. Nehmen Sie die älteren, zerschrammten. Die Schwindler und Betrüger fahren meistens Neuwagen.«
»Vielen Dank.« Dana lächelte. »Ich werd’s mir merken.«
Fünf Minuten später sprach Dana mit Lee Hopkins, der Sekretärin des Botschafters. Sie waren allein in einem kleinen Zimmer und hatten die Tür geschlossen.
»Wie lange waren Sie für Botschafter Winthrop tätig?«
»Achtzehn Monate. Was möchten Sie denn wissen?«
»Hat sich Botschafter Winthrop irgendwelche Feinde gemacht, als er hier war?«
Lee Hopkins schaute Dana verwundert an. »Feinde?«
»Ja. Wenn man so einen Posten innehat, wäre es doch denkbar, dass man auch mal zu jemandem nein sagen muss, der einem das vielleicht übel nimmt. Botschafter Winthrop konnte doch bestimmt nicht jeden Wunsch erfüllen.«
Lee Hopkins schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen, Miss Evans, aber wenn Sie vorhaben, etwas schlechtes über Taylor Winthrop zu veröffentlichen, sind Sie bei mir an die falsche Person geraten. Er war der freundlichste, rücksichtsvollste Mensch, den ich je kennen gelernt habe.«
Da wären wir wieder, dachte Dana.
In den nächsten zwei Stunden sprach Dana mit vier weiteren Leuten, die während Taylor Winthrops Amtszeit in der Botschaft tätig gewesen waren.
Er war ein hinreißender Mann ...
Er mochte die Menschen wirklich ...
Er hat sich eigens dafür eingesetzt, uns zu helfen .
Feinde? Doch nicht Taylor Winthrop .
Ich vergeude meine Zeit, dachte Dana. Sie suchte noch einmal Botschafter Hardy auf.
»Haben Sie etwas in Erfahrung gebracht?«, fragte er. Er wirkte weit weniger freundlich.
Dana zögerte. »Nicht unbedingt«, sagte sie offen.
Er beugte sich vor. »Und meiner Meinung nach werden Sie das auch nicht, Miss Evans. Jedenfalls nicht, wenn Sie darauf aus sind, Taylor Winthrop anzuschwärzen. Sie haben jeden hier im Haus gegen sich aufgebracht. Die Leute haben den Mann geliebt. Das gilt auch für mich. Versuchen Sie keine Leichen auszugraben, die es nicht gibt. Wenn Sie nur zu diesem Zweck hergekommen sind, können Sie gleich wieder abreisen.«
»Vielen Dank«, sagte Dana. »Das werde ich auch.«
Doch Dana dachte nicht daran, wieder abzureisen.
Der unmittelbar gegenüber von Kreml und Manege gelegene VIP National Club war ein Restaurant samt angeschlossenem Casino, das sich in Privatbesitz befand. Tim Drew wartete bereits, als Dana dort eintraf.
»Willkommen«, sagte er. »Ich glaube, das hier wird Ihnen gefallen. Hier verkehrt die gesamte feine Gesellschaft von Moskau. Wenn auf dieses Lokal eine Bombe fiele, wäre wohl die ganze Regierung auf einen Schlag ausgeschaltet.«
Das Essen war köstlich. Sie fingen mit Blini und Kaviar an, ließen sich danach Borschtsch auftischen, gefolgt von georgischem Stör in Walnusssoße, Boeuf Stroganoff mit Reis und Watruschki-Käsetörtchen als Dessert.
»Das ist ja wunderbar«, sagte Dana. »Ich habe bisher immer nur gehört, dass das Essen in Russland fürchterlich wäre.«
»Ist es auch«, versicherte ihr Tim Drew. »Das hier ist nicht Russland. Das ist eine Art Insel der Seligen.«
»Wie ist das Leben hier?«, fragte Dana.
Tim Drew überlegte einen Moment lang. »Es ist, als ob man auf einem Vulkan steht und darauf wartet, dass er ausbricht. Man weiß nie, was demnächst passieren wird. Die Männer, die an der Macht sind, plündern das Land aus und verschieben Milliardenbeträge, und das Volk leidet Hunger. Genau so hat hier die letzte Revolution angefangen. Wer weiß, was diesmal passiert. Aber um gerecht zu sein - das ist nur die eine Seite der Medaille. Das kulturelle Angebot ist unglaublich. Hier gibt es das Bolschoi-Ballett, die große Eremitage, das Puschkin-Museum, den Moskauer Nationalzirkus - und so weiter und so fort. In Russland werden mehr Bücher veröffentlicht als in der ganzen übrigen Welt zusammen, und die Russen lesen im Schnitt etwa dreimal so viele Bücher wie die Amerikaner.«
»Vielleicht lesen sie die falschen Bücher«, versetzte Dana trocken.
»Kann sein. Im Augenblick steckt das ganze Volk irgendwo zwischen Kapitalismus und Kommunismus, und keins von beiden haut hin. Nichts funktioniert, die Kosten explodieren, und die Kriminalität nimmt überhand.« Er blickte zu Dana. »Ich hoffe nur, ich verderbe Ihnen nicht die Laune.«
»Nein. Sagen Sie mal, Tim, haben Sie Taylor Winthrop gekannt?«
»Ich habe ihn ein paar Mal interviewt.«
»Haben Sie mal irgendwas von einem großen Vorhaben gehört, an dem er beteiligt war?«
»Er war an allerhand Projekten beteiligt. Immerhin war er unser Botschafter.«
»Das habe ich nicht gemeint. Mir geht es um etwas anderes. Eine ganz vertrackte Sache - bei der viele Einzelheiten zu regeln waren.«
Tim Drew dachte kurz nach. »Dazu fällt mir nichts ein.«
»Gibt es hier irgendjemanden, mit dem er häufiger zu tun hatte?«
»Ein paar seiner russischen Ansprechpartner, nehme ich an. Mit denen sollten Sie vielleicht mal reden.«
»Gut«, sagte Dana. »Mach ich.«
Der Kellner brachte ihnen die Rechnung. Tim Drew überflog sie und blickte dann zu Dana. »Das ist mal wieder typisch. Auf der Rechnung hier sind drei verschiedene Zuschläge aufgeführt. Und fragen Sie bitte nicht, wofür die sind.« Er bezahlte.
»Haben Sie eine Waffe bei sich?«, sagte Tim Drew zu Dana, als sie draußen auf der Straße standen.
Sie blickte ihn verdutzt an. »Natürlich nicht. Wieso?«
»Weil wir hier in Moskau sind. Da kann man nie wissen, was kommt.« Dann fiel ihm etwas ein. »Wissen Sie was? Wir machen einen kurzen Abstecher.«
Sie stiegen in ein Taxi, und Tim Drew nannte dem Fahrer eine Adresse. Fünf Minuten später hielten sie vor einem Waffengeschäft und stiegen aus.
Dana warf einen Blick in den Laden. »Ich will mir keine Schusswaffe zulegen.«
»Ich weiß«, erwiderte Tim Drew. »Kommen Sie einfach mit.« In den Auslagen des Geschäfts wurde jede nur erdenkliche Waffe angeboten.
Dana blickte sich um. »Kann hier jeder einfach reinschneien und sich eine Knarre kaufen?«
»Man braucht nur das nötige Kleingeld«, sagte Tim Drew.
Der Mann hinter dem Ladentisch grummelte Tim irgendetwas auf Russisch zu. Tim erklärte ihm, was er wollte.
»Da.« Er griff unter den Ladentisch und holte eine kleine schwarze Dose hervor.
»Wofür soll das sein?«, fragte Dana.
»Das ist für Sie. Pfefferspray.« Tim Drew nahm die Dose in die Hand. »Sie müssen nur auf den Knopf da oben drük-ken, dann lassen Sie die bösen Buben in Ruhe, weil das viel zu weh tut.«
»Ich glaube nicht -«, setzte Dana an.
»Nun nehmen Sie sie schon. Sie können mir ruhig glauben.« Er reichte Dana die Dose, drückte dem Mann ein paar Scheine in die Hand und ging mit ihr hinaus.
»Möchten Sie mal einen Moskauer Nachtclub erleben?«, fragte Tim Drew.
»Klingt nicht schlecht.«
»Großartig. Dann nichts wie hin.«
Der Night Flight Club in der Uliza Twerskaja war ebenso plüschig wie prunkvoll und voller gut gekleideter Russen, die hier speisten, zechten und tanzten.
»Den Leuten hier scheint es ja nicht schlecht zu gehen«, stellte Dana fest.
»Nein. Die sorgen schon dafür, dass die Bettler draußen bleiben.«
Um zwei Uhr morgens kehrte Dana todmüde in ihr Hotel zurück. Es war ein langer Tag gewesen. Eine Frau saß an einem Tisch im Flur und führte Buch über das Kommen und Gehen der Gäste.
Dana begab sich in ihr Zimmer und ging ans Fenster, vor dem im Mondlicht leise der Schnee rieselte. Ein malerischer Anblick, fast wie auf einer Ansichtskarte.
Morgen, dachte Dana entschlossen, morgen werde ich erfahren, weshalb ich hierher gekommen bin.
Der Düsenlärm des anfliegenden Jets war so laut, dass man meinte, die Maschine würde jeden Augenblick das Haus streifen. Der Mann stand rasch auf, griff zu dem Fernglas auf dem Schreibtisch und trat ans Fenster. Er konnte gerade noch das Heck der Maschine erkennen, die zum Landeanflug auf den kleinen, eine halbe Meile entfernten Flugplatz ansetzte. Von der frisch geräumten Rollbahn einmal abgesehen, war die ganze Einöde ringsum tief verschneit. Immerhin waren sie hier in Sibirien, mitten im Winter.
»Aha«, sagte er zu dem Mann neben ihm. »Die Chinesen sind wieder mal die Ersten.« Eine Bemerkung, auf die es nichts zu erwidern gab. »Wie man mir mitteilte, wird unser alter Freund Ling Wong diesmal nicht dabei sein. Als er von unserer letzten Zusammenkunft mit leeren Händen zurückkehrte, bereitete man ihm einen etwas unangenehmen Empfang. Schade um ihn. Er war ein anständiger Mann.«
In diesem Augenblick donnerte ein weiterer Jet über das Dach hinweg. Er konnte nicht erkennen, woher er stammte, doch sobald die Maschine gelandet war, richtete er das Fernglas auf die Tür und beobachtete die Männer, die von Bord gingen. Ein paar von ihnen machten nicht die geringsten Anstalten, die Maschinenpistolen zu verbergen, die sie unter die Achsel geklemmt hatten.
»Die Palästinenser sind eingetroffen.«
Ein weiterer Jet donnerte über sie hinweg. Fehlen noch zwölf, dachte er. Die morgige Auktion wird die größte Versteigerung aller Zeiten sein. Dabei darf nichts schief gehen.
Er wandte sich an seinen Begleiter. »Notieren Sie.«
VERTRAULICHE MITTEILUNG AN ALLE EINSATZKRAEFTE -NACH KENNTNISNAHME SOFORT VERNICHTEN.
ZIELPERSON WEITERHIN UEBERWACHEN. BERICHTEN SIE UEBER KONTAKTAUFNAHMEN UND HALTEN SIE SICH FALLS NOETIG BEREIT ZUM LIQUIDIEREN.