Ein hoher Maschendrahtzaun und ein rotes Schild mit der Aufschrift No Trespassing - Zutritt verboten sorgten dafür, dass kein Unbefugter auf das von hohen Bäumen bestandene Gelände in Raven Hill gelangte, auf dem sich die Zentrale der FRA in England befand. Auf dem streng bewachten Stützpunkt ragte eine Reihe von Satellitenschüsseln auf, mit denen der gesamte Fernsprechverkehr, der per Kabel oder auf dem Funkweg über Großbritannien geleitet wurde, abgehört werden konnte. In einem inmitten der Anlage stehenden Betonbau saßen vier Männer vor einem großen Bildschirm.
»Beam sie hoch, Scotty.«
Sie sahen, wie die Wohnung in Brighton, die sie soeben ausgespäht hatten, vom Bildschirm verschwand. Im nächsten Moment tauchte Dana auf, die gerade ihr Zimmer im Sojus-Hotel betrat.
»Sie ist zurück.« Sie beobachteten, wie Dana sich hastig die blutigen Hände wusch und sich entkleidete.
»Hey, da wären wir wieder.« Einer der Männer grinste.
Sie sahen zu, wie Dana sich auszog.
»Mann, die würde ich gern mal bumsen.«
Ein anderer Mann kam hereingestürmt. »Lieber nicht, Charlie. Es sei denn, du stehst auf Leichen.«
»Was soll das heißen?«
»Dass sie demnächst einen tödlichen Unfall erleidet.«
Dana warf einen Blick auf ihre Uhr, sobald sie wieder angezogen war. Noch hatte sie reichlich Zeit, um den Bus vom Metropol zum Flughafen zu erwischen. Sie war immer noch zutiefst verstört, als sie hinunter ins Foyer hastete. Die ältere Frau war nirgendwo zu sehen.
Dana ging hinaus auf die Straße. Kaum zu glauben, aber es war noch kälter geworden. Gnadenlos pfiff ihr der Wind um die Ohren. Ein Taxi hielt vor Dana.
»Taxi?«
Nehmen Sie kein Taxi. Begeben Sie sich unverzüglich zum Hotel Metropol. Von dem Hotel aus verkehren regelmäßig Busse zum Flughafen.
»Njet.«
Dana ging die eisige Straße entlang. Menschen drängten sich an ihr vorbei, strebten eiligen Schrittes ihren warmen Wohnungen oder Büros zu. Als Dana an eine belebte Kreuzung kam und auf eine Lücke im Verkehr wartete, versetzte ihr jemand von hinten einen heftigen Stoß, sodass sie mitten auf die Straße flog, genau vor einen Lastwagen. Sie rutschte auf einem Eisbrett aus, fiel auf den Rücken. Entsetzt blickte sie auf, als der schwere Laster auf sie zuraste.
In letzter Sekunde riss der Fahrer geistesgegenwärtig das Lenkrad herum, sodass der Lastwagen genau über Dana hinwegrollte. Einen Moment lang war sie in tiefe Dunkelheit gehüllt, hörte nur mehr das Röhren des Motors und das Klirren der Schneeketten an den mächtigen Reifen.
Dann konnte sie wieder den Himmel über sich sehen. Der Laster war weg. Benommen setzte sich Dana auf. Jemand half ihr auf die Beine. Sie blickte sich um, versuchte festzustellen, wer sie geschubst hatte, doch der Betreffende war längst in der Menschenmenge untergetaucht. Dana atmete ein paarmal tief durch, bis sich sich halbwegs wieder gefasst hatte. Die Menschen rundum schrien sie auf Russisch an, drängten auf sie ein, versetzten sie allmählich in Panik.
»Hotel Metropol?«, rief sie beklommen.
Eine Horde halbwüchsiger Jungen drängte sich nach vorn. »Klar. Wir Sie hinbringen«, sagte einer von ihnen.
Das Foyer des Hotel Metropol war gottlob angenehm warm und voller Touristen und Geschäftsleute. Mischen Sie sich unter die Leute. Ich erwarte Sie, sobald Sie in Washington eintreffen.
»Wann geht der nächste Bus zum Flughafen?«, fragte Dana einen Pagen.
»In einer halben Stunde, gaspaschä.«
»Vielen Dank.«
Schwer atmend ließ sie sich auf einem Sessel nieder, versuchte nicht mehr an die schrecklichen Vorfälle zu denken. Trotzdem hatte sie fürchterliche Angst. Wer wollte sie umbringen? Und warum? War Kemal in Sicherheit?
Der Page kam auf Dana zu. »Der Flughafenbus ist da.«
Dana stieg als Erste ein. Sie nahm auf der hintersten Sitzbank Platz und musterte die Gesichter der anderen Fahrgäste. Es waren größtenteils Touristen aus aller Welt - Europäer, Asiaten, Afrikaner und auch ein paar Amerikaner. Ein Mann, der auf der anderen Seite des Ganges saß, starrte sie an.
Er kommt mir bekannt vor, dachte Dana. Ist er mir etwa gefolgt? Sie stellte fest, dass sie vor Angst kaum Luft bekam.
Als der Bus eine Stunde später am Flughafen Scheremet-jewo II anhielt, stieg Dana zuletzt aus. Eiligen Schrittes begab sie sich in die Abflughalle und steuerte den Schalter der Air France an.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Dana Evans. Für mich müsste eine Reservierung vorliegen.« Dana hielt unwillkürlich den Atem an. Sag ja, mach schon, sag endlich ja ...
Die Frau am Schalter kramte in ihren Unterlagen herum. »Ja. Hier ist Ihr Flugschein. Er ist bereits bezahlt.«
Roger ist ein Schatz. »Vielen Dank.«
»Die Maschine ist pünktlich eingetroffen. Flug Nummer zwo-zwanzig. Sie wird in einer Stunde und zehn Minuten starten.«
»Gibt es hier eine Wartehalle« - mit möglichst vielen Menschen, wäre Dana beinahe herausgerutscht - »wo ich mich ein bisschen ausruhen kann?«
»Gehen Sie diesen Gang entlang und dann nach rechts.« »Vielen Dank.«
Die Wartehalle war regelrecht überlaufen. Nichts kam ihr ungewöhnlich oder gar bedrohlich vor. Dana setzte sich. Nicht mehr lange, dann war sie unterwegs nach Amerika, in Sicherheit.
»Die Passagiere von Air-France-Flug Nummer zweihunder-tundzwanzig nach Washington D.C. werden gebeten, sich zu Gate drei zu begeben. Halten Sie beim Einsteigen bitte Ihre Pässe und die Bordkarte bereit.«
Dana stand auf und ging zu Gate drei. Ein Mann, der sie vom Schalter der Aeroflot aus beobachtet hatte, sprach in sein Handy.
»Zielperson begibt sich zum Gate.«
Roger Hudson nahm den Hörer ab und wählte eine Nummer. »Die Frau ist auf Air-France-Flug Nummer zwo-zwanzig. Ich möchte, dass sie am Flughafen in Empfang genommen wird.«
»Was sollen wir mit ihr machen, Sir?«
»Sie sollte einen Verkehrsunfall erleiden, am besten mit Fahrerflucht.«
In einer Höhe von dreizehneinhalbtausend Metern war der Himmel völlig wolkenlos, und dementsprechend ruhig verlief der Flug. Die Maschine war bis auf den letzten Platz besetzt. Der Mann, der neben Dana saß, wandte sich an sie.
»Gregory Price«, sagte er. »Ich bin im Holzgeschäft.« Er war um die fünfzig, hatte ein langes, scharf geschnittenes Gesicht, hellgraue Augen und einen Schnurrbart. »Ist schon ein tolles Land, das wir da hinter uns lassen, was?«
Der einzige Daseinszweck von Krasnojarsk-26 ist die Herstellung von Plutonium. Plutonium ist der Hauptbestandteil von Atomsprengköpfen.
»Die Russen sind ja eine Sorte für sich, aber mit der Zeit gewöhnt man sich an sie.«
Hunderttausend Wissenschaftler und Ingenieure leben und arbeiten hier.
»Mit guter Küche haben die nicht viel am Hut. Jedes Mal, wenn ich geschäftlich hier zu tun habe, bring ich mir meine eigene Verpflegung mit.«
Sie können nicht fort. Sie dürfen keinen Besuch empfangen. Sie sind völlig von der Außenwelt abgeschnitten.
»Hatten Sie geschäftlich in Russland zu tun?«
Dana konnte sich nur schwer von ihren Gedanken losreißen. »Im Urlaub.«
Er warf ihr einen verdutzten Blick zu. »Eine verdammt unangenehme Jahreszeit für einen Russlandurlaub.«
Als die Flugbegleiterinnen die Karre durch den Gang schoben und das Essen austeilten, wollte Dana zunächst ablehnen, doch dann stellte sie fest, wie hungrig sie war. Sie wusste nicht mehr, wann sie zum letzten Mal etwas zu sich genommen hatte.
»Wenn Sie einen Schuss Bourbon möchten«, sagte Gregory Price, »kann ich Ihnen gern was Gutes anbieten, junge Frau.«
»Nein, danke.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. In ein paar Stunden müssten sie landen.
Als Air-France-Flug Nummer 220 auf dem Dulles International Airport landete, standen vier Männer am Ausgang und betrachteten jeden einzelnen Passagier, der an ihnen vorbeikam. Sie wirkten selbstbewusst, zuversichtlich, so als wüssten sie genau, dass sie ihnen nicht entgehen konnte.
»Hast du die Spritze bereit?«, fragte einer von ihnen.
»Ja.«
»Schafft sie raus zum Rock Creek Park. Der Boss will, dass es wie ein Unfall mit Fahrerflucht aussieht.«
»Gut.«
Sie wandten sich wieder der Tür zu. Zahllose Passagiere strömten heraus, alle in dicken Wintermänteln oder Parkas, mit Ohrenschützern, Schals und Handschuhen. Bis schließlich der Letzte durch war.
Einer der Männer runzelte die Stirn. »Ich erkundige mich mal, wo sie abgeblieben ist.«
Er lief die Fluggastbrücke hinab. Doch dort war nur das Reinigungspersonal zugange. Er riss sämtliche Toilettentüren auf. Alle leer. Dann stürmte er nach vorn und wandte sich an die Flugbegleiterin, die gerade gehen wollte. »Wo hat Dana Evans gesessen?«
Verdutzt blickte die Stewardess auf. »Dana Evans? Die Nachrichtensprecherin aus dem Fernsehen?«
»Ja.«
»Die war nicht an Bord. Wäre schön gewesen. Ich hätte sie zu gern kennen gelernt.«
»Wissen Sie, was beim Holzhandel das Allerbeste ist, junge Frau?«, sagte Gregory Price gerade zu Dana. »Dass die Ware von selber wächst. Ja, Mann, man kann einfach dahocken und zuschauen, wie Mutter Natur für die nötige Kohle sorgt.«
Die Chefstewardess meldete sich über Lautsprecher.
»Wir landen in wenigen Minuten auf dem O’Hare Airport in Chicago. Achten Sie bitte darauf, dass Ihre Sitzgurte geschlossen und die Rückenlehnen hochgestellt sind.«
»Genau«, spöttelte eine Frau, die auf der anderen Seite des Ganges saß. »Achten Sie darauf, dass Ihre Sitzlehnen hochgestellt sind. Ich jedenfalls möchte nicht zurückgelehnt in den Tod gehen.«
Dana zuckte zusammen. Sie meinte wieder die Querschläger zu hören, die hinter ihr in die Wand einschlugen, spürte förmlich die Hand, die sie vor den Lastwagen geschubst hatte. Sie erschauderte beim bloßen Gedanken daran, wie knapp sie dem Tod entronnen war.
Vor ein paar Stunden noch, als sie in der Wartehalle des Flughafens Scheremetjewo II saß, hatte sie sich eingeredet, dass alles gut ausgehen werde. Die Guten gewinnen doch immer. Aber irgendetwas ließ ihr keine Ruhe, irgendein Gesprächsfetzen. War es ein Spruch von Matt? Etwas, was Kommissar Schdanoff gesagt hatte? Oder Tim Drew? Je länger sie darüber nachdachte, desto weniger konnte sie die Erinnerung greifen.
»Air-France Nummer zwo-zwanzig nach Washington D.C. steht zum Abflug bereit«, gab die Purserin vom Bodenpersonal über Lautsprecher bekannt. »Bitte halten Sie Ihre Pässe und Bordkarten bereit.«
Dana stand auf und begab sich zum Ausgang. Als sie an der Abfertigung ihren Flugschein vorlegte, fiel es ihr mit einem Mal wieder ein. Es waren die letzten Worte, die sie mit Sascha Schdanoff gewechselt hatte.
Niemand weiß, dass ich dort bin. Es handelt sich um eine Art sicheres Haus, wie man bei Ihnen sagen würde.
Roger Hudson war der einzige Mensch, dem sie mitgeteilt hatte, wo Sascha Schdanoff sich aufhielt. Und unmittelbar danach war Schdanoff ermordet worden. Hudson hatte von Anfang an auf gewisse undurchsichtige Verbindungen angespielt, die Taylor Winthrop angeblich mit den Russen pflegte. Als ich in Moskau war, ging das Gerücht, dass Winthrop sich auf private Geschäfte mit den Russen eingelassen haben soll .
Kurz bevor Taylor Winthrop Botschafter in Russland wurde, hat er offenbar im engsten Freundeskreis erklärt, dass er sich endgültig aus dem öffentlichen Leben zurückziehen wolle .
Allem Anschein nach war es Winthrop, der den Präsidenten dazu drängte, ihn zum Botschafter zu ernennen ...
Sie hatte Roger und Pamela ständig auf dem Laufenden gehalten. Und die beiden hatten sie fortwährend ausgespäht. Dafür gab es nur eine Erklärung:
Roger Hudson war der geheimnisvolle Kompagnon von Taylor Winthrop.
Dana blickte aus dem Fenster, als die Maschine der American Airlines auf dem O’Hare International Airport in Chicago landete, und hielt Ausschau nach irgendwelchen verdächtigen Gestalten. Nichts. Die Luft war rein. Dana atmete tief durch und begab sich zum Ausstieg. Ihre Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Sie achtete darauf, dass sie so viele Menschen wie möglich um sich hatte, und ging inmitten der schwatzenden Menge ins Flughafengebäude. Sie musste einen dringenden Anruf erledigen. Während des Fluges war ihr ein so schrecklicher Gedanke gekommen, dass ihr die Gefahr, in der sie schwebte, daneben geradezu unbedeutend vorkam. Kemal. War er etwa ihretwegen in Gefahr? Sie durfte gar nicht daran denken, dass ihm etwas zustoßen könnte. Sie musste jemanden finden, der Kemal beschützte. Sofort fiel ihr Jack Stone ein. Er gehörte einer Organisation an, die über so viel Macht verfügte, dass sie den Schutz gewähren konnte, den sie und Kemal benötigten, und sie war davon überzeugt, dass er alle erforderlichen Vorkehrungen treffen würde. Er war ihr von Anfang an wohlgesonnen gewesen. Er gehört bestimmt nicht zu denen.
Ich möchte mich da lieber raushalten. Dadurch kann ich Ihnen am ehesten helfen, falls Sie wissen, was ich meine.
Dana ging in eine einigermaßen menschenleere Ecke der Haupthalle, griff in ihre Handtasche, suchte die Privatnummer heraus, die Jack Stone ihr gegeben hatte, und rief ihn an. Er meldete sich augenblicklich.
»Jack Stone.«
»Dana Evans hier. Ich stecke in der Klemme. Ich brauche Hilfe.«
»Was ist los?«
Dana hörte, wie besorgt er klang. »Ich kann jetzt nicht auf alles eingehen, aber ein paar Leute sind hinter mir her und versuchen mich umzubringen.«
»Wer?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich mache mir vor allem Sorgen um meinen Sohn Kemal. Können Sie mir jemand besorgen, der ihn beschützt?«
Er zögerte keine Sekunde. »Ich kümmere mich darum. Ist er zu Hause?«
»Ja.«
»Ich schicke jemanden vorbei. Und was ist mit Ihnen? Sie sagen, jemand versucht Sie umzubringen?«
»Ja. Sie - sie haben es zweimal versucht.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen. »Ich werde zusehen, was ich tun kann. Wo sind Sie?«
»Ich bin am O’Hare, in der Schalterhalle der American Airlines, und ich weiß nicht, wann ich hier herauskomme.«
»Bleiben Sie, wo Sie sind. Ich schicke jemanden hin, der Sie beschützt. Um Kemal brauchen Sie sich unterdessen keine Sorgen zu machen.«
Dana war zutiefst erleichtert. »Vielen Dank. Ich danke Ihnen.« Sie hängte ein.
Jack Stone, der in seinem Büro bei der FRA saß, legte den Hörer auf. Er drückte auf die Taste der Gegensprechanlage. »Die Zielperson hat soeben angerufen. Sie ist in der Wartehalle der American Airlines am O’Hare. Übernehmen Sie sie.«
»Ja, Sir.«
Jack Stone wandte sich an seinen Adjutanten. »Wann kommt General Booster aus Fernost zurück?«
»Er müsste heute Nachmittag wieder da sein.«
»Gut, dann nichts wie weg, bevor er rausfindet, was hier vor sich gegangen ist.«