Die Schule war für Kemal eine schier unerträgliche Quälerei. Er war kleiner als die anderen Kinder in seiner Klasse, die Mädchen eingeschlossen, und er schämte sich deswegen zutiefst. »Wicht«, »Stöpsel« und »Mini« lauteten denn auch die Spitznamen, die man ihm gab. Was den Unterricht anging, interessierte er sich ausschließlich für Mathematik und Computer, Fächer, in denen er ständig die besten Noten bekam. Auch im Schachclub seiner Klasse konnte ihm niemand das Wasser reichen. Früher hatte Kemal gern Fußball gespielt, doch als er sich für die Schulauswahl melden wollte, hatte der Trainer nur einen Blick auf seinen leeren Ärmel geworfen und gesagt: »Tut mir Leid, dich können wir nicht gebrauchen.« Die Absage war keineswegs unfreundlich gewesen, aber dennoch ein schwerer Schlag.
Kemals schlimmster Quälgeist hieß Ricky Underwood. Einige Schüler verbrachten die Mittagspause stets in dem umfriedeten Innenhof, statt sich in die Cafeteria zu begeben. Ricky Underwood wartete immer ab, bis er sah, wo Kemal sein Essen zu sich nahm, und gesellte sich dann zu ihm.
»Hey, Waisenjunge. Wann schickt dich denn deine böse Stiefmutter wieder dorthin zurück, wo du herkommst?«
Kemal beachtete ihn nicht.
»Ich rede mit dir, du Krüppel. Du meinst doch nicht etwa, die behält dich, oder? Jeder weiß doch, weshalb sie dich hergebracht hat, du Schafskopf. Weil sie nämlich eine bekannte Kriegsberichterstatterin war und es sich gut machte, wenn sie einen Krüppel rettet.«
»Fukat!«, schrie Kemal. Er sprang auf und stürzte sich auf Ricky.
Rickys Faust traf ihn in der Magengrube, dann im Gesicht. Kemal ging zu Boden, krümmte sich vor Schmerz.
»Du kannst jederzeit mehr kriegen, wenn’s dir noch nicht reicht«, sagte Ricky Underwood. »Aber beeil dich lieber, weil ich nämlich gehört habe, dass es dich nicht mehr lange gibt.«
Kemal war fortwährend zwischen Angst und Zweifeln hin-und hergerissen. Er glaubte Ricky Underwood kein Wort, aber dennoch ... Was war, wenn er Recht hatte? Was ist, wenn sie mich zurückschickt? Ricky hat Recht, dachte Kemal. Ich bin ein Krüppel. Wieso sollte mich jemand, der so wunderbar ist wie Dana, bei sich haben wollen?
Kemal war überzeugt gewesen, sein Leben sei vorüber, als seine Eltern und seine Schwester in Sarajevo umgekommen waren. Er war in ein Waisenhaus am Stadtrand von Paris gebracht worden, und das war der reinste Albtraum.
Jeden Freitag Nachmittag um zwei waren die Jungen und Mädchen in dem Waisenhaus in Reih und Glied angetreten, denn da trafen die in Frage kommenden Pflegeeltern ein, um alle zu begutachten, ein Kind auszusuchen und mit nach Hause zu nehmen. Immer wenn es Freitag wurde, waren die Kinder so aufgeregt und gespannt, dass sie es kaum noch ertragen konnten. Sie wuschen sich, zogen sich ordentlich an, und während die Eltern die Reihe entlanggingen, betete jedes Kind insgeheim darum, dass man es auswählen möge.
Doch jedes Mal, wenn die Pflegeeltern in spe Kemal sahen, tuschelten sie sich zu: »Schau, er hat nur einen Arm.« Und dann gingen sie weiter.
Jeden Freitag lief es auf das Gleiche hinaus, doch Kemal wartete nach wie vor voller Hoffnung, wenn die Erwachsenen die angetretenen Kandidaten musterten. Aber sie suchten immer andere Kinder aus. Geknickt und beschämt stand er da, wenn er wieder einmal übergangen worden war.
Dabei wollte Kemal unbedingt wieder eine Familie um sich haben. Er versuchte alles, was ihm einfiel, damit es ihm gelang. An einem Freitag lächelte er die Erwachsenen strahlend an, um ihnen zu zeigen, was für ein netter, freundlicher Junge er sei. Am nächsten tat er so, als wäre er mit irgendetwas beschäftigt, als wäre es ihm gleichgültig, ob sie ihn auswählten oder nicht, weil sie sich ohnehin glücklich schätzen könnten, wenn sie ihn bekämen. Ein andermal schaute er sie flehentlich an, betete insgeheim darum, dass sie ihn mit zu sich nach Hause nehmen möchten. Aber Woche um Woche wurde immer jemand anders ausgewählt und mitgenommen, bekam ein anderes Kind ein gemütliches Zuhause und eine glückliche Familie.
Wie durch ein Wunder hatte sich dank Dana alles verändert. Sie hatte ihn gefunden, als er sich auf den Straßen von Sarajevo herumgetrieben hatte. Nachdem Kemal vom Roten Kreuz ausgeflogen und zu dem Waisenhaus gebracht worden war, hatte er Dana einen Brief geschrieben. Und zu seiner Überraschung hatte sie nach einer Weile im Waisenhaus angerufen und gesagt, sie wolle Kemal nach Amerika mitnehmen und bei sich behalten. Kemal war in seinem ganzen Leben noch nie so glücklich gewesen wie in diesem Augenblick. Ein Traum war für ihn in Erfüllung gegangen, ja sein neues Dasein übertraf noch seine kühnsten Vorstellungen.
Kemals Leben hatte sich von Grund auf verändert. Jetzt war er dankbar dafür, dass ihn vorher niemand ausgewählt hatte. Er war nicht mehr allein, er hatte jemanden, der sich um ihn kümmerte. Er liebte Dana von ganzem Herzen, doch ständig trieb ihn auch die schreckliche Angst um, die Ricky Underwood geweckt hatte - dass Dana ihre Meinung ändern und ihn ins Waisenhaus zurückschicken könnte, in die Hölle, der er entronnen war. Ein ums andere Mal plagte ihn der gleiche Traum: Er war wieder im Waisenhaus, und es war Freitag. Die Kinder wurden von den Erwachsenen gemustert, und Dana war auch dabei. Sie betrachtete Kemal und sagte: Der hässliche kleine Junge da hat nur einen Arm. Dann ging sie weiter und nahm den Jungen neben ihm mit. Mit tränen-überströmtem Gesicht wachte Kemal hinterher immer auf.
Kemal wusste, dass Dana es nicht ausstehen konnte, wenn er sich in der Schule mit anderen Kindern anlegte, daher bemühte er sich darum, jedem Streit aus dem Weg zu gehen. Doch er konnte nicht zulassen, dass Ricky Underwood oder seine Freunde Dana beleidigten. Sobald ihnen das klar geworden war, wurden die Beleidigungen nur noch schlimmer - und damit auch die Auseinandersetzungen.
»Hey, Stöpsel, hast du deinen Koffer schon gepackt?«, empfing ihn Ricky zum Beispiel. »Ich habe heute Morgen in den Nachrichten gehört, dass dich deine böse Stiefmutter nach Jugoslawien zurückschicken will.«
»Zobisti!«, brüllte Kemal daraufhin.
Und schon prügelten sie sich miteinander. Jedes Mal kam Kemal zerschrammt und mit blauem Auge heim, aber wenn Dana ihn fragte, was vorgefallen sei, brachte er es einfach nicht fertig, ihr die Wahrheit zu sagen. Denn er hatte Angst davor, dass genau das eintreten könnte, was Ricky Underwood gesagt hatte, wenn er es ihr erzählte.
Nun, da Kemal im Büro des Rektors saß und auf Dana wartete, dachte er: Wenn sie erfährt, was ich diesmal angestellt habe, schickt sie mich bestimmt fort. Wie ein Häufchen Elend saß er da, und das Herz schlug ihm im Halse.
Als Dana in Thomas Henrys Büro trat, ging der Rektor mit grimmiger Miene auf und ab. Kemal saß in der anderen Ecke auf einem Stuhl.
»Guten Morgen, Miss Evans. Nehmen Sie bitte Platz.«
Dana warf einen kurzen Blick zu Kemal und setzte sich.
Thomas Henry ergriff ein großes Schlachtermesser, das auf seinem Schreibtisch lag. »Das hat einer unserer Lehrer Kemal weggenommen.«
Dana fuhr herum und blickte Kemal wütend an. »Wieso?«, fragte sie aufgebracht. »Wieso hast du das zur Schule mitgenommen?«
Kemal blickte zu Dana auf. »Weil ich keine Knarre habe«, versetzte er mürrisch.
»Kemal!«
Dana wandte sich an den Rektor. »Kann ich Sie unter vier Augen sprechen, Mr. Henry?«
»Ja.« Mit verkniffener Miene blickte er zu Kemal. »Warte draußen auf dem Gang.«
Kemal stand auf, warf noch einen Blick auf das Messer und ging.
»Mr. Henry«, setzte Dana an, »Kemal ist zwölf Jahre alt. Und den Großteil seines Lebens hat er beim Einschlafen nichts anderes gehört als das Krachen explodierender Bomben, jener Bomben, die seine Mutter, seinen Vater und seine Schwester töteten. Der Bomben, die ihm den Arm abrissen. Als ich Kemal in Sarajevo gefunden habe, lebte er in einem Pappkarton auf einem verwilderten Grundstück. Hunderte anderer obdachloser Jungen und Mädchen hausten dort buchstäblich wie die Tiere.« Sie hatte wieder alles vor Augen, bemühte sich aber darum, so ruhig wie möglich weiterzusprechen.
»Inzwischen fallen dort keine Bomben mehr, aber die Jungen und Mädchen sind immer noch obdachlos und ohne jeden Beistand. Ein Messer, ein Stein oder eine Schusswaffe, wenn sie das Glück haben und eine in die Hände bekommen, ist für sie die einzige Möglichkeit, sich zur Wehr zu setzen.« Dana schloss einen Moment lang die Augen und atmete tief durch. »Diese Kinder sind fürs Leben gezeichnet. Auch Kemal hat Wunden davon getragen, aber er ist ein anständiger Junge. Er muss nur begreifen, dass er hier in Sicherheit ist. Dass ihn hier keine Feinde bedrohen. Ich verspreche Ihnen, dass er so etwas nie wieder tun wird.«
Danach herrschte eine ganze Zeit lang Stille. »Wenn ich jemals rechtlichen Beistand brauchen sollte«, sagte Thomas Henry schließlich, »möchte ich, dass Sie mich verteidigen.«
Dana rang sich ein erleichtertes Lächeln ab. »Ich verspreche es.«
Thomas Henry seufzte. »Na schön. Sprechen Sie mit Kemal. Wenn so was noch mal vorkommt, muss ich leider -«
»Ich rede mit ihm. Vielen Dank, Mr. Henry.«
Kemal wartete draußen auf dem Flur.
»Los, wir fahren nach Hause«, sagte Dana schroff.
»Haben die mein Messer behalten?«
Sie ging nicht darauf ein.
»Tut mir Leid, dass ich dir das eingebrockt habe, Dana«, sagte Kemal auf der Heimfahrt.
»Ach, nicht so schlimm. Immerhin bist du nicht von der Schule geflogen. Schau, Kemal -«
»Okay. Kein Messer mehr.«
»Ich muss wieder ins Studio«, sagte Dana, als sie in der Wohnung waren. »Der Sitter kommt jeden Moment. Und heute Abend müssen wir zwei mal ein ernstes Wort miteinander reden.«
Als die Abendnachrichten vorüber waren, wandte sich Jeff an Dana. »Du wirkst so bedrückt, Liebes.«
»Bin ich auch. Es geht um Kemal. Ich weiß nicht, was ich mit ihm machen soll, Jeff. Ich musste heute mit seinem Rektor sprechen, und außerdem haben schon wieder zwei Haushaltshilfen wegen ihm gekündigt.«
»Er ist ein klasse Kerl«, sagte Jeff. »Er braucht bloß ein bisschen Zeit zum Eingewöhnen.«
»Mag sein. Jeff?«
»Ja?«
»Hoffentlich habe ich nicht einen schweren Fehler gemacht, als ich ihn hergebracht habe.«
Kemal wartete bereits, als Dana in ihre Wohnung zurückkehrte.
»Setz dich«, sagte sie. »Wir müssen miteinander reden. Du musst allmählich lernen, dich an die Regeln zu halten, und vor allem müssen diese ewigen Prügeleien aufhören. Ich weiß, dass es dir die anderen Jungs schwer machen, aber du musst dich irgendwie mit ihnen einigen. Wenn du dich weiter mit ihnen herumprügelst, wird dich Mr. Henry von der Schule verweisen.«
»Mir doch wurscht.«
»Das darf dir aber nicht gleichgültig sein. Ich möchte, dass du es zu etwas bringst, und ohne Ausbildung geht das nicht. Mr. Henry sieht es dir noch einmal nach, aber -«
»Scheiß drauf.«
»Kemal!« Ohne nachzudenken, versetzte ihm Dana eine Ohrfeige. Sie bereute es auf der Stelle. Kemal starrte sie mit ungläubiger Miene an, stand auf, rannte ins Arbeitszimmer und knallte die Tür zu.
Das Telefon klingelte. Dana nahm ab. Es war Jeff. »Dana -«
»Liebling, ich - ich kann jetzt nicht mit dir reden. Ich bin zu verstört.«
»Was ist passiert?«
»Es geht um Kemal. Er benimmt sich unmöglich!«
»Dana .«
»Ja?«
»Versetz dich in seine Lage.«
»Was?«
»Denk drüber nach. Tut mir Leid, ich habe gleich Redaktionsschluss. Ich liebe dich, und über alles Weitere reden wir später.«
Versetz dich in seine Lage? Das ist doch Unsinn, dachte Dana. Woher soll ich wissen, wie Kemal zu Mute ist? Ich bin kein zwölfjähriges Waisenkind, das im Krieg einen Arm verloren hat, ich habe nicht das Gleiche durchgemacht wie er. Dana saß eine ganze Zeit lang da und dachte nach. Versetz dich in seine Lage. Sie stand auf, ging ins Schlafzimmer, schloss die Tür und machte den Kleiderschrank auf. Bevor Kemal eingezogen war, hatte Jeff ein paar Mal pro Woche hier übernachtet und einige Kleidungsstücke im Schrank verstaut, unter anderem ein paar Hosen, Hemden, Krawatten, einen Pullover und ein Sportsakko.
Dana nahm einen Teil der Sachen heraus und legte sie aufs Bett. Sie ging zu einer Kommode und holte eine von Jeffs Boxershorts und ein Paar Socken heraus. Dann zog sie sich splitternackt aus. Mit der linken Hand griff sie nach Jeffs Boxershorts und wollte hineinsteigen. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel hin. Sie musste es noch zweimal versuchen, bis sie sie endlich hochgezogen hatte. Danach nahm sie eins von Jeffs Hemden. Wieder nahm sie nur die linke Hand zu Hilfe und mühte sich drei Minuten lang damit ab, bis sie endlich hineingeschlüpft war und es zugeknöpft hatte. Sie musste sich aufs Bett setzen, um die Hose anzuziehen, und trotzdem plagte sie sich mit dem Reißverschluss ab. Noch weitere zwei Minuten kämpfte sie mit dem Pullover.
Als Dana endlich angezogen war, musste sie sich hinsetzen und erst einmal verschnaufen. Das also machte Kemal jeden Morgen durch. Und es war noch lange nicht alles. Er musste sich baden, die Zähne putzen und die Haare kämmen. Und dabei ging es ihm jetzt noch gut. Wie aber mochte es ihm früher ergangen sein? Als er die Schrecken des Kriegs erlebt hatte, mit ansehen musste, wie seine Mutter, sein Vater, seine Schwester und seine Freunde umgekommen waren.
Jeff hat Recht, dachte sie. Ich erwarte zu viel. Er braucht mehr Zeit, um sich anzupassen. Ich könnte ihn niemals im Stich lassen. Mein Vater hat meine Mutter und mich sitzen lassen, und im Grunde meines Herzens habe ich ihm das nie verziehen. Es sollte ein dreizehntes Gebot geben: Du sollst nicht jene verlassen, die dich lieben.
Langsam zog Dana wieder ihre eigenen Sachen an, dachte dabei an die Songs, die sich Kemal dauernd anhörte. Die CDs von Britney Spears, den Backstreet Boys, Lim Biskit. »Baby One More Night«, »Don ’t Wanna Lose You Now«, »I Need You Tonight«, »As Long As You Love Me«, »Nobody Loves Me.«
Sämtliche Texte handelten von Einsamkeit und Sehnsucht.
Dana nahm sich Kemals Zeugnis vor. Sicher, in den meisten Fächern versagte er, aber in Mathematik hatte er eine Eins. Auf diesen Einser kommt es an, dachte Dana. Das zeichnet ihn aus. Darauf kann er aufbauen. In den anderen Fächern wird uns schon etwas einfallen.
Als Dana die Tür des Arbeitszimmers öffnete, lag Kemal mit geschlossenen Augen und tränennassem Gesicht im Bett. Dana betrachtete ihn einen Moment lang, beugte sich dann vor und küsste ihn auf die Wange. »Tut mir Leid, Kemal«, flüsterte sie. »Vergib mir.«
Morgen wird alles besser.
Am nächsten Morgen fuhr Dana mit Kemal in aller Frühe zu Dr. William Wilcox, einem bekannten Orthopäden und Chirurgen. Nach der Untersuchung sprach Dr. Wilcox mit Dana unter vier Augen.
»Miss Evans, wir könnten ihm eine Prothese anpassen, aber das würde rund zwanzigtausend Dollar kosten. Und es kommt noch etwas hinzu. Kemal ist erst zwölf, das heißt, dass er noch wachsen wird, bis zu seinem siebzehnten oder achtzehnten Lebensjahr. Er brauchte alle paar Monate eine neue Prothese, weil die alte nicht mehr passt. Ich fürchte, so etwas ist finanziell nicht machbar.«
Dana verlor jeden Mut. »Ich verstehe. Vielen Dank. Doktor.«
»Keine Sorge, mein Schatz«, sagte Dana zu Kemal, als sie wieder draußen waren. »Uns wird schon etwas einfallen.«
Dana setzte Kemal vor der Schule ab und fuhr zum Studio. Sie war nur mehr ein paar Straßen davon entfernt, als ihr Handy klingelte. Sie meldete sich. »Hallo?«
»Matt hier. Heute Mittag findet im Polizeipräsidium eine Pressekonferenz zum Mordfall Winthrop statt. Ich möchte, dass Sie darüber berichten. Ich schicke ein Kamerateam hin. Die Polizei steht gewaltig unter Druck. Die Sache wird immer brisanter, und die haben noch nicht die geringste Spur.«
»In Ordnung, Matt.«
Polizeichef Dan Burnett saß in seinem Büro und telefonierte, als seine Sekretärin hereinkam. »Der Bürgermeister ist auf Anschluss zwei.«
»Sagen Sie ihm, dass ich auf Anschluss eins gerade mit dem Gouverneur spreche«, knurrte Burnett. Er wandte sich wieder dem Telefon zu.
»Ja, Sir. Das weiß ich ... Ja, Sir. Ich glaube schon ... Ich bin davon überzeugt, dass wir das schaffen ... Sobald wir ... Gut. Wiederhören, Sir.« Er knallte den Hörer auf.
»Das Pressebüro des Weißen Hauses möchte Sie auf Anschluss vier sprechen.«
So ging das schon den ganzen Morgen.
Zur Mittagsstunde drängten sich zahllose Pressevertreter im Konferenzraum des Municipal Center an der Indiana Avenue im Zentrum von Washington. Polizeichef Burnett trat ein und begab sich zur Stirnseite des Raumes.
»Wenn ich um Ruhe bitten dürfte.« Er wartete, bis alle schwiegen. »Bevor ich auf Ihre Fragen eingehe, möchte ich eine Erklärung abgeben. Der grausame Mord an Gary Winthrop ist nicht nur ein schwerer Schlag für diese Stadt, sondern für die ganze Welt, und wir werden ohne Unterlass weiter ermitteln, bis wir diejenigen, die für dieses schreckliche Verbrechen verantwortlich sind, dingfest gemacht haben. Jetzt dürfen Sie Ihre Fragen stellen.«
Ein Reporter stand auf. »Mr. Burnett, hat die Polizei schon irgendwelche Anhaltspunkte?«
»Gegen drei Uhr morgens sah ein Zeuge zwei Männer, die auf der Zufahrt zu Mr. Winthrops Haus irgendetwas in einen weißen Kleinbus luden. Da ihm ihr Verhalten verdächtig vorkam, notierte er sich das polizeiliche Kennzeichen des Wagens. Wie wir herausfanden, wurden die Nummernschilder von einem Lastwagen gestohlen.«
»Weiß die Polizei bereits, was aus dem Haus entwendet wurde?«
»Etwa ein Dutzend wertvolle Bilder.«
»Wurde außer den Bildern noch etwas gestohlen?«
»Nein.«
»Wie steht’s mit Bargeld und Schmuck?«
»Das Bargeld und der Schmuck wurden nicht angerührt. Die Diebe hatten es nur auf die Bilder abgesehen.«
»Mr. Burnett, gab es in dem Haus eine Alarmanlage, und wenn ja, war sie eingeschaltet?«
»Nach Aussage des Butlers wurde sie abends immer eingeschaltet. Die Einbrecher müssen sie irgendwie außer Betrieb gesetzt haben. Wir wissen noch nicht genau, wie sie das bewerkstelligt haben.«
»Wie haben sich die Einbrecher Zugang zum Haus verschafft?«
Polizeichef Burnett zögerte einen Moment. »Eine interessante Frage. Es gibt keinerlei Spuren, die auf Gewaltanwendung hindeuten.«
»Wäre es möglich, dass sie Helfershelfer im Haus hatten?«
»Wir gehen nicht davon aus. Das Personal steht schon seit vielen Jahren in Gary Winthrops Diensten.«
»War Gary Winthrop allein zu Hause?«
»Soweit wir wissen, ja. Das Personal hatte frei.«
»Haben Sie eine Auflistung der gestohlenen Bilder?«, rief Dana.
»Jawohl. Es sind lauter bekannte Werke. Wir haben die Liste an sämtliche Museen, Kunsthändler und Sammler weitergegeben. Sobald eines dieser Bilder irgendwo auftaucht, können wir den Fall lösen.«
Verdutzt nahm Dana wieder Platz. Die Mörder müssen sich doch darüber im Klaren gewesen sein, dass sie es nicht wagen können, diese Bilder zu verkaufen. Aber aus welchem Grund haben sie sie dann gestohlen? Und zudem einen Mord begangen? Und wieso haben sie das Geld und den Schmuck nicht mitgehen lassen? Irgendwas stimmt da nicht.
Die Trauerfeier zu Ehren von Gary Winthrop fand in der National Cathedral statt, dem sechstgrößten Gotteshaus der Welt. Die Wisconsin und die Massachusetts Avenue waren abgesperrt, Polizei- und Pressehubschrauber kreisten am Himmel, und der Secret Service wie auch die Stadtpolizei von Washington waren in voller Mannschaftsstärke angerückt. Denn zu den Trauergästen, die darauf warteten, dass der Gottesdienst endlich anfing, zählten unter anderem der Vizepräsident der Vereinigten Staaten, ein gutes Dutzend Senatoren und Kongressabgeordnete, ein Vertreter des Obersten Gerichtshofs, zwei Kabinettsmitglieder und zahlreiche Würdenträger aus aller Welt. Draußen auf der Straße versammelten sich unterdessen Hunderte von Schaulustigen, teils aus Hochachtung vor dem Toten, teils aber auch nur, um den einen oder anderen Prominenten zu Gesicht zu bekommen.
Dana hatte den Eindruck, als ob die Menschen nicht nur Gary die letzte Ehre erweisen wollten, sondern seiner ganzen Familie, dieser vom Unglück geschlagenen Dynastie. Sie hatte zwei Kamerateams im Einsatz. Eines draußen, das andere drinnen im Kirchenraum, in dem Totenstille herrschte.
»Gottes Wille stellt uns mitunter vor ein Rätsel«, hob der Pfarrer an. »Die Winthrops haben ihr Leben der Hoffnung gewidmet. Sie gaben Millionen von Dollar für Schulen und Gotteshäuser, für die Obdachlosen und die Hungrigen. Und sie scheuten dabei weder Zeit noch Mühe. Vor allem Gary Winthrop war es, der diese Tradition fortführte. Umso weniger vermögen wir zu begreifen, weshalb ausgerechnet diese Familie, die so engagiert und großzügig war, so grausam dahingerafft wurde. Aber in gewisser Weise sind sie gar nicht von uns gegangen, denn sie leben in dem Vermächtnis weiter, das sie uns hinterlassen haben. Wir dürfen stolz sein auf sie und alles, was sie für uns getan haben .«
Gott sollte nicht zulassen, dass solche Menschen eines so schrecklichen Todes sterben, dachte Dana bedrückt.
Danas Mutter rief an. »Meine Freunde und ich haben deinen Bericht von der Trauerfeier gesehen, Dana. Als du über die Verdienste der Winthrops gesprochen hast, dachte ich einen Moment lang, du würdest gleich weinen.«
»Ich auch, Mutter. Ich auch.«
Dana konnte an diesem Abend kaum einschlafen. Und als sie endlich zur Ruhe kam, träumte sie wirres Zeug - von Feuersbrünsten, Autounfällen und Schießereien. Mitten in der Nacht fuhr sie plötzlich hoch und setzte sich auf. Fünf Menschen, die alle der gleichen Familie entstammten, sind innerhalb von anderthalb Jahren ums Leben gekommen. Das kann nicht mit rechten Dingen zugegangen sein.