21 Gezeichnet

Alviarin trat durch das Wegetor, ließ es hinter ihr mit einem verblassenden Strich aus grellem Blauweiß vergehen und nieste augenblicklich, weil ihre Schuhe den Staub aufwirbelten.

Sofort erschütterte sie ein weiteres Niesen, dann noch eins, das ihre Augen tränen ließen. Nur von der leuchtenden Kugel erhellt, die vor ihr schwebte, war der aus dem Felsen gehauene Lagerraum drei Etagen unter der Burgbibliothek leer — abgesehen von dem Staub, der sich in Jahrhunderten hier abgelagert hatte. Sie wäre viel lieber direkt in ihre Gemächer im Turm zurückgekehrt, aber es bestand immer die Möglichkeit, auf einen Diener zu stoßen, der gerade sauber machte, und dann würde sie die Leiche wegschaffen müssen und hoffen, dass sich keiner daran erinnerte, den Diener zuletzt auf dem Weg in ihre Gemächer gesehen zu haben. Haltet Euch verborgen und erregt nicht einmal den geringsten Verdacht, hatte Mesaana befohlen. Das erschien übertrieben, wo sich die Schwarze Ajah seit der Gründung der Burg ungestraft dort frei bewegt hatte, aber wenn einer der Auserwählten einen Befehl erteilte, dann gehorchte nur ein Narr nicht. Jedenfalls, wenn die Möglichkeit bestand, erwischt zu werden.

Gereizt bemühte Alviarin die Macht, um die Luft vom Staub zu säubern, und schlug ihn so hart nach unten, dass der Steinboden eigentlich hätte erbeben müssen. Sie hätte das nicht jedes Mal durchmachen müssen, wenn sie den Staub einmal in eine Ecke gewischt hätte, statt ihn ausgebreitet liegen zu lassen. Seit Jahren war niemand mehr so tief in die Kellergewölbe der Bibliothek gestiegen; niemand würde bemerken, wenn der Raum sauber war. Aber es gab immer einen, der das tat, was sonst niemand tat. Sie tat es oft selbst, und sie hatte nicht vor, durch einen dummen Fehler aufzufliegen. Trotzdem murmelte sie vor sich hin, als sie mit Hilfe der Macht den roten Schlamm von Schuhen, Rocksaum und Umhang beseitigte. Es war unwahrscheinlich, dass ihn jemand mit Tremalking in Zusammenhang brachte, der größten Insel des Meervolks, aber es könnte sich jemand fragen, wo sie mit so viel Schlamm in Berührung gekommen war. Das Burggelände würde außer an den Stellen, die man freigeschaufelt hatte, unter Schnee begraben liegen, und auf den freien Wegen würde der Boden hart gefroren sein. Noch immer vor sich hinmurmelnd, griff sie erneut nach der Macht, um das Kreischen der verrosteten Türangeln zu dämpfen, als sie die einfache Holztür aufstieß. Es gab eine Methode, ein Gewebe zu machen und es zu verbergen, sodass sie das Quietschen nicht jedes Mal hätte dämpfen müssen — sie war davon überzeugt, dass es sie gab —, aber Mesaana weigerte sich, es ihr beizubringen.

Mesaana war die eigentliche Ursache ihres Ärgers. Die Auserwählte lehrte, was sie wollte, und kein bisschen mehr, machte Andeutungen über Wunder und behielt sie dann für sich. Außerdem benutzte Mesaana sie wie eine Botin. Sie saß an der Spitze des Obersten Rates und kannte die Namen einer jeden Schwarzen Schwester jedes einzelnen Herzens, was Mesaana nicht tat. Die Frau zeigte nur geringes Interesse daran, wer ihre Befehle ausführte, solange sie ausgeführt wurden, und zwar buchstabengetreu. Viel zu oft wollte sie sie von Alviarin ausgeführt sehen und zwang sie dazu, sich mit Frauen und Männern abgeben zu müssen, die sich für Gleichgestellte hielten, bloß weil sie ebenfalls dem Großen Herrn dienten. Zu viele der Freunde betrachteten sich als den Aes Sedai gleichgestellt oder sogar überlegen. Widerwärtige kleine Nagetiere, von denen keiner die Macht lenken konnte, und Alviarin musste höflich zu ihnen sein, nur weil einige von ihnen möglicherweise einem anderen der Auserwählten dienten! Es war offensichtlich, dass Mesaana es nicht genau wusste. Sie war eine Auserwählte, und wegen ihrer eigenen Unsicherheit ließ sie Alviarin den Straßendreck anlächeln.

Die Kugel aus gedämpftem Licht schwebte ihr voraus und sorgte für Helligkeit. Alviarin rauschte durch den primitiven Steinkorridor und wirbelte den Staub hinter ihr mit federhaften Strichen aus Luft auf, damit er unberührt erschien, dabei ging sie im Geiste mehrere ausgesuchte Dinge durch, die sie Mesaana gern gesagt hätte. Natürlich würde sie das nicht tun, was ihre Gereiztheit nur noch verstärkte. Einen Auserwählten auch nur auf die sanfteste Weise zu kritisieren war ein kurzer Weg in den Schmerz, vielleicht sogar in den Tod. Vermutlich sogar beides. Bei den Auserwählten gab es nur einen Weg, um zu überleben, man musste kriechen und gehorchen, und das Erstere war so wichtig wie das Letztere. Der Preis der Unsterblichkeit war ein bisschen kriechen wert. Damit konnte sie alle Macht erreichen, die sie wollte, viel mehr, als je eine Amyrlin gehabt hatte. Doch zuerst musste sie überleben.

Als sie den oberen Teil der ersten Rampe erreichte, machte sie sich nicht länger die Mühe, ihre Spuren zu verbergen. Hier gab es bei weitem nicht mehr so viel Staub, und er war von den Rädern der Handkarren und mit Schuhabdrücken gezeichnet; eine weitere Reihe kaum sichtbarer Spuren würde nicht auffallen. Aber sie ging schnell. Für gewöhnlich heiterte der Gedanke, ewig zu leben, sie auf, genau wie der Gedanke, schließlich durch Mesaana Macht auszuüben, wie sie es jetzt durch Elaida tat. Nun gut, es war nur fast das Gleiche; die Vorstellung, Mesaana in das gleiche Stadium der Willfährigkeit zu bringen wie Elaida, war zu ehrgeizig, aber sie würde die Frau mit Strippen ausstatten können, die ihren eigenen Aufstieg garantierten. Heute musste sie sich darauf konzentrieren, dass sie die Burg fast einen Monat lang verlassen hatte. Mesaana hatte sich bestimmt nicht die Mühe gemacht, Elaida während ihrer Abwesenheit unter Kontrolle zu halten, obwohl die Auserwählte sicherlich Alviarin die Schuld geben würde, wenn etwas schief gelaufen war. Natürlich war Elaida nach dem letzten Mal ordentlich eingeschüchtert. Die Frau hatte förmlich darum gebettelt, von den privaten Bußsitzungen bei der Oberin der Novizinnen entbunden zu werden. Natürlich war sie zu eingeschüchtert, um aus der Reihe zu tanzen. Alviarin schob Elaida energisch in den Hintergrund ihrer Gedanken, aber sie verlangsamte ihre Schritte nicht.

Eine zweite Rampe brachte sie in das oberste Kellergewölbe, wo sie die glühende Kugel verlöschen ließ und Saidar losließ. Hier wurden die Schatten von Lichtkreisen erhellt, die fast ineinander übergingen, von Lampen in Eisenständern an den Steinwänden erzeugt, die auf dieser Ebene ordentlich verkleidet waren. Hier bewegte sich nichts außer einer Ratte, die mit kaum hörbarem Trippeln über die Bodenfliesen davonhuschte. Das ließ Alviarin beinahe lächeln. Beinahe. Die Augen des Großen Herrn durchlöcherten jetzt die Burg, obwohl niemand bemerkt zu haben schien, dass die Schutzgewebe versagt hatten. Sie glaubte nicht, dass Mesaana dafür verantwortlich war; die Gewebe funktionierten einfach nicht mehr so, wie sie sollten. Es gab... Lücken. Ihr war es völlig egal, ob das Tier sie sah oder berichtete, was es gesehen hatte, dennoch duckte sie sich schnell in den Zugang zu einer schmalen Wendeltreppe hinein. Es war möglich, dass sich auf dieser Ebene Menschen aufhielten, und Menschen konnte man nicht so vertrauen wie den Ratten.

Vielleicht würde sie Mesaana über dieses unglaubliche Fanal in der Macht ausfragen können, solange sie... behutsam vorging. Wenn sie es nie erwähnte, würde die Auserwählte glauben, dass sie etwas verbarg. Jede Frau auf der ganzen Welt, die die Macht lenken konnte, musste sich fragen, was geschehen war. Sie würde nur sorgsam darauf achten müssen, nichts zu erwähnen, das zu der Vermutung Anlass gab, dass sie dem Ort einen Besuch abgestattet hatte. Natürlich lange nachdem das Fanal erloschen war — sie war nicht so dumm, sich darin hineinzubegeben! —, aber Mesaana schien der Ansicht zu sein, dass Alviarin ihre Aufträge zu erledigen hatte, ohne auch nur einen Moment für sich abzuzweigen. Konnte die Frau ernsthaft glauben, dass sie keine eigenen Angelegenheiten zu erledigen hatte? Es war besser, sich so zu benehmen, als wäre dies tatsächlich so. Jedenfalls für den Augenblick.

In den Schatten am oberen Treppenabsatz blieb sie vor der kleinen, schmucklosen Tür stehen, um sich zu sammeln, während sie den Umhang über ihren Arm faltete. Mesaana war eine der Auserwählten, aber sie war immer noch ein Mensch. Mesaana machte Fehler. Und sie würde Alviarin auf der Stelle töten, sollte sie einen begehen. Krieche, gehorche und überlebe. Und sei immer auf der Hut. Das hatte sie schon lange gewusst, bevor sie einem der Auserwählten begegnet war. Sie holte die weiße Stola der Behüterin der Chroniken aus der Gürteltasche, legte sie sich um den Hals und öffnete die Tür vorsichtig einen Spalt breit, um zu lauschen. Stille, wie erwartet. Sie betrat das Neunte Depositorium und schloss die Tür hinter sich. Auf der Innenseite war die Tür genauso schmucklos, aber man hatte sie so lange poliert, bis sie hell glänzte.

Die Burgbibliothek war in zwölf Depositorien aufgeteilt, jedenfalls soweit der Welt bekannt war, und das Neunte war das kleinste und beherbergte Texte über verschiedene Formen der Rechenkunst. Dennoch bestand es aus einem großen ovalen Raum mit einer abgeflachten Kuppel als Decke, der mit Reihen hoher Holzregale gefüllt war, umgeben von schmalen Gängen, die sich vier Schritte über den siebenfarbigen Bodenfliesen befanden. Neben den Regalen standen hohe Leitern auf Rädern, sodass man sie leicht bewegen konnte, und zwar auf dem Boden und den Gängen; außerdem waren dort Spiegelkandelaber aus Messing, deren Sockel so schwer waren, dass man vier oder fünf Männer brauchte, um sie bewegen zu können. Feuer war eine ständige Sorge in der Bibliothek. Alle Kandelaber brannten hell, dazu bereit, jeder Schwester, die ein Buch oder ein in einem Kasten verstautes Manuskript finden wollte, den Weg zu leuchten, aber ein Handkarren mit drei großen, in Leder eingebundenen Bänden, die wieder einsortiert werden mussten, stand noch immer genau da in der Mitte eines Seitengangs, wie es Alviarin vom letzten Mal in Erinnerung hatte, als sie hier durchgegangen war. Sie verstand nicht, wozu man so viele Formen der Rechenkunst brauchte oder warum so viele Bücher darüber geschrieben worden waren, und auch wenn die Weiße Burg stolz darauf war, die größte Büchersammlung der Welt zu besitzen, die jedes vorstellbare Wissensgebiet behandelte, hatte es den Anschein, als würden die meisten Aes Sedai mit ihr übereinstimmen. Sie hatte noch nie eine andere Schwester im Neunten Depositorium gesehen, was der Grund dafür war, dass sie es als Eingang benutzte. Bei den großen, einladend offen stehenden Türflügeln blieb sie erneut stehen, um zu lauschen, bis sie sicher sein konnte, dass der dahinter liegende Korridor leer war, dann ging sie weiter. Jeder hätte es seltsam gefunden, dass sie ein Interesse für die hier befindlichen Bücher entwickelt hatte.

Als sie durch die Hauptkorridore eilte, in denen die Bodenfliesen in sich wiederholenden Reihen aus den Ajah-Farben gestaltet waren, fiel ihr auf, dass die Bibliothek stiller als gewöhnlich war, selbst wenn man in Betracht zog, wie wenig Aes Sedai sich derzeit in der Burg aufhielten. Ein oder zwei Schwestern waren immer zu sehen, und wenn es nur die Bibliothekare waren — ein paar Braune unterhielten in den oberen Ebenen sogar Gemächer zusätzlich zu ihren Räumen im Turm —, doch die gewaltigen, in die Korridorwände geschnitzten Figuren, zehn Fuß und größer, phantasievoll gekleidete Menschen und seltsame Tiere, hätten die einzigen Benutzer der Bibliothek sein können. Zugluft ließ die aufwändig geschnitzten Radleuchter, die zehn Schritte über ihrem Kopf hingen, leise an ihren Ketten klirren. Ihre Schritte schienen unnatürlich laut, verursachten leise Echos, die von der Kuppeldecke zurückgeworfen wurden.

»Kann ich Euch helfen?«, sagte eine Frauenstimme leise hinter ihr.

Überrascht wirbelte Alviarin herum und hätte beinahe ihren Umhang fallen gelassen, bevor sie sich zusammenreißen konnte. »Ich wollte nur einen Spaziergang durch die Bibliothek machen, Zemaille«, sagte sie und verspürte augenblicklich einen Anflug von Gereiztheit. Wenn sie nervös genug war, um sich einer Bibliothekarin zu erklären, dann musste sie sich wirklich unter Kontrolle bekommen, bevor sie Mesaana Bericht erstattete. Am liebsten hätte sie Zemaille erzählt, was auf Tremalking geschah, nur um zu sehen, ob die Frau zusammenzucken würde.

Der nichts sagende Ausdruck auf dem Gesicht der Braunen Schwester veränderte sich nicht, aber ein unbestimmbarer Unterton veränderte ihre Stimmlage. Hoch gewachsen und sehr schlank behielt Zemaille immer diese äußere Maske aus Reserviertheit und Abstand aufrecht, aber Alviarin vermutete, dass sie weniger schüchtern war, als sie vorgab, und auch weniger angenehm. »Das ist verständlich. Die Bibliothek ist ein friedlicher Ort, und es ist eine traurige Zeit für uns alle. Und für Euch natürlich noch viel trauriger.«

»Natürlich«, wiederholte Alviarin mechanisch. Eine traurige Zeit? Ganz besonders für sie? Sie dachte kurz darüber nach, die Frau in eine abgeschiedene Ecke zu zerren, wo man sie befragen und sich ihrer dann entledigen konnte, aber dann bemerkte sie eine weitere Braune, eine dicke Frau, die noch dunkler als Zemaille war und die sie von ihrem Standort ein Stück weit den Korridor hinauf beobachtete. Aiden und Zemaille waren schwach in der Einen Macht, aber beide gleichzeitig zu überwältigen würde schwierig wenn nicht sogar unmöglich sein. Warum waren die beiden hier im Erdgeschoss? Sie waren hier nur selten zu sehen, bewegten sich sonst nur zwischen den Räumen auf den oberen Ebenen, die sie sich mit Nyein teilten, der dritten Schwester vom Meervolk, und dem so genannten Dreizehnten Depositorium, wo die geheimen Aufzeichnungen aufbewahrt wurden. Alle drei arbeiteten da, freiwillig bis zu den Hälsen in ihre Aufgaben vertieft. Alviarin ging weiter und versuchte sich einzureden, dass sie grundlos nervös war, aber das half nicht, das Kribbeln zwischen ihren Schulterblättern zu lindern.

Die fehlenden Bibliothekarinnen, die den Vordereingang bewachten, verstärkten das Kribbeln nur. Es standen immer Bibliothekarinnen an jedem Eingang, um dafür zu sorgen, dass nicht ein Fitzelchen Papier die Bibliothek ohne ihr Wissen verließ. Alviarin griff nach der Macht, um einen der hohen, mit Schnitzereien verzierten Türflügel aufzustoßen, bevor sie ihn erreichte, und ließ ihn an seinen Bronzeangeln offen stehen, als sie die breite Marmortreppe hinuntereilte. Der breite, von Eichen gesäumte Steinpfad, der zu dem riesigen weißen Turm führte, war freigeschaufelt worden, aber wäre das nicht der Fall gewesen, hätte sie die Macht benutzt, um den Schnee vor ihr zu schmelzen, und sollte jeder denken, was er wollte. Mesaana hatte es kristallklar gemacht, welchen Preis man für das Risiko zahlte, dass jemand das Gewebe für das Schnelle Reisen lernte oder auch nur erfuhr, dass sie es kannte, sonst wäre Alviarin von dieser Stelle aus Gereist. Mit dem Turm in Sicht, der über den Bäumen aufragte und im blassen Morgenlicht funkelte, hätte sie mit einem Schritt da sein können. Stattdessen kämpfte sie gegen das Bedürfnis an zu rennen.

Es war keine Überraschung, die breiten, hohen Korridore des Turms verlassen vorzufinden. Ein paar Diener mit der weißen Flamme von Tar Valon auf der Brust machten ihre Knickse und Verbeugungen, als sie vorbeiging, aber sie waren so unwichtig wie die Zugluft, die die vergoldeten Kandelaber flackern ließ und die hellen Wandteppiche an den schneeweißen Wänden bewegte. In diesen Tagen blieben die Schwestern soweit möglich in den Quartieren ihrer eigenen Ajah, und es hätte ihr auch nichts genutzt, einer Aes Sedai zu begegnen, von der sie wusste, dass sie eine Schwarze Ajah war — es hätte schon ein Mitglied ihres eigenen Herzens sein müssen. Alviarin kannte sie alle, aber die anderen kannten sie nicht. Außerdem würde sie sich keinem offenbaren, wenn sie es nicht musste. Vielleicht würden einige dieser wunderbaren Instrumente aus dem Zeitalter der Legenden, von denen Mesaana immer sprach, ihr eines Tages erlauben, jede Schwester auf der Stelle zu befragen — falls die Frau sie jemals besorgte —, aber jetzt musste man noch immer verschlüsselte Befehle auf Kopfkissen oder an geheimen Stellen hinterlassen. Was ihr einst wie augenblickliche Erwiderungen vorgekommen war, kam ihr jetzt unendlich langsam vor. Ein stämmiger, kahlköpfiger Diener, der sich verbeugte, schluckte deutlich hörbar, und sie glättete ihre Züge. Sie war stolz auf ihre eiskalte Gleichgültigkeit und zeigte immer eine kühle, glatte Oberfläche. Sich mit finsterer Miene ihren Weg durch den Turm zu bahnen würde ihr nicht das Geringste bringen.

Es gab jemanden im Turm, von dem sie genau zu wissen glaubte, wo sie ihn finden würde, jemand, von dem sie Antworten verlangen konnte, ohne sich darüber Sorgen machen zu müssen, was die Frau wohl dachte. Natürlich war auch hier eine gewisse Vorsicht angebracht — sorglose Fragen enthüllten mehr, als die meisten Antworten wert waren —, aber Elaida würde ihr alles sagen. Mit einem Seufzen erklomm Alviarin die erste Stufe.

Mesaana hatte ihr von einem anderen Wunder aus dem Zeitalter der Legenden erzählt, das sie sehr gern sehen würde, ein Ding namens »Aufzug«. Die fliegenden Maschinen klangen natürlich viel großartiger, aber es war viel einfacher, sich einen mechanischen Apparat vorzustellen, der einen von einer Etage zur nächsten brachte. Sie wusste nicht, ob sie wirklich glauben sollte, dass es Gebäude gegeben hatte, die die mehrfache Höhe des Turms der Weißen Burg aufwiesen — auf der ganzen Welt kam nicht einmal der Stein von Tear an die Höhe des Turms heran —, aber allein das Wissen um diese »Aufzüge« ließ das Erklimmen der spiralförmigen Gänge und breiten Treppen mühsam erscheinen.

In der dritten Etage blieb sie vor dem Studierzimmer der Amyrlin stehen, aber wie erwartet waren beide Räume leer, die freigeräumten Schreibtische auf Hochglanz poliert. Die Räume selbst erschienen karg ohne Wandbehänge oder Verzierungen, hier gab es nur Tische und Stühle und Stehlampen. Elaida kam nur noch selten aus ihren Gemächern in der Nähe der Turmspitze nach unten. Das war früher durchaus akzeptabel erschienen, da es die Frau noch mehr vom Rest der Burg isolierte. Nur wenige Schwestern stiegen freiwillig so hoch. Doch als Alviarin heute etwa achtzig Spannen erklommen war, dachte sie ernsthaft darüber nach, Elaida wieder dazu zu bewegen, nach unten zu ziehen.

Elaidas Vorzimmer war natürlich leer, auch wenn eine Mappe mit Papieren auf dem Schreibtisch bedeutete, dass jemand da gewesen war. Doch es konnte warten, ihren Inhalt zu sichten und zu entscheiden, ob Elaida für ihren Besitz bestraft werden musste. Alviarin warf ihren Umhang auf den Schreibtisch und stieß die neue Tür auf, die mit einer geschnitzten Flamme von Tar Valon versehen war und darauf wartete, vergoldet zu werden, und die tiefer in die Gemächer hineinführte.

Die Erleichterung, die sie verspürte, als sie Elaida hinter dem mit Schnitzwerk übersäten und vergoldeten Schreibtisch sitzen sah, die siebenfach gestreifte Stola um den Hals — nein, es waren nur noch sechs Streifen — und die Flamme von Tar Valon in Mondsteinen in die Goldarbeiten der hohen Stuhllehne eingelegt, überraschte sie. Da war die nagende Sorge gewesen, die sie bislang verdrängt hatte, dass die Frau durch einen dummen Unfall zu Tode gekommen war. Das hätte Zemailles Bemerkung erklärt. Eine neue Amyrlin zu wählen hätte Monate gekostet, selbst mit den Rebellen und allem anderen, mit dem sie sich auseinander setzen mussten, aber ihre Tage als Behüterin wären gezählt gewesen. Was sie jedoch mehr als ihre Erleichterung überraschte, war die Anwesenheit der Hälfte der Sitzenden des Saals, die mit ihren fransenbesetzten Stolen vor dem Schreibtisch standen. Elaida wusste es besser, als diese Art Delegation ohne ihre Anwesenheit zuzulassen. Die riesige vergoldete Standuhr an der Wand, auf vulgäre Weise übertrieben verziert, schlug zweimal zum Hoch — kleine glasierte Aes Sedai-Figuren sprangen aus den winzigen Türen an der Vorderseite —, gerade als Alviarin den Mund öffnete, um den Sitzenden zu sagen, dass sie mit der Amyrlin unter vier Augen sprechen musste. Die würden ohne allzu großen Protest gehen. Eine Behüterin hatte nicht die Autorität, sie hinauszuwerfen, aber sie wussten, dass ihre Autorität über ihre Stola hinausging, selbst wenn keine von ihnen auch nur annähernd vermutete, wie das möglich war.

»Alviarin«, sagte Elaida und klang überrascht, bevor sie ein Wort herausbekommen konnte. Elaidas hartes Gesicht entspannte sich zu etwas, das man fast als Vergnügen hätte bezeichnen können. Ihr Mund zuckte und kam einem Lächeln sehr nahe. Elaida hatte schon seit einiger Zeit keinen Grund mehr zum Lächeln. »Stellt Euch da hinten hin und seid still, bis ich Zeit habe, mich um Euch zu kümmern«, sagte sie und deutete majestätisch auf eine Ecke des Raums. Die Sitzenden scharrten mit den Füßen und richteten die Stolen. Suana, eine pummelige Frau, warf Alviarin einen verkniffenen Blick zu, und Shevan, hoch gewachsen wie ein Mann und genauso kantig, starrte sie ausdruckslos an, aber die anderen mieden ihren Blick.

Ungläubig blieb sie auf dem mit hellen Mustern versehenen Seidenteppich stehen. Elaida konnte unmöglich aufbegehren — die Frau wäre wahnsinnig gewesen! —, aber was im Namen des Großen Herrn war bloß geschehen, um ihr diese Frechheit zu verleihen? Was?

Elaidas Hand knallte laut auf den Tisch, ein Schlag, der die lackierten Kästchen hüpfen ließ. »Wenn ich Euch sage, Euch in eine Ecke zu stellen, Tochter«, sagte sie mit gefährlich leiser Stimme, »dann erwarte ich, dass Ihr gehorcht.« Ihre Augen funkelten. »Oder soll ich die Oberin der Novizinnen holen lassen, damit diese Schwestern Eure ›private‹ Buße miterleben können?«

Alviarins Wangen brannten, teils aus Demütigung, teils aus Wut. Dass jemand hörte, wie so etwas gesagt wurde, und ihr dann auch noch ins Gesicht! Aber in ihr rumorte auch die Furcht, ließ ihre Magensäure steigen. Nur ein paar Worte von ihr, und man würde Elaida anklagen, Schwestern ins Verderben und in die Gefangenschaft geschickt zu haben, und das nicht nur einmal, sondern zweimal. Über die Ereignisse in Cairhien kursierten bereits die ersten Gerüchte; unbestimmte Gerüchte zwar, aber sie wurden jeden Tag konkreter. Und sobald noch herauskam, dass Elaida fünfzig Schwestern losgeschickt hatte, um zu versuchen, Hunderte von Männern zu besiegen, die die Macht lenken konnten, würde nicht einmal die Existenz der Rebellen-Schwestern, die mit ihrem Heer in Murandy überwinterten, die Stola auf ihrem Hals halten — oder ihren Kopf. Sie konnte es nicht wagen, das hier zu tun. Es sei denn...

Es sei denn, sie konnte Alviarin als Schwarze Ajah in Misskredit bringen. Das würde ihr vielleicht etwas Zeit verschaffen. Sicherlich nur wenig, sobald die Fakten über die Quellen von Dumai und die Schwarze Burg allgemein bekannt wurden, aber möglicherweise war Elaida bereit, nach Strohhalmen zu greifen. Nein, das war nicht möglich, das konnte nicht möglich sein. Flucht war mit Sicherheit unmöglich. Zum einen hätte eine Flucht, falls Elaida zu einer Anklage bereit gewesen wäre, sie nur bestätigt. Darüber hinaus würde Mesaana sie finden und töten, falls sie floh. Das alles ging ihr blitzschnell durch den Kopf, als sie sich mit bleiernen Füßen wie eine schuldbewusste Novizin in die Ecke begab. Was auch geschehen sein mochte, es musste eine Möglichkeit geben, es wieder gutzumachen. Es gab immer eine Möglichkeit, etwas wieder gutzumachen. Möglicherweise fand sie sie, wenn sie zuhörte. Sie hätte gebetet, hätte der Dunkle König Gebete erhört.

Elaida musterte sie einen Augenblick lang, dann nickte sie zufrieden. Doch die Augen der Frau funkelten noch immer angriffslustig. Sie hob den Deckel eines der drei lackierten Kästchen, holte eine kleine, vom Alter dunkel verfärbte Schildkrötenschnitzerei hervor und strich mit den Fingern darüber. Die Schnitzereien aus dem Kästchen zu streicheln war eine Angewohnheit, die sie hatte, wenn sie ihre Nerven beruhigen wollte. »Also«, sagte sie. »Ihr wolltet mir erklären, warum ich mich auf Verhandlungen einlassen sollte.«

»Wir haben nicht um Erlaubnis gebeten, Mutter«, entgegnete Suana scharf und schob das Kinn vor. Sie hatte ein viel zu großes Kinn, ein richtiges Rechteck, und die dazu nötige Arroganz, es jedem entgegenzustrecken. »Eine derartige Entscheidung ist Sache des Saals. Bei der Gelben Ajah gibt es die starke Tendenz, dafür zu sein.« Was bedeutete, sie verspürte eine starke Tendenz. Sie war die Anführerin der Gelben Ajah, die Erste Weberin, etwas, das Alviarin bekannt war, weil die Schwarze Ajah sämtliche Geheimnisse der anderen Ajahs kannte, oder zumindest fast alle, und nach Suanas Dafürhalten waren ihre Ansichten die Ansichten ihrer Ajah.

Doesine, die andere anwesende Gelbe, warf Suana einen Seitenblick zu, sagte aber nichts. Blass und jungenhaft schlank sah Doesine aus, als wollte sie gar nicht hier sein, ein hübscher, schmollender Junge, den man an seinem Ohr hergezerrt hatte. Sitzende sperrten sich oft, wenn die Anführerinnen ihrer Ajah ihnen den Arm verdrehten, aber es war durchaus möglich, dass Suana eine Möglichkeit gefunden hatte.

»Auch viele Weiße befürworten Gespräche«, sagte Ferane und betrachtete stirnrunzelnd einen Tintenfleck auf einem dicken Finger. »Unter den gegebenen Umständen ist es ein logischer Schritt.« Sie war die Erste Denkerin, die Anführerin der Weißen Ajah, aber im Gegensatz zu Suana war sie bereit, ihre Ansichten nicht über die ihrer Ajah zu stellen. Jedenfalls meistens. Ferane erschien oft so unbestimmbar wie die schlimmste Braune — das lange schwarze Haar, das ihr rundes Gesicht einrahmte, hätte einen Kamm benötigt, ein paar der Fransen ihrer Stola waren anscheinend sorglos in ihren Frühstückstee getaucht worden —, aber sie konnte die geringste Lücke in der Logik einer Beweisführung erkennen. Sie hätte genauso gut allein dort stehen können, da sie einfach nicht glaubte, irgendwelche Unterstützung von den anderen Sitzenden der Weißen zu benötigen.

Elaida lehnte sich auf ihren hohen Stuhl zurück und schaute finster drein, ihre Finger strichen schneller über die Schildkröte, und Andaya meldete sich schnell zu Wort und schaute nur ungefähr in Elaidas Richtung, während sie vorgab, den Sitz ihrer mit grauen Fransen versehenen Stola auf ihren Armen zu richten.

»Worauf es ankommt, Mutter, ist Folgendes: Wir müssen einen Weg finden, diesen Konflikt friedlich zu beenden«, sagte sie, und ihr tarabonischer Akzent schlug stark in ihren Worten durch, so wie immer, wenn sie sich unbehaglich fühlte. Oftmals schüchtern in Elaidas Nähe, schaute sie Yukiri an, als hoffte sie auf Unterstützung, aber die schlanke kleine Frau wandte den Kopf leicht ab. Für eine so winzige Frau war Yukiri erstaunlich stur; im Gegensatz zu Doesine hätte sie sich zu nichts zwingen lassen. Warum also war sie hier, wenn sie es nicht sein wollte? Andaya erkannte, dass sie auf sich gestellt war, und sprach hastig weiter. »Es darf nicht zugelassen werden, dass es in den Straßen von Tar Valon oder in der Burg zu Kämpfen kommt, vor allem nicht hier; nicht noch einmal. Bis jetzt scheinen sich die Rebellen damit zufrieden zu geben, dort zu sitzen und die Stadt zu beobachten, aber das wird nicht ewig so bleiben. Sie haben das Schnelle Reisen wieder entdeckt, Mutter, und haben es benutzt, um ein Heer über Hunderte von Meilen zu transportieren. Wir müssen mit Gesprächen beginnen, bevor sie sich dazu entscheiden, dieses Heer mit einem Wegetor nach Tar Valon zu bringen, oder alles ist verloren, selbst wenn wir gewinnen.«

Alviarin krallte die Fäuste in die Röcke und schluckte.

Sie hatte das Gefühl, ihr würden gleich die Augen aus dem Kopf fallen. Die Rebellen kannten das Schnelle Reisen? Sie standen bereits vor Tar Valon? Und diese Närrinnen wollten reden? Sie konnte sorgfältig in die Wege geleitete Pläne sich wie Nebel im Sommer auflösen sehen. Vielleicht würde der Dunkle König ja doch zuhören, wenn sie besonders innig betete.

Elaidas finstere Miene hellte sich nicht auf, aber sie stellte die Elfenbeinschildkröte sehr sorgfältig ab, und ihre Stimme klang fast normal. So normal wie früher, bevor Alviarin sie an die Kandare genommen hatte, mit Stahl unter den sanften Worten. »Sind die Braunen und Grünen auch für Gespräche?«

»Die Braunen«, begann Shevan, schürzte dann nachdenklich die Lippen und änderte offensichtlich das, was sie hatte sagen wollen. Nach außen hin schien sie völlig gelassen zu sein, aber sie rieb unbewusst mit den langen Daumen über die knochigen Zeigefinger. »Die Haltung der Braunen ist ziemlich sicher, was die historischen Präzedenzfälle angeht. Ihr habt alle die geheimen Chroniken gelesen oder hättet es tun sollen. Wann auch immer die Burg in sich gespalten war, hat die Welt eine Katastrophe erlebt. Da die Letzte Schlacht droht, und überdies in einer Welt, in der es die Schwarze Burg gibt, können wir es uns nicht länger leisten, auch nur einen Tag länger als nötig gespalten zu sein.«

Es erschien kaum möglich, dass Elaidas Gesicht noch dunkler wurde, aber die Erwähnung der Schwarzen Burg brachte es zustande. »Und die Grünen?« Ihre Stimme war noch immer beherrscht.

Alle drei Sitzenden der Grünen waren da, was auf eine starke Unterstützung ihrer Ajah hinwies, oder auf starken Druck von der Anführerin der Grünen. Als Älteste hätte Talene Elaida antworten müssen — Grüne hielten sich in allem an ihre Hierarchie —, aber aus irgendeinem Grund sah die hoch gewachsene, blonde Frau Yukiri an und dann Doesine, was genauso seltsam war; sie schaute zu Boden und zupfte an ihrem grünen Seidenrock herum. Rina legte leicht die Stirn in Falten und rümpfte verwirrt die Nase, aber sie trug die Stola nicht mal fünfzig Jahre, also blieb nur Rubinde übrig, um auf die Frage zu antworten. Rubinde machte neben Talene einen kleinen und stämmigen Eindruck, und sie erschien trotz ihrer Augen in der Farbe von Saphiren eher unscheinbar.

»Ich bin angewiesen worden, dieselben Punkte wie Shevan anzusprechen«, sagte sie und ignorierte Rinas überraschten Blick. Offensichtlich hatte es Druck von Adelorna gegeben, dem »Generalhauptmann« der Grünen, und genauso offensichtlich war Rubinde anderer Meinung, wenn sie bereit war, es öffentlich zu machen. »Tarmon Gai'don kommt, die Schwarze Burg ist eine fast genauso große Gefahr, und der Wiedergeborene Drache ist verschwunden, wenn er nicht sogar tot ist. Wir können es uns nicht länger leisten, uneins zu sein. Wenn Andaya die Rebellen dazu überreden kann, in die Burg zurückzukehren, dann müssen wir es auf den Versuch ankommen lassen.«

»Ich verstehe«, sagte Elaida ausdruckslos. Aber seltsamerweise gewann sie an Farbe, und ein Lächeln schien über ihre Lippen zu huschen. »Dann holt sie mit Reden zurück, wenn Ihr es schafft, auf jeden Fall. Aber meine Erlasse bleiben bestehen. Die Blaue Ajah existiert nicht länger, und jede Schwester, die dem Kind Egwene al'Vere folgt, muss unter meiner Anleitung Buße ableisten, bevor sie irgendeiner Ajah beitreten kann. Ich habe vor, die Weiße Burg zu einer Waffe zu schmieden, die bei Tarmon Gai'don eingesetzt wird.«

Ferane und Suana wollten protestieren, wie ihren Mienen deutlich abzulesen war, aber Elaida brachte sie mit einer erhobenen Hand zum Schweigen. »Ich habe gesprochen, Töchter. Geht jetzt. Und kümmert euch um eure... Gespräche.«

Es gab nichts, das die Sitzenden hätten tun können, von offener Auflehnung abgesehen. Sie hatten die Rechte des Saals auf ihrer Seite, aber der Saal wagte nur selten, in die Autorität des Amyrlin-Sitzes einzugreifen. Nicht, wenn der Saal uneins gegen die Amyrlin stand, und dieser Saal war sich alles andere als einig, gleichgültig, um welches Thema es ging. Alviarin selbst hatte dabei geholfen, dass es so weit kam. Sie gingen, Ferane und Suana steif und mit schmalen Lippen, Andaya huschte beinahe hinaus. Keine von ihnen warf auch nur einen Blick in Alviarins Richtung.

Sie wartete kaum, bis sich die Tür hinter der Letzten geschlossen hatte. »Das verändert eigentlich nichts, Elaida, das werdet Ihr doch sicherlich einsehen. Ihr müsst klar denken und nicht über einen Irrweg stolpern.« Sie wusste, dass sie plapperte, aber sie schien nicht aufhören zu können. »Das Desaster bei den Quellen von Dumai, das ziemlich sichere Desaster bei der Schwarzen Burg, das kann Euch noch immer die Stellung kosten. Ihr braucht mich, um Stab und Stola halten zu können. Ihr braucht mich, Elaida. Ihr...« Sie biss die Zähne zusammen, bevor sie alles ausplauderte. Es musste noch immer eine Möglichkeit geben.

»Ich bin überrascht, dass Ihr zurückgekehrt seid«, sagte Elaida, stand auf und glättete ihre rot geschlitzten Röcke. Seltsamerweise lächelte sie, als sie um den Tisch herumkam. Kein angedeutetes Lächeln, sondern ein breites, erfreutes Verziehen der Lippen. »Habt Ihr Euch seit der Ankunft der Rebellen in der Stadt versteckt? Ich dachte, Ihr hättet Euch eine Schiffspassage besorgt, als Ihr von ihrem Eintreffen hörtet. Wer hätte je gedacht, dass sie das Schnelle Reisen wieder entdecken würden? Stellt Euch nur vor, was wir erreichen können, sobald auch wir über dieses Wissen verfügen.« Lächelnd glitt sie über den Teppich.

»Lasst mich nachdenken. Was habe ich von Euch zu befürchten? Die Geschichten aus Cairhien sind in der Burg das Tagesgespräch, aber selbst wenn Schwestern tatsächlich dem jungen al'Thor gehorchen sollten, was ich nun wirklich nicht glauben kann, so gibt jeder Coiren die Schuld. Es lag in ihrer Verantwortung, ihn herzubringen, und nach Ansicht ihrer Schwestern ist sie so gut wie vor Gericht gestellt und verurteilt.« Elaida blieb vor Alviarin stehen und sperrte sie in der Ecke ein. Das Lächeln erreichte nie ihre Augen. Sie lächelte, und ihre Augen funkelten. »Und in der vergangenen Woche haben wir viele gute Dinge über die Schwarze Burg gehört.« Bei der Erwähnung verzog Elaida angewidert den Mund. »Wie es aussieht, gibt es dort noch mehr Männer, als Ihr gedacht habt. Aber jeder glaubt, dass Toveine den Verstand gehabt haben muss, das vor ihrem Angriff in Erfahrung zu bringen. Darüber ist viel diskutiert worden. Falls sie besiegt zurückgeschleppt wird, wird sie die Schuld ernten. Also sind Eure Drohungen...«

Alviarin taumelte gegen die Wand und blinzelte Flecken weg, bevor ihr überhaupt bewusst wurde, dass die andere Frau sie geschlagen hatte. Ihre Wange fühlte sich bereits angeschwollen an. Das Glühen Saidars hatte Elaida umgeben, und der Schild senkte sich auf Alviarin, bevor sie auch nur zucken konnte, und schnitt sie von der Macht ab. Aber Elaida hatte nicht vor, die Macht zu benutzen. Sie holte mit der Faust aus. Noch immer lächelnd.

Sie holte langsam Luft und senkte die Hand wieder.

Aber sie hob den Schild nicht auf. »Würdet Ihr das wirklich benutzen?«, fragte sie in fast mildem Tonfall.

Alviarins Hand zuckte vom Griff ihres Gürtelmessers zurück. Danach zu greifen war ein Reflex gewesen, aber selbst wenn Elaida nicht die Macht gehalten hätte, sie zu töten, wo so viele Sitzende wussten, dass sie hier zusammen waren, wäre es so gut wie Selbstmord gewesen. Doch ihr Gesicht brannte, als Elaida verächtlich schnaubte.

»Ich freue mich darauf, Euren Hals wegen Verrats auf dem Scharfrichterblock liegen zu sehen, Alviarin. Aber bis ich die nötigen Beweise habe, gibt es ein paar Dinge, die ich tun kann. Erinnert Ihr Euch, wie oft Ihr Silviana habt kommen lassen, um mir eine private Buße aufzuerlegen? Ich hoffe es, denn Ihr werdet für jeden Tag, den ich gelitten habe, zehn auf Euch nehmen. Und... o ja.« Grob riss sie Alviarin die Behüterinnen-Stola vom Hals. »Da Euch keiner finden konnte, als die Rebellen eintrafen, habe ich den Saal gebeten, Euch als Behüterin abzuberufen. Natürlich gab es keine große Mehrheit. Vielleicht habt Ihr dort noch immer ein bisschen Einfluss. Aber es war überraschend einfach, von denen, die an jenem Tag dort saßen, eine Mehrheit zu bekommen. Eine Behüterin sollte bei ihrer Amyrlin sein, nicht in der Gegend herumstreunen. Wenn ich so darüber nachdenke, habt Ihr vielleicht doch keinen Einfluss mehr, da sich herausstellt, dass Ihr Euch die ganze Zeit in der Stadt versteckt habt. Oder seid Ihr zurückgesegelt und habt die Katastrophe vorgefunden, und seid der Meinung gewesen, Ihr könntet etwas aus den Ruinen retten? Wie dem auch sei. Vielleicht wäre es besser für Euch gewesen, Ihr wärt auf das erste Schiff gesprungen, das Tar Valon verlässt. Aber ich muss zugeben, die Vorstellung, wie Ihr von Dorf zu Dorf flüchtet und Euch schämt, Euch anderen Schwestern zu zeigen, verblasst neben dem Vergnügen, das ich haben werde, wenn ich Euch leiden sehe. Und jetzt geht mir aus den Augen, bevor ich entscheide, dass es statt Silvianas Riemen doch die Rute sein soll.« Sie warf die weiße Stola auf den Boden, drehte ihr den Rücken zu, ließ Saidar los und rauschte zu ihrem Stuhl, als hätte Alviarin aufgehört zu existieren.

Alviarin ging nicht, sie floh, sie rannte und hatte dabei das Gefühl, den Atem der Schattenhunde im Nacken zu spüren. Sie hatte kaum einen klaren Gedanken fassen können, seit das Wort Verrat gefallen war. Dieses Wort, das in ihrem Kopf widerhallte, wollte sie aufheulen lassen. Verrat konnte nur eines bedeuten. Elaida wusste Bescheid, und sie suchte nach Beweisen. Sollte der Dunkle König sich ihrer erbarmen. Aber das tat er nie. Gnade war nur etwas für jene, die Angst hatten, sich zu irren. Sie hatte keine Angst. Sie war ein Bündel Haut, das bis zum Platzen mit schierem Entsetzen gefüllt war.

Sie floh den Turm hinab, und falls ihr in den Korridoren Diener begegneten, nahm sie sie nicht wahr. Entsetzen machte sie blind für alles, das sich nicht unmittelbar in ihrem Weg befand. Sie rannte den ganzen Weg bis zur sechsten Etage, zu ihrem eigenen Gemach. Zumindest ging sie davon aus, dass es noch ihres war. Die Räume mit dem Balkon, der auf den großen Platz vor dem Turm hinaussah, gehörten zum Amt der Behüterin der Chronik. Im Augenblick genügte es ihr, dass sie noch Räume hatte. Und eine Chance, um zu überleben.

Die Möbel waren noch immer die Domani-Stücke ihrer Vorgängerin, helles Holz mit Intarsien aus Muscheln und Bernstein. Im Schlafzimmer riss sie einen der Kleiderschränke auf, fiel auf die Knie und schob Kleider beiseite, um hinten nach einem Kästchen zu suchen, das keine zwei Hände breit war und ihr schon viele Jahre gehörte. Die Schnitzarbeiten auf dem Kästchen waren aufwändig, aber unbeholfen, Reihen unterschiedlicher Knoten, von einem Schnitzer angefertigt, der über mehr Ehrgeiz als Geschick verfügt hatte. Alviarins Hände zitterten, als sie es zum Tisch trug, und sie setzte es ab, um sich die schweißfeuchten Hände an den Röcken abzuwischen. Der Trick, um das Kästchen zu öffnen, bestand darin, die Finger so weit zu spreizen, wie es ging, und vier Knoten gleichzeitig zu drücken. Der Deckel hob sich einen Spalt, und sie warf ihn zurück, enthüllte ihren kostbarsten Besitz, der in ein braunes Tuch eingewickelt war, damit er nicht klapperte, falls eine Dienerin das Kästchen schüttelte. Die meisten Burgdiener würden es nicht wagen, einen Diebstahl zu begehen, aber die meisten bedeutete nicht alle.

Einen Augenblick lang starrte Alviarin das Bündel nur an. Darin war ihr kostbarster Besitz, ein Gegenstand aus dem Zeitalter der Legenden, aber sie hatte noch nie zuvor gewagt, ihn zu benutzen. Nur im schlimmsten Notfall, hatte Mesaana gesagt, in der verzweifeltsten Not, aber was konnte schlimmer als das hier sein? Mesaana hatte behauptet, der Gegenstand könnte Hammerschläge aushalten, ohne zu zerbrechen, aber sie schlug das Tuch mit der gleichen Sorgfalt zur Seite, die sie bei feinem braunem Glas angewandt hätte, und enthüllte ein Ter'angreal, einen leuchtend roten Stab, nicht länger als ihr Zeigefinger, der bis auf ein paar feine, in einem verschlungenen Muster miteinander verbundenen Linien vollkommen glatt war. Sie umarmte die Quelle und berührte dieses Muster an zwei der Verbindungsstellen mit haarfeinen Strängen aus Feuer und Erde. Im Zeitalter der Legenden wäre das nicht nötig gewesen, aber etwas, das man »stehende Ströme« nannte, existierte nicht mehr. Eine Welt, in der fast jedes Ter'angreal von Menschen benutzt werden konnte, die nicht die Macht lenken konnten, erschien jenseits jeder Vorstellungskraft. Warum hatte man das erlaubt?

Sie drückte mit dem Daumen gegen das eine Ende des Stabes — die Eine Macht allein reichte nicht —, ließ sich schwer auf den Stuhl fallen, lehnte sich gegen die niedrige Lehne und starrte den Gegenstand in ihrer Hand an. Es war vollbracht. Jetzt fühlte sie sich leer, ein großer leerer Raum, in dem Ängste durch die Finsternis flatterten wie gewaltige Fledermäuse.

Statt das Ter'angreal wieder einzuwickeln, schob sie es in die Gürteltasche und stand auf, um das Kästchen wieder in den Schrank zu stellen. Sie hatte nicht vor, den Stab aus ihrer Reichweite zu lassen, bevor sie wusste, dass sie in Sicherheit war. Aber jetzt konnte sie nur dasitzen und warten, mit zwischen den Knien geklemmten Händen hin und her schaukeln. Sie konnte genauso wenig mit dem Schaukeln aufhören, wie sie das leise Stöhnen unterdrücken konnte, das aus ihrem Mund drang. Seit der Gründung der Burg war keine Schwester jemals angeklagt worden, eine Schwarze Ajah zu sein. Oh, einzelne Schwestern hatten einen Verdacht gehabt, und von Zeit zu Zeit waren Aes Sedai gestorben, sodass diese Verdächtigungen nie weitergingen, aber es war nie zu einer offiziellen Anklage gekommen. Wenn Elaida bereit war, offen vom Scharfrichterblock zu sprechen, dann musste sie kurz davor stehen, Anklage zu erheben. Ganz kurz davor. Man hatte auch Schwarze Schwestern verschwinden lassen, wenn der Verdacht zu groß wurde. Die Schwarze Ajah blieb verborgen, ganz egal, was es kostete. Sie wünschte, sie hätte zu stöhnen aufhören können.

Plötzlich verblasste das Licht in dem Raum und tauchte alles in wirbelnde Schatten. Das Sonnenlicht schien unfähig zu sein, die Glasscheiben des Fensters zu durchdringen. Alviarin fiel sofort auf die Knie und schlug die Augen nieder. Das Verlangen, ihre Befürchtungen hervorzusprudeln, ließ sie zittern, aber bei den Auserwählten musste man die Form einhalten. »Ich lebe, um zu dienen, Große Herrin«, sagte sie, und nicht mehr. Sie konnte keinen Augenblick verschwenden, vor Schmerzen zu schreien, geschweige denn eine Stunde. Sie krallte die Hände zusammen, um sie am Zittern zu hindern.

»Worum handelt es sich bei deinem ernsten Notfall, Kind?« Es war eine Frauenstimme, aber eine Stimme wie ein Glockenspiel aus Kristall. Ein verärgertes Glockenspiel. Nur verärgert. Ein wütendes Glockenspiel hätte den sofortigen Tod bedeutet. »Wenn du glaubst, ich würde auch nur einen Finger krümmen, um dir deine Behüterinnenstola wiederzubeschaffen, dann unterliegst du einem traurigen Irrtum. Du kannst noch immer tun, was ich erledigt haben will, es kostet dich nur etwas mehr Mühe. Und du darfst deine Bußsitzungen bei der Oberin der Novizinnen als kleine Strafe von mir betrachten. Ich habe dich davor gewarnt, Elaida zu sehr zu bedrängen.«

Alviarin schluckte ihren Protest herunter. Elaida war keine Frau, die man ohne Druck beugen konnte. Mesaana musste das wissen. Aber bei den Auserwählten konnten Proteste gefährlich sein. Bei den Auserwählten waren viele Dinge gefährlich. Auf jeden Fall war Silvianas Riemen harmlos im Vergleich zur Axt des Scharfrichters.

»Elaida weiß Bescheid, Herrin«, hauchte sie und hob den Blick. Vor ihr stand eine Frau aus Licht und Schatten, die in Licht und Schatten gekleidet war, nur finsteres Schwarz und silbriges Weiß, das ununterbrochen von einem Zustand in den anderen wechselte. Silberne Augen blickten ungehalten aus einem Gesicht aus Rauch, silberne Lippen waren zu einem schmalen Strich verzogen. Es war nur eine Illusion, und auch nicht viel besser gemacht, als Alviarin es hätte bewerkstelligen können. Kurz blitzte ein grüner, mit aufwändigen bronzenen Streifen verzierter Seidenrock auf, als Mesaana über den Domani-Teppich glitt. Aber Alviarin konnte genauso wenig die Gewebe erkennen, welche die Illusion erschufen, wie sie jene wahrgenommen hatte, die die Frau benutzte, um herzukommen oder den Raum in Schatten zu hüllen. Soweit sie es feststellen konnte, war Mesaana gar nicht dazu in der Lage, die Macht zu lenken! Für gewöhnlich empfand sie angesichts dieser beiden Geheimnisse eine freudige Erregung, aber heute fiel es ihr kaum auf. »Sie weiß, dass ich eine Schwarze Ajah bin, Große Herrin. Wenn sie mich entlarvt hat, dann hat sie tief gegraben. Dutzende von uns könnten bedroht sein, vielleicht sogar alle.« Am besten malte man eine Bedrohung in den finstersten Farben aus, wenn man sichergehen wollte, dass etwas passierte. Möglicherweise war es sogar die Wahrheit.

Aber Mesaana winkte nur abschätzig mit einer jetzt silbernen Hand. Ihr Gesicht glühte wie ein Mond um Augen, die schwärzer als Kohle war. »Das ist lächerlich. Elaida kann sich nicht von einem auf den anderen Tag entscheiden, doch an die Existenz der Schwarzen Ajah zu glauben. Du willst dir nur Schmerzen ersparen, Kind. Vielleicht werden ein paar dir deine Fehleinschätzungen bewusst machen.« Alviarin fing an zu betteln, als Mesaana die Hand höher hob und sich ein Gewebe in der Luft formte, das sie nur zu gut kannte. Sie musste es der Frau begreiflich machen!

Plötzlich ging ein Ruck durch die Schatten im Raum. Alles schien zur Seite gedrängt zu werden, als sich die Dunkelheit zu mitternachtsschwarzen Klumpen verfestigte.

Und dann war die Dunkelheit verschwunden. Überrascht fand sich Alviarin mit flehentlich ausgestreckten Händen einer Frau aus Fleisch und Blut mit blauen Augen gegenüber, die in bronzeverziertes Grün gekleidet war. Eine quälend vertraut erscheinende Frau, die kaum über ihre mittleren Jahre hinaus zu sein schien. Sie hatte gewusst, dass sich Mesaana als Schwester maskiert in der Burg aufhielt, obwohl keiner der Auserwählten, denen sie begegnet war, irgendein Anzeichen von Alterslosigkeit gezeigt hatte, aber sie konnte das Gesicht keinem Namen zuordnen. Und sie erkannte noch etwas. Diese Frau hatte Angst. Sie verbarg es zwar, aber sie hatte Angst.

»Sie ist sehr nützlich gewesen«, sagte Mesaana und klang alles anderes als ängstlich, mit einer Stimme, die sich Alviarins Erinnerung immer um ein Haar entzog, »und jetzt werde ich sie töten müssen.«

»Du warst immer... übertrieben verschwenderisch«, erwiderte eine knirschende Stimme; sie war wie ein verfaulter Knochen, der unter einem Absatz zerbröckelte.

Beim Anblick des großen Mannes in schwarzer Rüstung — sie bestand nur aus sich überlappenden Platten, wie die Schuppen einer Schlange —, der vor einem der Fenster stand, kippte Alviarin entsetzt um. Denn es war kein Mann. Das blutleere Gesicht hatte keine Augen; dort, wo sie hätten sein müssen, war nur glatte, tote weiße Haut. Sie war im Dienst des Dunklen Königs schon zuvor Myrddraal begegnet, und hatte es sogar geschafft, ihren augenlosen Blick zu erwidern, ohne sich von dem Entsetzen überwältigen zu lassen, das dieses Starren auslöste, aber dieser hier ließ sie auf dem Boden zurückkriechen, bis ihr Rücken gegen ein Tischbein stieß. Schleicher ähnelten einander wie zwei Regentropfen, sie waren hoch gewachsen und schlank und identisch, aber dieser war einen ganzen Kopf größer, und er schien Furcht auszustrahlen, die in ihre Knochen sickerte. Ohne nachzudenken griff sie nach der Quelle. Und hätte beinahe aufgeschrien. Die Quelle war weg! Sie war nicht abgeschirmt; es war einfach nichts da, wonach sie greifen konnte! Der Myrddraal sah sie an und lächelte. Schleicher lächelten niemals. Nie. Ihr Atem kam in keuchenden Stößen.

»Sie kann nützlich sein«, knirschte der Myrddraal. »Ich möchte nicht, dass die Schwarze Ajah vernichtet wird.«

»Wer bist du, dass du es wagst, einen der Auserwählten herauszufordern?«, verlangte Mesaana verächtlich zu wissen, machte die Wirkung dann aber zunichte, indem sie sich die Lippen befeuchtete.

»Glaubst du, Hand des Schattens ist bloß ein Name?« Die Stimme des Myrddraal war nicht länger knirschend.

Hohl schien sie aus unvorstellbarer Ferne aus Höhlen zu schallen. Die Kreatur wuchs, als sie sprach, bis ihr Kopf die Decke berührte, zwei Spannen hoch. »Man hat dich gerufen, und du bist nicht gekommen. Meine Hand reicht weit, Mesaana.«

Sichtlich am ganzen Körper zitternd, öffnete die Auserwählte den Mund, vielleicht um zu bitten, und sie schrie auf, als ihre Kleidung zu Staub zerfiel. Ringe aus schwarzen Flammen banden ihr die Arme an die Seiten, wickelten sich eng um ihre Beine, und eine brodelnde Kugel aus reiner Schwärze erschien in ihrem Mund und zwang ihren Kiefer weit auf. Sie wand sich, stand nackt und hilflos da, und der Ausdruck in ihren verdrehten Augen verursachte in Alviarin das Bedürfnis, sich selbst zu beschmutzen.

»Willst du wissen, warum eine der Auserwählten bestraft werden muss?« Die Stimme war wieder das knochenzerreibende Knirschen, der Myrddraal scheinbar nur ein zu großer Schleicher, aber Alviarin ließ sich nicht täuschen. »Willst du zusehen?«, fragte er.

Sie hätte sich mit dem Gesicht zu Boden werfen sollen, um ihr Leben betteln, aber sie konnte sich nicht bewegen.

»Nein, Großer Herr«, schaffte sie es hervorzustoßen, obwohl ihr Mund so trocken wie Staub war. Sie wusste es. Es konnte nicht sein, aber sie wusste es. Ihr wurde bewusst, dass ihr Tränen die Wangen hinunterströmten.

Der Myrddraal lächelte wieder. »Viele sind aus großer Höhe gestürzt, weil sie zu viel wissen wollten.«

Die Kreatur schwebte auf sie zu, nein, keine Kreatur, der Große Herr, gekleidet in die Haut eines Myrddraal, schwebte auf sie zu. Er ging auf Beinen, und doch konnte man seine Bewegungen nicht anders beschreiben. Die bleiche, in Schwarz gekleidete Gestalt beugte sich zu ihr herab, und sie hätte aus vollem Hals gekreischt, als er mit einem Finger ihre Stirn berührte. Sie hätte gekreischt, hätte sie einen Ton zustande gebracht. Ihre Lungen waren luftlose Säcke. Die Berührung brannte wie ein rot glühendes Eisen. Vage fragte sie sich, warum sie nicht ihr eigenes, brennendes Fleisch roch. Der Große Herr richtete sich auf, und der bohrende Schmerz nahm ab und verschwand. Ihr Entsetzen minderte sich jedoch nicht im Geringsten.

»Du trägst jetzt mein Zeichen, dass du mir gehörst«, knirschte der Große Herr. »Mesaana wird dir jetzt nichts mehr tun. Bis ich ihr die Erlaubnis gebe. Du wirst herausfinden, wer hier meine Kreaturen bedroht und sie mir übergeben.« Er wandte sich von ihr ab, und die schwarze Rüstung fiel von seinem Körper. Alviarin zuckte zusammen, als sie mit einem stählernen Scheppern auf dem Teppich landete, statt sich einfach aufzulösen. Er war in Schwarz gekleidet, und sie hätte nicht sagen können, ob es Seide oder Leder oder etwas anderes war. Seine Dunkelheit schien das Licht aus dem Raum zu saugen. Mesaana kämpfte gegen ihre Fesseln an und wimmerte schrill wegen des Knebels in ihrem Mund. »Geh jetzt«, sagte er, »wenn du deine nächste Stunde noch erleben willst.« Der Laut, den Mesaana ausstieß, steigerte sich zu einem verzweifelten Schrei.

Alviarin vermochte nicht zu sagen, wie sie aus ihren Gemächern herauskam — sie konnte nicht begreifen, wie sie aufrecht gehen konnte, wenn sich ihre Beine doch wie Wasser anfühlten —, aber sie wurde sich bewusst, dass sie durch die Korridore lief, die Röcke bis zu den Knien gerafft und so schnell rennend, wie sie konnte. Plötzlich klaffte der obere Absatz einer breiten Treppe vor ihr auf, und sie konnte gerade noch verhindern, direkt ins Leere zu stürmen. Zitternd sackte sie gegen die Wand und starrte die gewundene Flucht aus weißen Marmorstufen hinunter. In ihrer Vorstellung sah sie sich selbst, wie sie sich jeden Knochen brach, als sie die Treppe hinunterstürzte.

Sie atmete keuchend, in heiseren, kehligen Atemzügen, und griff sich mit zitternder Hand an die Stirn. Ihre Gedanken überschlugen sich, so wie sie auf der Treppe in die Tiefe gestürzt wäre. Der Große Herr hatte sie als die Seine gezeichnet. Ihre Finger glitten über glatte, unverletzte Haut. Sie hatte Wissen immer zu schätzen gewusst — Macht erwuchs aus Wissen —, aber sie wollte nicht wissen, was jetzt in den Gemächern geschah, die sie verlassen hatte. Sie wünschte sich, sie würde nicht wissen, dass dort überhaupt etwas geschah. Aber sie tat es; Mesaana würde eine Möglichkeit finden, sie zu töten, obwohl der Große Herr sie gezeichnet hatte. Der Große Herr hatte sie gezeichnet und ihr einen Befehl gegeben. Sie durfte weiterleben, wenn sie herausfand, wer die Schwarze Ajah jagte. Mühsam richtete sie sich auf und wischte sich mit den Handkanten die Tränen von ihren Wangen. Sie konnte den Blick nicht von den Stufen vor ihr wenden, die in die Tiefe führten. Elaida verdächtigte sie mit Sicherheit, aber wenn sie sie nicht mehr in der Hand hatte, konnte Alviarin noch immer eine Hetzjagd in Gang setzen. Sie musste Elaida nur zu einer Bedrohung machen, die es auszuschalten galt, und sie in die Jagd auf jene mit einschließen, die dem Großen Herrn übergeben werden mussten. Ihr Finger tasteten erneut zittrig nach der Stirn. Die Schwarze Ajah stand unter ihrem Befehl. Glatte, makellose Haut. Talene war da gewesen, in Elaidas Räumen. Warum hatte sie Yukiri und Doesine auf diese Weise angesehen? Talene war eine Schwarze, auch wenn sie natürlich nicht wusste, dass Alviarin ebenfalls eine war. Ob man das Zeichen im Spiegel sehen konnte? War es etwas, das andere sehen konnten? Wenn sie für Elaidas angebliche Jäger einen Plan schmieden musste, würde Talene jemand sein, mit dem man anfangen konnte. Sie versuchte die Route nachzuvollziehen, die eine Botschaft von Herzen zu Herzen genommen haben würde, bevor sie Talene erreichte, aber sie konnte nicht aufhören, die Treppe hinunterzustarren und im Geist ihren Körper zu sehen, wie er immer wieder aufprallte und auf dem Weg nach unten zerbrach. Der Große Herr hatte sie gezeichnet.

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