4 Die Geschichte einer Puppe

Furyk Karede starrte auf seinen Schreibtisch, ohne die vor ihm ausgebreiteten Papiere und Karten wahrzunehmen. Beide Öllampen waren entzündet und standen auf dem Tisch, aber er brauchte sie nicht länger. Die Sonne musste mittlerweile den Horizont berühren, aber seit er aus einem unruhigen Schlaf erwacht und der Kaiserin seine Ergebenheit bekundet hatte, mochte sie ewig leben, hatte er nur seinen Morgenmantel angezogen, den in dem dunklen kaiserlichen Grün, das manche beharrlich als Schwarz bezeichneten, sich dort hingesetzt und seitdem nicht gerührt. Er hatte sich nicht einmal rasiert. Der Regen hatte aufgehört, und er überlegte, seinem Diener Ajimbura den Befehl zu geben, ein Fenster zu öffnen, um in seinem Zimmer im Gasthof Die Wanderin frische Luft einzulassen. Frische Luft würde vielleicht seinen Verstand klären. Aber in den vergangenen fünf Tagen hatte es Unterbrechungen in dem Regen gegeben, die mit plötzlichen Schauern endeten, und sein Bett stand zwischen den Fenstern. Er hatte bereits einmal Matratze und Bettzeug in der Küche zum Trocknen aufhängen lassen müssen.

Ein leises Quieken und erfreutes Grunzen von Ajimbura ließ ihn aufsehen; der drahtige kleine Mann hielt eine schlaffe Ratte von der halben Größe einer Katze am Ende seines langen Messers in die Höhe. Es war nicht die erste, die Ajimbura in diesem Zimmer erlegt hatte, etwas, von dem Karede überzeugt war, dass es nicht geschehen wäre, wenn Setalle Anan noch die Besitzerin gewesen wäre, obwohl sich kurz vor dem Frühling in Ebou Dar die Zahl der Ratten beträchtlich zu vergrößern schien. Ajimbura sah selbst etwas wie eine verschrumpelte Ratte aus, sein Grinsen war zugleich zufrieden und wild. Nach mehr als drei Jahrhunderten Herrschaft unter dem Kaiserreich waren die Bergstämme von Kaensada nur zur Hälfte zivilisiert und weniger als halb gezähmt. Der Mann trug sein von grauen Strähnen durchzogenes Haar als dicken Zopf, der bis zu seiner Taille reichte und eine gute Trophäe abgegeben hätte, sollte er jemals seinen Weg zurück in die Berge finden und in eine jener endlosen Stammesfehden verwickelt werden, und er bestand darauf, aus einer Schale mit einem Silberstiel zu trinken, die, wie jedem bei näherer Betrachtung aufgefallen wäre, aus der Hirnschale eines Menschen bestand.

»Wenn du das isst«, sagte Karede, als wäre das gar keine Frage, »wirst du es im Stall tun, wo keiner zusehen kann.« Außer Echsen würde Ajimbura alles essen, die waren seinem Stamm aus irgendeinem Grund, über den er sich nie näher äußerte, verboten.

»Aber natürlich, Ehrenwerter«, erwiderte der Mann mit einem Schulterzucken, das bei seinem Volk als Verbeugung durchging. »Ich kenne die Sitten der Stadtmenschen gut, und ich würde den Ehrenwerten nie in Verlegenheit bringen.« Nach fast zwanzig Jahren in Karedes Diensten hätte er die Ratte ohne Ermahnung gehäutet und über den Flammen des kleinen Ziegelofens gebraten.

Ajimbura schüttelte den Kadaver von der Klinge in einen kleinen Segeltuchsack, den er für später in einer Ecke abstellte, wischte sorgfältig die Klinge sauber, bevor er sie wieder in die Scheide schob, und hockte sich auf die Fersen, um Karedes Anweisungen zu erwarten.

Falls nötig würde er geduldig wie ein Da'covale den ganzen Tag so warten. Karede hatte niemals zufriedenstellend ergründen können, warum Ajimbura seine Bergfestung verlassen hatte, um einem Angehörigen der Totenwache zu folgen. Es war ein bedeutend eingeschränkteres Leben, als der Mann zuvor gekannt hatte, davon abgesehen hatte Karede ihn beinahe drei Mal getötet, bevor er diese Entscheidung getroffen hatte.

Er verwarf die Gedanken an seinen Diener und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Schreibtisch, obwohl er im Augenblick nicht die Absicht hatte, den Stift zu ergreifen. Nach einem kleinen Erfolg in den Schlachten gegen die Asha'man war er zum Bannergeneral befördert worden, in Tagen, an denen wenige überhaupt etwas erreicht hatten, und weil er gegen Männer, die die Macht lenken konnten, den Befehl gehabt hatte, waren einige der Meinung, er wäre imstande, Wissen über den Kampf gegen Marath'damane weiterzugeben. Derartiges war seit Jahrhunderten nicht mehr vorgekommen, und da die so genannten Aes Sedai ihre unbekannte Waffe nur Meilen von dem Ort enthüllt hatten, an dem er jetzt saß, war intensiv darüber nachgedacht worden, wie man ihre Macht schwächen konnte. Das war nicht der einzige Befehl, der den Schreibtisch bedeckte. Abgesehen von den üblichen Ersuchen und Berichten, die seine Unterschrift erforderten, hatten vier Lords und drei Ladies seine Beurteilung der gegnerischen Streitkräfte in Illian angefordert, sechs Ladies und fünf Lords ging es um das besondere Aiel-Problem, aber diese Fragen würden anderswo entschieden werden; aller Wahrscheinlichkeit nach waren diese Entscheidungen sogar bereits gefallen. Seine Anmerkungen würden nur für die Grabenkämpfe benutzt, wer bei der Wiederkehr was kontrollierte. Krieg war für die Totenwache stets nur eine zweitrangige Beschäftigung gewesen. Sicher, die Wache war immer dabei, wenn eine wichtige Schlacht geschlagen wurde, die Schwerthand der Kaiserin, mochte sie ewig leben, um einen Schlag gegen ihre Feinde zu führen, ob sie selbst nun anwesend war oder nicht; die Totenwache war immer da, um dort zu führen, wo das Kampfgetümmel am heftigsten war, aber ihr eigentlicher Daseinszweck bestand darin, die Kaiserfamilie zu schützen. Falls nötig mit dem eigenen Leben und es willig opfern. Und vor neun Nächten war die Hochlady Tuon verschwunden, als hätte sie ein Sturm verschluckt. In seinen Gedanken war sie nicht die Tochter der Neun Monde, er konnte nicht so an sie denken, bis er wußte, dass sie nicht länger den Schleier trug.

Er hatte auch nicht darüber nachgedacht, sich das Leben zu nehmen, auch wenn ihm die Schmach sehr zusetzte. Es blieb dem Blut überlassen, den einfachen Weg zu nehmen, um der Schande zu entkommen; die Totenwache kämpfte bis zuletzt. Musenge befehligte ihre persönliche Leibwache, aber als höchstrangiger Vertreter der Wache auf dieser Seite des Aryth-Meers war es Karedes Pflicht, sie sicher zurückzubringen. Jeder Winkel in der Stadt wurde unter diesem oder jenem Vorwand durchsucht, jedes Schiff, das größer als ein Ruderboot war, aber meistens wurde diese Aufgabe von Männern erledigt, die gar nicht wußten, wonach sie suchten, die nicht einmal ahnten, dass das Schicksal der Wiederkehr möglicherweise von ihrer Aufmerksamkeit abhing. Es war seine Pflicht. Natürlich gab es in der Kaiserfamilie viel komplizierten Intrigen als beim restlichen Blut, und die Hochlady Tuon spielte häufig mit scharfsinnigem und tödlichem Geschick ein äußerst undurchsichtiges Spiel. Nur wenigen war bekannt, dass sie bereits zweimal zuvor verschwunden war, dass man sie für tot erklärt und schon die Begräbnisriten vorbereitet hatte, und es war alles ihr Plan gewesen. Aber welche Gründe ihr Verschwinden auch immer hatte, er musste sie finden und beschützen. Bis jetzt hatte er nicht die geringste Ahnung, wie er das machen sollte. Vom Sturm verschluckt. Oder vielleicht von der Lady der Schatten. Seit dem Tag ihrer Geburt hatte es zahllose Attentats- und Entführungsversuche gegeben. Wenn er sie tot auffand, musste er herausfinden, wer sie getötet und wer letztlich den Befehl dazu gegeben hatte, und sie rächen, ganz egal, was es kostete. Auch das war seine Pflicht.

Ein schlanker Mann schob sich ohne anzuklopfen ins Zimmer. Seinem schäbigen Mantel nach zu urteilen, hätte er einer der Pferdeknechte des Gasthofs sein können, aber kein Ortsansässiger hatte sein blondes Haar oder so blaue Augen, deren Blicke durch den Raum glitten, als wollten sie sich alles, was sich darin befand, genauestens einprägen. Seine Hand fuhr unter den Mantel, und in dem kurzen Augenblick, bevor er eine kleine, mit Gold eingefasste Elfenbeinmarke mit dem Raben und dem Turm zückte, ging Karede in Gedanken zwei Methoden durch, wie er ihn mit bloßen Händen töten konnte. Sucher der Wahrheit brauchten nicht anzuklopfen. Sie zu töten wurde nicht gern gesehen.

»Geh«, befahl der Sucher Ajimbura und steckte die Marke weg, nachdem er sicher war, dass Karede sie erkannt hatte. Der kleine Mann blieb reglos auf den Fersen hocken, und der Sucher hob überrascht die Brauen. Selbst in den Kaensada —Bergen wusste jeder, dass das Wort eines Suchers Gesetz war. Nun, vielleicht nicht in den abgelegeneren Bergfestungen, nicht, wenn sie der Meinung waren, dass niemandem der Aufenthaltsort des Suchers bekannt war, aber Ajimbura wusste es besser.

»Warte draußen«, befahl Karede scharf, und Ajimbura erhob sich bereitwillig und murmelte: »Ich höre und gehorche, Ehrenwerter.« Aber er sah den Sucher offen an, bevor er den Raum verließ, so als wollte er sichergehen, dass der Sucher wusste, dass er sich sein Gesicht gemerkt hatte. Eines Tages würde er es noch fertig bringen, dass man ihn enthauptete.

»Loyalität ist ein kostbares Gut«, sagte der blonde Mann und warf einen Blick auf den Schreibtisch, nachdem Ajimbura die Tür hinter sich zugezogen hatte.

»Ihr seid an Lord Yulans Plänen beteiligt, Bannergeneral Karede? Ich hätte nicht erwartet, dass die Totenwa — che daran Anteil hat.«

Karede schob die beiden wie Löwen geformten Bronzebeschwerer zur Seite und ließ die Karte von Tar Valon sich aufrollen. Die andere war noch nicht entrollt gewesen. »Da müsst Ihr Lord Yulan fragen, Sucher. Loyalität dem Kristallthron gegenüber ist kostbarer als der Atem des Lebens, dicht gefolgt von dem Wissen, wann man schweigen muss. Je mehr von einer Sache sprechen, desto mehr erfahren davon, die nichts davon wissen sollten.«

Mit Ausnahme der Kaiserfamilie widersprach niemand einem Sucher oder der Hand, die ihn führte, aber das schien den Burschen nicht zu stören. Er setzte sich auf den gepolsterten Stuhl und formte die Finger zu einem Zelt, über dem er Karede betrachtete, der nun die Wahl hatte, seinen Stuhl zu verrücken oder den Mann beinahe in seinem Rücken sitzen zu lassen. Die meisten Leute wären sehr nervös gewesen, einen Sucher hinter sich zu haben. Die meisten wären nervös gewesen, mit einem Sucher im selben Raum zu sein. Karede verbarg ein Lächeln und rührte sich nicht. Er musste nur den Kopf ein wenig drehen, und er war darin ausgebildet, das zu sehen, was sich am Rand seines Blickfelds befand.

»Ihr müsst sehr stolz auf Eure Söhne sein«, sagte der Sucher, »zwei sind Euch in die Totenwache gefolgt, der dritte ist unter den geehrten Gefallenen aufgelistet. Eure Frau wäre sehr stolz gewesen.«

»Wie ist Euer Name, Sucher?« Das Schweigen, das er zur Antwort erhielt, war ohrenbetäubend. Mehr Leute widersprachen Suchern, als sich nach ihren Namen zu erkundigen.

»Mor«, kam schließlich die Antwort. »Almurat Mor.« Also Mor. Er hatte einen Ahnen, der Luthair Paendrag begleitet hatte, und war zu Recht stolz darauf. Ohne Zugang zu den Zuchtbüchern, der keinem Da'covale erlaubt war, konnte Karede nicht wissen, ob die Geschichten über seine eigene Herkunft der Wahrheit entsprachen — möglicherweise hatte auch er einen Vorfahren, der dem großen Falkenflügel gefolgt war —, aber es spielte keine Rolle. Männer, die versuchten, auf den Schultern ihrer Vorfahren zu stehen, fanden sich oftmals einen Kopf kürzer. Vor allem Da'covale.

»Nennt mich Furyk. Wir sind beide Besitz des Kristallthrons. Was wollt Ihr von mir, Almurat? Doch wohl nicht über meine Familie reden, oder?« Wären seine Söhne in Schwierigkeiten gewesen, hätte der Bursche sie nie so früh erwähnt, und Kalia war jenseits allen Elends. Aus dem Augenwinkel konnte Karede auf dem Gesicht des Suchers den inneren Kampf sehen, den er mit sich austrug, obwohl er ihn beinahe gut genug verborgen hätte. Der Mann hatte die Kontrolle über das Gespräch verloren — womit er hätte rechnen müssen; einem Totenwächter seine Marke zu zeigen, als wären sie nicht bereit, sich auf Befehl den Dolch ins eigene Herz zu stoßen.

»Hört einer Geschichte zu«, sagte Mor langsam, »und sagt mir, was Ihr davon haltet.« Sein Blick war unverwandt auf Karede gerichtet, er studierte ihn, wog ihn ab, schätzte ihn ein, als stünde er auf dem Verkaufsblock. »Das ist uns in den letzten Tagen zu Ohren gekommen.« Mit uns meinte er die Sucher. »Soweit wir sagen können, kam es unter der örtlichen Bevölkerung auf, obwohl wir die ursprüngliche Quelle noch nicht gefunden haben. Angeblich hat ein Mädchen mit seandarischem Akzent von Kaufleuten hier in Ebou Dar Gold und Juwelen erpresst. Der Titel Tochter der Neun Monde wurde erwähnt.« Er verzog angewidert das Gesicht, und einen Augenblick lang verfärbten sich seine Fingerspitzen weiß, da er sie so hart gegeneinander presste. »Keiner der Einheimischen schien zu begreifen, was der Titel bedeutete, aber die Beschreibung des Mädchens ist erstaunlich präzise. Und keiner kann sich erinnern, dieses Gerücht vor der Nacht gehört zu haben, in der ... die Nacht, nach der Tylins Ermordung entdeckt wurde«, kam er zum Schluss und erwähnte das am wenigsten unerfreuliche Ereignis, um die Zeit festzusetzen.

»Ein seandarischer Akzent«, sagte Karede tonlos, und Mor nickte. »Dieses Gerücht ist auch zu unseren Leuten vorgedrungen.« Das war keine Frage, aber Mor nickte erneut. Ein seandarischer Akzent und eine genaue Beschreibung, zwei Dinge, die kein Ortsansässiger erfinden konnte. Jemand spielte hier ein sehr gefährliches Spiel. Gefährlich für sich selbst und für das Reich. »Wie werden im Tarasin-Palast die Vorfälle der letzten Zeit aufgenommen?« Unter den Dienern würde es Lauscher geben, mittlerweile vermutlich sogar unter den Dienern aus Ebou Dar, und was die Lauscher hörten, wurde schnell an die Sucher weitergegeben.

Mor verstand die Frage natürlich. Es war unnötig, das zu erwähnen, was nicht erwähnt werden sollte. Er antwortete in einem gleichgültigen Tonfall. »Das Gefolge der Hochlady Tuon macht weiter, als wäre nichts geschehen, nur Anath, ihre Wahrheitssprecherin, hat sich zurückgezogen, aber wie man mir sagte, ist das nicht ungewöhnlich. Suroth ist im Privaten noch aufgewühlter als in der Öffentlichkeit. Sie schläft schlecht, faucht ihre Günstlinge an und lässt ihren Besitz wegen Nichtigkeiten prügeln. Sie hat befohlen, dass jeden Tag, an dem die Dinge nicht wieder in Ordnung gebracht worden sind, ein Sucher sterben soll, und hat diesen Befehl erst heute Morgen zurückgenommen, als ihr klar wurde, dass ihr eher die Sucher als die Tage ausgehen könnten.« Er zuckte kaum merklich mit den Schultern, vielleicht um zu zeigen, dass das für die Sucher nichts Besonderes war, vielleicht auch aus Erleichterung, noch mal davongekommen zu sein. »Es ist verständlich. Sollte man sie zur Rechenschaft ziehen, wird sie für den Tod der Zehntausend Tränen beten. Die vom Blut, die die Wahrheit kennen, versuchen sich Augen im Hinterkopf wachsen zu lassen. Ein paar ha — ben sogar insgeheim Begräbnisarrangements getroffen, um auf jede Eventualität vorbereitet zu sein.«

Karede wollte einen besseren Blick auf das Gesicht des Mannes haben. Gegen Beleidigungen war er abgehärtet — das hatte zu seiner Ausbildung gehört —, aber das hier ... Er schob den Stuhl zurück, stand auf und setzte sich auf die Schreibtischkante. Mor starrte ihn ohne zu blinzeln an, bereitete sich darauf vor, sich gegen einen Angriff zu wappnen, und Karede holte tief Luft, um seinen Zorn zu besänftigen. »Warum seid Ihr zu mir gekommen, wenn Ihr glaubt, dass die Totenwache in diese Angelegenheit verstrickt ist?« Die Anstrengung, seine Stimme neutral zu halten, schnürte ihm fast die Luft ab. Seit die ersten Männer der Totenwache über dem Leichnam Luthair Paendrags geschworen hatten, seinen Sohn zu verteidigen, hatte es niemals Verrat in der Wache gegeben! Niemals!

Mor entspannte sich sichtlich, als ihm klar wurde, dass Karede ihn nicht töten wollte, zumindest nicht in diesem Augenblick, aber auf seiner Stirn lag eine dünne Schweißschicht. »Man sagt, ein Totenwächter könnte den Atem eines Schmetterlings sehen. Habt Ihr etwas zu trinken?«

Karede deutete mit einer knappen Geste zum Kamin, wo ein Silberpokal und eine Kanne standen, um warm zu bleiben. Sie hatten dort unberührt gestanden, seit Ajimbura sie bei Karedes Aufwachen gebracht hatte. »Der Wein ist vermutlich mittlerweile kalt, aber bedient Euch. Und wenn Eure Kehle angefeuchtet ist, werdet Ihr mir meine Frage beantworten. Entweder Ihr verdächtigt Männer der Wache, oder Ihr wollt mich in Euer Spiel verwickeln, und bei meinem Augenlicht, ich werde erfahren, was es ist und warum.«

Der Bursche ging zum Kamin und beobachtete ihn aus den Augenwinkeln, aber als er sich nach der Kanne bückte, runzelte er die Stirn und verharrte kurz. Neben dem Pokal stand eine mit Silber eingefasste Schale mit einem in der Form eines Widderhorns gestalteten Silberstiel. Beim Licht des Himmels, er hatte Ajimbura doch oft genug gesagt, dieses Ding außer Sicht zu halten! Es bestand nicht der geringste Zweifel, dass Mor es als das erkannte hatte, was es war.

Der Mann hielt es für möglich, dass es in der Wache Verrat gab? »Schenkt mir auch etwas ein, wenn Ihr schon dabei seid.«

Mor blinzelte und zeigte eine leichte Verwirrung — er hielt den einzigen offensichtlichen Pokal in der Hand —, dann dämmerte Verstehen in seinen Augen auf. Ein unbehagliches Verstehen. Er füllte die Schale mit zitternder Hand und wischte sich die Finger am Mantel ab, bevor er den Stiel ergriff und sie hochhob. Jeder Mann hatte seine Grenzen, selbst ein Sucher, und ein Mann, den man bis an den Rand seiner Grenzen trieb, war besonders gefährlich, aber er war auch aus dem Gleichgewicht gebracht.

Karede nahm die Schädelschale mit beiden Händen entgegen, hob sie in die Höhe und neigte den Kopf.

»Auf die Kaiserin, möge sie ewig in Ehre und Ruhm leben. Tod und Schande ihren Feinden.«

»Auf die Kaiserin, möge sie ewig in Ehre und Ruhm leben«, sprach Mor ihm nach, senkte den Kopf und hob den Pokal. »Tod und Schande ihren Feinden.«

Als Karede Ajimburas Schale an die Lippen führte, war er sich bewusst, dass sein Besucher ihn beobachtete. Der Wein war tatsächlich kühl und die Gewürze bitter, darüber hinaus war da ein schwacher, strenger Nachgeschmack von Silberpolitur; er sagte sich, dass der Geschmack nach dem Staub des Toten nur in seiner Vorstellung existierte.

Mor stürzte die Hälfte seines Weins in hastigen Zügen hinunter, dann starrte er auf seinen Pokal, schien zu begreifen, was er getan hatte, und machte eine sichtliche Anstrengung, die Selbstbeherrschung zurückzuerlangen. »Furyk Karede«, sagte er energisch. »Vor zweiundvierzig Jahren als Sohn von Webern zur Welt gekommen, dem Besitz eines gewissen Jalid Magonine, einem Handwerker in Ancarid. Mit fünfzehn zur Ausbildung in der Totenwache aufgenommen worden.

Zweimal wegen Tapferkeit verzeichnet, dreimal in den Tagesberichten erwähnt, dann als Veteran von sieben Jahren bei der Geburt der Hochlady Tuon zu ihrer Leibwache befohlen.« Natürlich war das damals nicht ihr Name gewesen, aber ihren Geburtsnamen zu erwähnen wäre eine Beleidigung gewesen. »Im gleichen Jahr als einer von drei Überlebenden des ersten bekannt gewordenen Anschlags auf ihr Leben zur Ausbildung als Offizier erwählt. Dienst während des Muyami-Aufstands und dem Jianmin-Zwischenfall, weitere Erwähnungen für Tapferkeit, weitere Erwähnungen in Tagesberichten, dann kurz vor dem ersten Wahren Namenstag der Hochlady zurück zu ihrer Leibwache abkommandiert.« Mor schaute in seinen Wein, dann blickte er plötzlich auf. »Aufgrund Eurer Bitte, was ungewöhnlich war. Im folgenden Jahr habt Ihr drei ernsthafte Verletzungen davongetragen, als Ihr sie mit dem Körper gegen weitere Attentäter gedeckt habt. Sie gab Euch ihren kostbarsten Besitz, eine Puppe. Nach weiterem ehrenvollem Dienst, mit weiteren Erwähnungen, hat man Euch für die Leibwache der Kaiserin erwählt, möge sie ewig leben, dort habt Ihr gedient, bis man Euch dazu abkommandiert hat, den Hochlord Turak mit der Hailene in dieses Land zu begleiten. Die Zeiten ändern sich, und Männer ändern sich, aber bevor Ihr den Thron bewacht habt, habt Ihr noch zwei weitere Gesuche eingebracht, Hochlady Tuons Leibwache zugeteilt zu werden. Was sehr ungewöhnlich war. Und Ihr habt diese Puppe behalten, bis sie beim Großen Brand von Sohima zerstört wurde, also insgesamt zehn Jahre.«

Nicht zum ersten Mal dankte Karede der Ausbildung, die ihm erlaubte, ein regloses Gesicht zu behalten, was auch immer geschah. Sorgloses Mienenspiel verriet einem Gegner zu viel. Er erinnerte sich an das Gesicht des kleinen Mädchens, das diese Puppe auf seine Trage gelegt hatte. Er hatte noch immer ihre Worte im Ohr. Ihr habt mein Leben beschützt, darum müsst Ihr Emela nehmen, damit sie Euch beschützen kann, sagte sie. Natürlich kann sie Euch nicht richtig beschützen; sie ist bloß eine Puppe. Aber behaltet sie als Erinnerung, dass ich es immer hören werde, wenn Ihr meinen Namen sagt. Natürlich nur, wenn ich noch am Leben bin.

»Meine Ehre heißt Loyalität«, sagte er und stellte Ajimburas Trinkschale vorsichtig auf dem Tisch ab, um keinen Wein auf die Dokumente zu verschütten. So oft der Bursche auch das Silber polierte, Karede bezweifelte, dass er sich die Mühe machte, das Ding auszuwaschen. »Loyalität dem Thron gegenüber. Warum seid Ihr zu mir gekommen?«

Mor machte einen Schritt, sodass sich der Lehnstuhl zwischen ihnen befand. Zweifellos glaubte er, ganz entspannt dazustehen, aber er war offensichtlich ber eit, den Pokal zu schleudern. Er hatte auf dem Rücken unter dem Mantel ein Messer stecken, und vermutlich irgendwo noch ein anderes. »Drei Gesuche, der Leibwache von Hochlady Tuon zugeteilt zu werden. Und Ihr habt die Puppe behalten.«

»Das habe ich schon verstanden«, erwiderte Karede trocken. Totenwächter sollten keine Beziehung zu denen aufbauen, die sie beschützen sollten. Die Totenwa — che diente allein dem Kristallthron, diente allein dem, der auf dem Thron saß, mit ganzem Herzen und voller Überzeugung. Aber er erinnerte sich an das Gesicht dieses ernsten Kindes, das sich bereits darüber im Klaren war, dass es nicht überleben würde, um seine Pflicht zu tun, und es trotzdem versuchte, und er hatte die Puppe behalten. »Aber da steckt mehr dahinter als nur das Gerücht über ein Mädchen, oder?«

»Der Atem eines Schmetterlings«, murmelte der Bursche. »Es ist ein Vergnügen, sich mit jemandem zu unterhalten, der so tief blickt. In der Nacht, in der Tylin ermordet wurde, wurden zwei Damane aus den Zwingern des Tarasin-Palasts geholt. Beides ehemalige Aes Sedai. Findet Ihr diesen Zufall nicht auch verdächtig?«

»Ich finde jeden Zufall verdächtig, Almurat. Aber was hat das mit Gerüchten und ... anderen Geschehnissen zu tun?«

»Dieses Netz ist verworrener, als Ihr denkt. In jener Nacht haben noch andere den Palast verlassen, darunter ein junger Mann, der offensichtlich Tylins Spielzeug war, und ein älterer Mann namens Thom Merrilin, zumindest nannte er sich so, der angeblich Diener war, aber sich durch eine viel größere Bildung auszeichnete, als man erwarten sollte. Sie alle wurden irgendwann in Begleitung von Aes Sedai gesehen, die sich in der Stadt aufhielten, bevor das Reich sie zurückeroberte.« Der Sucher beugte sich angespannt über die Stuhllehne.

»Vielleicht wurde Tylin gar nicht ermordet, weil sie den Treueid leistete, sondern weil sie von Dingen er fahren hat, die gefährlich sind. Sie könnte sorglos gewesen sein und dem Jungen bei ihren Kopfkissengesprächen zu viel enthüllt haben, und er hat es dann Merrilin berichtet. Wir können ihn so nennen, bis wir einen zutreffenderen Namen in Erfahrung gebracht haben. Je mehr ich über ihn erfahre, desto interessanter wird er: er kennt sich in der Welt aus, weiß sich auszudrücken, kann mit Adligen und gekrönten Häuptern umgehen. Eigentlich ein Höfling, wenn man nicht weiß, dass er Diener war. Falls die Weiße Burg in Ebou Dar gewisse Pläne verfolgte, könnten sie solch einen Mann schicken, um sie durchzuführen.«

Pläne. Ohne nachzudenken nahm Karde Ajimburas Schale und hätte beinahe getrunken, bevor ihm bewusst wurde, was er da tat. Er hielt die Schale jedoch weiter, um nicht seine Aufregung zu verraten. Jedermann — also die Eingeweihten — waren davon überzeugt, dass Hochlady Tuons Verschwinden Teil des Wettkampfs war, der Kaiserin auf den Thron zu folgen, mochte sie ewig leben. So war das Leben in der Kaiserfamilie. Sollte die Hochlady tot sein, musste eine neue Nachfolgerin ernannt werden. Sollte sie tot sein. Und wenn nicht ... Die Weiße Burg hätte ihre Besten geschickt, falls sie die Absicht gehabt hätte, sie zu entführen. Falls der Sucher ihn nicht in sein eigenes Spiel verwickeln wollte. »Ihr habt diese Idee Euren Vor — gesetzten vorgetragen, und sie haben sie verworfen, sonst wärt Ihr nicht zu mir gekommen. Entweder das, oder ... Ihr habt es ihnen gegenüber gar nicht erwähnt, richtig? Warum nicht?«

»Viel verwickelter, als Ihr Euch vorstellen könnt«, sagte Mor leise und warf einen Blick zur Tür, als würde er befürchten, dass man sie belauschte. Warum wurde er jetzt vorsichtig? »Es gibt da viele ... Komplikationen. Die beiden Damane wurden von der Lady Egeanin Tamarath abgeholt, die schon zuvor mit den Aes Sedai Kontakt hatte. Tatsächlich sogar engen Kontakt. Offensichtlich hat sie die anderen Damane freigelassen, um ihre Flucht zu decken. Egeanin hat die Stadt noch in derselben Nacht verlassen, mit drei Damane in ihrem Gefolge, und, wie wir glauben, in Begleitung von Merrilin und den anderen. Wir wissen nicht, wer die dritte Damane war — wir vermuten, es war eine wichtige Persönlichkeit der Atha'an Miere oder vielleicht auch eine Aes Sedai, die sich in der Stadt versteckt hatte —, aber wir haben die Sul'dam identifiziert, die sie benutzt hat, und zwei davon stehen in enger Verbindung zu Suroth, die selbst enge Verbindungen zu den Aes Sedai hat.« Trotz seiner Vorsicht sagte Mor das nicht so, als wäre es ein Blitzschlag aus heiterem Himmel. Kein Wunder, dass er nervös war.

Also ... Suroth hatte sich mit Aes Sedai verschworen und zumindest ein paar von Mors Vorgesetzten korrumpiert, und die Weiße Burg hatte einem ihrer besten Männer eine Mannschaft gegeben, um gewisse Dinge zu tun. Es war alles glaubwürdig. Als man Karede den Vorläufern zugeteilt hatte, hatte man ihm auch die Aufgabe übertragen, einige Angehörige des Blutes wegen übertriebenen Ambitionen im Auge zu behalten. Soweit vom Kaiserreich entfernt hatte immer die Möglichkeit bestanden, dass sie versuchen würden, ihre eigenen Königreiche zu gründen. Und er selbst hatte Männer in eine Stadt geschickt, von der er wusste, dass sie fallen würde, ganz egal, welche Anstrengungen man auch zu ihrer Verteidigung unternehmen würde, damit sie dem Feind von innen schaden konnten.

»Wisst Ihr die Richtung, Almurat?«

Mor schüttelte den Kopf. »Sie sind unterwegs nach Norden, und in den Palastställen wurde Jehannah erwähnt, aber das scheint ein offensichtlicher Täuschungsversuch zu sein. Sie werden bei der ersten Gelegenheit die Richtung geändert haben. Wir haben alle Boote überprüft, die groß genug waren, um die Gruppe über den Fluss zu bringen, aber Fahrzeuge von dieser Größe kommen und gehen ständig. Es gibt keine Ordnung an diesem Ort, keine Kontrolle.«

»Das gibt mir viel zum Nachdenken.«

Der Sucher verzog das Gesicht, ein leichtes Verziehen der Lippen, aber er schien zu begreifen, dass Karede ihm nicht mehr zugestehen würde. Er nickte einmal. »Was auch immer Ihr zu tun gedenkt, eines solltet Ihr wissen. Ihr fragt Euch vielleicht, wie das Mädchen etwas von diesen Kaufleuten erpressen konnte. Anscheinend wurde sie immer von zwei oder drei Soldaten begleitet. Die Beschreibung ihrer Rüstung war ebenfalls sehr genau.« Er wollte die Hand ausstrecken, wie um Karedes Morgenmantel zu berühren, ließ sie klugerweise jedoch wieder sinken. »Die meisten Leute bezeichnen das als Schwarz. Versteht Ihr, was ich da mit sagen will? Zu was auch immer Ihr Euch entscheidet, zögert nicht.« Mor hob den Pokal. »Auf Euer Wohl, Bannergeneral. Auf Euer Wohl und das Wohl des Kaiserreichs.«

Karede leerte Ajimburas Schale ohne zu zögern.

Der Sucher ging so plötzlich, wie er eingetreten war, und nur Augenblicke, nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, öffnete sie sich erneut, um Ajimbura hereinzulassen. Der kleine Mann starrte die Schädelschale in Karedes Händen anklagend an.

»Hast du von diesem Gerücht gewusst, Ajimbura?«

Die Frage, ob der Bursche gelauscht hatte, war genauso überflüssig wie die Frage, ob die Sonne am Morgen aufgegangen war. Er stritt es auch nicht ab.

»Ich würde meine Zunge nicht mit solchem Schmutz beflecken, Ehrenwerter«, sagte er.

Karede gestattete sich einen Seufzer. Ob das Ver schwinden der Hochlady Tuon nun von ihr selbst in die Wege geleitet worden war oder ob jemand anders dafür verantwortlich war, sie schwebte in großer Gefahr. Und wenn das Gerücht nur eine List Mors war — die beste Methode, das Spiel eines anderen zu besiegen, lag darin, es zu seinem eigenen Spiel zu machen.

»Bereite mein Rasierzeug vor.« Er setzte sich, griff nach dem Stift und hielt mit der Linken den Ärmel seines Morgenmantels aus der Tinte. »Dann suchst du Kapitän Musenge; wenn er allein ist, gibst du ihm das hier. Komm schnell zurück; ich habe noch mehr Befehle für dich.«

Kurz nach Mittag des folgenden Tages durchquerte er den Hafen auf der Fähre, die jede Stunde zum Läuten der Glocken ablegte. Es war eine schwerfällige Barke, die sich hob und senkte, als die langen Ruderschläge sie über die unruhige Oberfläche des Hafens trugen. Die Taue, die das halbe Dutzend Planwagen einer Kauffrau an Deck festgezurrt hielten, ächzten bei jedem Windwechsel, die Pferde stampften nervös mit den Hufen, und die Ruderer mussten Kutscher und Mietwächter abwehren, die sich übergeben mussten.

Manche Männer hatten nicht den Magen für die Bewegungen des Wassers. Die Kauffrau selbst, eine unscheinbare Frau mit kupferfarbener Haut, stand in ihren dunklen Umhang gehüllt am Bug, glich die Bewegungen mühelos aus, starrte stur auf die näher kommende Anlegestelle und ignorierte Karede neben sich.

Vermutlich wusste sie, dass er Seanchaner war, allein schon durch den Sattel seines Braunen, aber sein mit Rot abgesetzter grüner Mantel wurde von einem einfachen grauen Umhang verborgen, und falls sie überhaupt an ihn dachte, dann als einfachen Soldaten.

Nicht als Siedler, nicht mit einem Schwert an der Hüfte. Möglicherweise hatte es in der Stadt trotz seiner vielfältigen Bemühungen, ihnen zu entgehen, schärfere Augen gegeben, aber daran konnte er nichts ändern.

Mit etwas Glück hatte er einen Tag, vielleicht auch zwei, bevor jemand bemerkte, dass er in absehbarer Zeit nicht in den Gasthof zurückkehren würde.

Er schwang sich in den Sattel, sobald die Fähre hart gegen das mit Leder gepolsterte Dock der Anlegestelle krachte, und verließ sie als Erster, als die Ladetore zur Seite schwangen; die Kauffrau scheuchte ihre Kutscher zu den Wagen, und die Fährleute machten Räder los.

Er führte Aldazar in langsamem Schritttempo über die Pflastersteine, die noch vom morgendlichen Regen, Pferdemist und der Hinterlassenschaft einer Schafherde feucht waren, und ließ den Braunen erst schneller gehen, als er die Straße nach Illian erreichte, obwohl er selbst da noch nicht ganz in den Trab überging. Ungeduld war ein Laster, wenn man eine Reise von unbekannter Länge begann.

Die Straße jenseits der Anlegestelle wurde von Gasthäusern gesäumt, Gebäude mit flachen Dächern, die mit zersprungenem und abblätterndem weißem Verputz bedeckt waren und an der Vorderseite verblichene Schilder aufwiesen, und selbst das war nicht immer der Fall. Diese Straße markierte den nördlichen Rand des Rahad, und schlecht gekleidete Männer, die vor den Gasthäusern auf Bänken herumlungerten, sahen ihn mürrisch passieren. Nicht, weil er Seanchaner war; vermutlich hätten sie niemanden auf einem Pferderücken freundlich angesehen. Oder überhaupt jemanden, der zwei Münzen sein eigen nannte, was das anging. Aber sie blieben bald hinter ihm zurück, und in den nächsten paar Stunden kam er an Olivenhainen und kleinen Bauernhöfen vorbei, wo die Lagerarbeiter so an den Straßenverkehr gewöhnt waren, dass sie nicht von ihrem Tagwerk aufsahen. Der Verkehr war in jedem Fall spärlich, eine Handvoll hochrädriger Bauernkarren und zweimal Kaufmanns/üge, die von Söldnern umgeben auf Ebou Dar zurollten.

Viele der Kutscher und beide Kaufleute trugen die unverwechselbaren Illianerbärte. Es erschien seltsam, dass Illian weiterhin seine Kaufleute nach Ebou Dar schickte, während es gleichzeitig gegen das Kaiserreich kämpfte, aber die Menschen auf dieser Seite des Ostmeers waren oft seltsam, hatten merkwürdige Bräuche und nur wenig Ähnlichkeit mit den Geschichten, die man über die Heimat des großen Falkenflügel erzählte. Manchmal auch gar keine. Natürlich musste man sie verstehen, wenn man sie ins Reich heimholen wollte, aber Verständnis war eine Sache für andere, die höher — gestellt waren als er. Er hatte seine Pflicht zu erfüllen.

Die Höfe wichen Waldland und mit Büschen bewachsenen Ebenen, und sein Schatten wurde vor ihm immer länger, aber als die Sonne schon mehr als die Hälfte des Weges zum Horizont zurückgelegt hatte, fand er, was er suchte. Direkt voraus hockte Ajimbura am nördlichen Straßenrand und spielte auf einer Schilfflöte. Bevor Karede ihn erreichte, steckte er die Flöte hinter den Gürtel, hob seinen braunen Umhang auf und verschwand zwischen den Sträuchern und Bäumen. Karede blickte über die Schulter, um sicherzugehen, dass die Straße auch in dieser Richtung leer war, dann lenkte er Aldazar an derselben Stelle in das Waldgebiet.

Der kleine Mann wartete gleich außer Sicht der Straße unter einer Baumgruppe, die irgendeine Art von Kiefer waren; der höchste Baum erreichte leicht eine Höhe von hundert Fuß. Er machte seine bekannte, schulterzuckende Verbeugung und zog sich auf den Sattel eines schlanken Fuchses mit weißen Füßen. Er beharrte darauf, dass weiße Füße an einem Pferd Glück brachten. »Hier entlang, Ehrenwerter?«, sagte er, und nach Karedes zustimmender Geste führte er sein Pferd tiefer in den Wald hinein.

Sie hatten nicht weit zu reiten, kaum mehr als eine halbe Meile, aber niemand, der auf der Straße vorbeigekommen wäre, hätte erahnt, was sie auf einer großen Lichtung erwartete. Musenge hatte hundert Totenwächter auf guten Pferden und zwanzig Ogier-Gärtner mitgebracht, alle in voller Rüstung, zusammen mit zwanzig Packpferden und Vorräten für zwei Wochen. Das Packpferd, das Ajimbura am Vortag mitgenommen hatte und auf dem sich Karedes Rüstung befand, würde sich unter ihnen befinden. Eine Gruppe Sul'dam stand neben ihren eigenen Pferden, ein paar von ihnen tätschelten die sechs angeleinten Damane. Als Musenge nach vorn geritten kam, um Karede zu begrüßen, schloss sich ihm Hartha, der Erste Gärtner, mit langen Schritten und grimmiger Miene an, die mit grünen Quasten geschmückte Axt auf der Schulter. Eine der Frauen, Melitene, die Der'sul'dam der Hochlady Tuon, stieg in den Sattel und schloss sich ihnen an.

Musenge und Hartha führten die Fäuste in Herzhöhe zur Brust, und Karede erwiderte ihren Gruß, aber seine Blicke wanderten zu den Damane. Zu einer ganz bestimmten, einer kleinen Frau, der gerade eine dunkelhäutige Sul'dam mit kantigem Gesicht das Haar streichelte. Das Gesicht einer Damane war stets irreführend — sie alterten langsam und lebten lange Zeit —, aber diese wies einen Unterschied auf, den er jenen zuzuordnen gelernt hatte, die sich Aes Sedai nannten.

»Unter welchem Vorwand habt Ihr sie alle auf einmal aus der Stadt schaffen können?«, fragte er.

»Manöver, Bannergeneral«, erwiderte Melitene mit einem trockenen Lächeln. »An Manöver glaubt jeder.« Es hieß, die Hochlady Tuon würde in Wahrheit keine Der'sul'dam brauchen, um ihren Besitz oder ihre Sul'dam auszubilden, aber Melitene, deren langes Haar mehr Grau als Schwarz war, kannte sich in mehr als nur ihrem Handwerk aus, und sie wusste, was er da verlangte. Er hatte Musenge befohlen, ein paar Damane mitzubringen, wenn er konnte. »Keiner von uns würde zurückbleiben, Bannergeneral. Nicht bei dem, worum es hier geht. Was Mylen betrifft ...« Das musste die ehemalige Aes Sedai sein. »Nachdem wir die Stadt verlassen hatten, haben wir den Damane erklärt, warum wir gegangen sind. Es ist immer besser, wenn sie wissen, was wir von ihr erwarten. Seitdem haben wir Mylen beruhigen müssen. Sie liebt die Hochlady. Das tun sie alle, aber Mylen betet sie an, als säße sie bereits auf dem Kristallthron. Wenn Mylen eine dieser Aes Sedai in die Hände bekommt ...« — sie kicherte — »... dann müssen wir schnell sein, damit diese Frau nicht zu sehr beschädigt wird, um an die Leine gelegt werden zu können.«

»Ich sehe da keinen Anlass zur Heiterkeit«, grollte Hartha. Der Ogier war mit seinem langen grauen Schnurrbart und den schwarzen Augen, die wie Steine aus seinem Helm herausblickten, noch faltiger und stärker von den Elementen gezeichnet als Musenge. Er war schon Gärtner gewesen, bevor Karedes Vater geboren wurde, vielleicht sogar schon vor seinem Großvater. »Wir haben kein Ziel. Wir wollen den Wind mit einem Netz fangen.« Melitene wurde rasch ernst, und Musenge schaute noch grimmiger drein als Hartha, falls das überhaupt möglich war.

In zehn Tagen hatten die Leute, die sie suchten, eine Menge Meilen hinter sich gelassen. Die Besten, die die Weiße Burg schicken konnte, würden nicht so unvorsichtig sein, um nach der List mit Jehannah nach Osten zu reisen, aber auch nicht dumm genug, um genau fast nördliche Richtung einzuschlagen, aber da blieb noch immer ein großes und immer größer werdendes Gebiet übrig, das durchsucht werden musste. »Dann müssen wir anfangen, unsere Netze ohne Verzögerung auszuwerfen«, sagte Karede, »und wir müssen sie eng spannen.«

Musenge und Hartha nickten. Für die Totenwache wurde das, was getan werden musste, einfach getan.

Und wenn sie den Wind einfangen wollten.

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